Zur Rolle der Machteliten im Ukrainekonflikt
Übersicht
1. Die Welt im Aufruhr
2. Der außenpolitische Populismus
3. Rollenspiel statt Machtspiel
Anmerkungen
„Es zahlt sich teuer, zur Macht zu kommen: die
Macht verdummt …“
(Friedrich Nietzsche )1
1. Die Welt im Aufruhr
Einer der geopolitischen Ergebnisse des Ukrainekrieges ist die Einleitung eines Zerfallsprozesses der unipolaren Weltordnung, der bereits jetzt eine geopolitische Revolution2 ausgelöst hat. Dieser Prozess scheint unumkehrbar geworden zu sein. Er hat mit einer geradezu atemberaubenden globalen Ausweitung der BRICS eine Entwicklung in Gang gesetzt, die immer mehr Konturen einer neuen Weltordnungsstruktur entstehen lässt, die als eine ernstzunehmende Alternative zu der vom Westen (noch) dominierten Weltordnung gelten kann.
Man muss sich nur die Dramatik dieser Entwicklung vor Augen führen, um zu begreifen, wie revolutionär sie ist und wie sie die scheinbar in Stein gemeißelte Weltdominanz des Westens in Frage stellt.
Bereits heute ist der Anteil der BRICS-Staaten am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) höher als das der G7. Diese Feststellung machte Putin in seiner Rede auf dem BRICS-Wirtschaftsforum am 18. Oktober 2024 und präsentierte zur Untermauerung seiner Äußerung folgende Statistik: 1992 betrug das Weltbruttoinlandsprodukt der „Gruppe der Sieben“ (G7) 45,5 %, während die BRICS-Staaten nur 16,7 % des weltweiten BIP hatten. Nur einunddreißig Jahre später (2023) betrug der Anteil des BIP der BRICS-Staaten 37,4 %, wohingegen die G7 nur noch 29,3 % hatte.
„Und die Kluft wird größer, das ist unvermeidlich“, meinte Putin und betonte: „Es liegt auf der Hand, dass die BRICS-Rolle in Zukunft zunehmen wird. Tatsächlich sind die Länder, die unserer Vereinigung angehören, die Treiber des globalen Wirtschaftswachstums. Und es sind die BRICS-Staaten, in denen in absehbarer Zeit der größte Anstieg des globalen BIP erzielt werden wird.“
Diese Entwicklung ist aus der westlichen Sicht besorgniserregend. Der schleichende ökonomische und technologische Machtverlust des Westens wird letztlich auch militärisch seine Spuren hinterlassen. Denn auch militärisch findet ein schleichender Erosionsprozess der US-Weltmachtstellung statt. Allein auf dem monetären Gebiet dominieren die USA und die EU (noch) mit ihren Weltleitwährungen, die freilich ebenfalls zunehmend in Frage gestellt werden.
Infolge eines exzessiven sanktionspolitischen Missbrauchs der monetären Vormachstellung entsteht ein wachsender Widerstand gegen die monetäre Repression der von den USA sanktionierten Länder, allen voran Russland. Dieser Widerstand führt zur Bildung der monetären Allianzen, was wiederum ein Prozess der De-Dollarisierung der Weltwirtschaft in Gang gesetzt und eine allmähliche Abkopplung der nichtwestlichen Welt von der Zahlungs- und Vermögensaufbewahrungsfunktion des Dollars zufolge hat.
Kurzum: Der Zerfallsprozess der unipolaren Weltordnung ist im vollen Gange. Das Problem ist nur, dass die transatlantischen Machteliten ihn nicht wahrhaben (wollen) und erleiden dadurch einen Realitätsverlust. Diejenigen, die diesen Zerfallsprozess durchaus diagnostizieren, leisten aber einen erbitterten ideologischen, ökonomischen, monetären und nicht zuletzt militärischen Widerstand.
Die Welt befindet sich in Unruhe und Aufruhr. Sie erlebt seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine eine weltmachtpolitische Zäsur, die den Weltfrieden infolge der Ablösung der vom US-Hegemonen angeführten unipolaren Weltordnung durch die anderen, noch im Entstehen begriffenen neuen globalen Ordnungsstrukturen extrem gefährdet, da der amtierende US-Hegemon nicht im Traum daran denkt, auf seine Weltmachtstellung freiwillig zu verzichten.
In solchen weltumwälzenden Zeiten ist ein globaler Krieg geradezu vorprogrammiert. Und die transatlantischen Machteliten sind anscheinend bereit, eher es auf Krieg als auf einen friedlichen Ablösungsprozess ihrer erodierenden Weltmachtstellung ankommen zu lassen. Sie sind offenbar dessen katastrophaler Folgewirkung auch für sie nicht ganz bewusst, da sie als Nichtkriegsgeneration nicht mehr wissen, was Krieg eigentlich bedeutet, und erleben ihn bestenfalls vor den Fernsehbildschirmen, ohne sich davon unmittelbar betroffen zu fühlen.
Und selbst der inmitten Europas stattfindende brutale Ukrainekrieg scheint von ihrem Alltagsleben weit entfernt zu sein, ohne dass sie die ganze Grausamkeit des Geschehens persönlich miterleben müssen und darum weiterhin auf einen siegreichen Krieg statt auf dessen baldige Beendigung setzen.
2. Der außenpolitische Populismus
Die von der Fortsetzung des Ukrainekonflikts geradezu besessenen transatlantischen Hardliner haben offenbar Bismarck nicht gelesen, der solchen furchtlosen, weil die Grausamkeiten des Krieges ignorierenden Politmatadoren, die den Krieg leichtsinnig oder aus Ehrgeiz oder einer falsch verstandenen Solidarität und Ahnungslosigkeit mutwillig in Kauf nehmen, dringendst vor einem kriegslüsternen Abenteuer warnte. In einer Parlamentsrede von 1850 mahnte er:
„Es ist leicht für einen Staatsmann, … in die Kriegstrompete zu stoßen und dabei an seinem Kaminfeuer zu warnen oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu halten, und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Krieg umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist. Ich bin der Überzeugung, Sie sehen die Fragen, die uns jetzt beschäftigen, nach einem Jahr anders an, wenn Sie sie rückwärts durch eine lange Perspektive von Schlachtfeldern und Brandstätten, Elend und Jammer, von hunderttausend Leichen und hundert Millionen Schulden erblicken werden. Werden Sie dann den Mut haben, zu dem Bauer auf der Brandstätte seines Hofes, zu dem zusammengeschossenen Krüppel, zu dem kinderlosen Vater hinzutreten und zu sagen: Ihr habt viel gelitten, aber freut euch mit uns, die Unionsverfassung ist gerettet …“.3
174 Jahre später wirft der Bundeskanzler in spe, der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz, Bismarcks Mahnung über Bord und provoziert aus einem puren Populismus und einer außen- und sicherheitspolitischen Inkompetenz einen Krieg Deutschlands gegen Russland, ohne sich offenbar über die ganze Tragweite seiner verbalen Attacken im Klaren zu sein.
In einer Bundestagsdebatte vom 16. Oktober 2024 hat Merz eine „donnernde Rede“ gehalten und Putin theatral allen Ernstes ein Ultimatum gestellt und ihn aufgefordert: Wenn dieser nicht innerhalb von 24 Stunden aufhöre, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, „dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus-Marschflugkörper geliefert werden“, um die Nachschubwege des Regimes zu zerstören.
Ob Merz überhaupt verstanden hat, was er da gefordert hat und wie sehr er Deutschlands Sicherheit mit seinem verantwortungslosen Gerede gefährdet? Weiß er überhaupt, dass die gelieferten Taurus-Marschflugkörper allein und ausschließlich von deutschen Militärangehörigen bedient werden können und Deutschland damit direkt und unmittelbar zur Kriegspartei wird? Nein, das weiß er nicht! Oder doch? Wenn ja, dann nimmt er großen europäischen Krieg billigend in Kauf und gefährdet dadurch die Existenz der Bundesrepublik Deutschland.
Oder weiß er nicht, dass Russland als Reaktion darauf in der Lage wäre, Deutschland in wenigen Stunden in Schutt und Asche zu legen? Und dieser außen- und sicherheitspolitische Amateur möchte Bundeskanzler werden!? Mag sein, dass Merz als Bundeskanzler von seinen Sicherheits- und Militärexperten besser aufgeklärt werden würde, seinen deplatzierten Populismus zu unterlassen und mit seinen Äußerungen umsichtiger umgehen.
Mag sein, dass er Bismarcks Mahnung zu eigen machen und sein „Ultimatum“ „nach einem Jahr anders“ sehen würde, wenn man ihn über die sicherheitspolitischen Folgen für Deutschland und die Welt besser aufklären wird.
Seine außen- und sicherheitspolitische Kompetenz hat er aber dessen ungeachtet schon jetzt verspielt und auf dem Altar des Populismus geopfert. Da möchte man am liebsten solchen kriegslüsternen Populisten mit Nietzsche zurufen: „Unter Deutschen ist es heute nicht genug, Geist zu haben: man muss ihn noch sich nehmen, sich Geist herausnehmen … Es zahlt sich teuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt … Die Deutschen – man hieß sie einst das Volk der Denker: denken sie heute überhaupt noch?“4 Wenn man manche „flotten“ Sprüche anhört, muss man die Frage leider verneinen.
3. Rollenspiel statt Machtspiel
Wenn an die Stelle der „herrschenden Wirklichkeit“ (Wolf-Dieter Narr) eine Ersatzwirklichkeit tritt und diese zur Grundlage für politische Reflexionen und Entscheidungsprozesse gemacht wird, dann führt dieser Realitätsverlust zur Machtverdummung! Dann hat man ein Problem, indem man ungewollt und unfreiwillig in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Hintermännern der Macht gerät und den mächtigen, an den Schalthebeln der Macht sitzenden Strippenziehern vollkommen ausgeliefert ist.
Man erweckt zwar dann nach außen den Eindruck, im Besitz der Macht zu sein, verfügt aber nach innen über keine Machtentscheidungskompetenz, spielt dann nur eine Rolle, wird eben zum Rollenspieler, nicht zum Machtspieler.
Wer sich in dieses Rollenspiel begibt, hat keine Macht, sondern lediglich ein Machtsurrogat. Er bleibt >draußen<, um >dran< zu bleiben, ohne >drinnen< zu sein, tut aber so, als würde er – wie in Goethes „Epirrhema“ geschrieben steht – zum inneren Machtzirkel gehören:
„Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen …
Freuet auch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles …“.
„Ernstes Spiel“ wird dann zum Rollenspiel, das die Macht suggeriert, ohne sie zu besitzen. „Als habe man es bei all diesen Mächtigen, zur Macht und den Mächtigen Drängenden mit Puppenspielern zu tun, als sähe man hier ein riesiges Puppenspiel,“ schreibt Wolf-Dieter Narr 1980 mit Bezug auf die „Realpolitik und Wirklichkeitsverfehlung“ der Bonner Republik.5
Rollenspieler als „Puppenspieler“? Sieht es in der Berliner Republik genauso aus? Man darf jedenfalls die Rollenspieler mit Machtspielern und Machtspiel mit Rollenspiel nicht verwechseln. Freilich spielt Berlin bis heute in Fragen der europäischen Geo- und Sicherheitspolitik nur bedingt eine Machtrolle.
Die wahren Machtspieler sitzen weder in Berlin noch in Paris oder Brüssel, sondern in Washington. Hier wird Machtspiel als Endspiel insbesondere in Fragen von Krieg und Frieden in Europa entschieden und nirgendwo sonst. Washington ist der Ort, an dem die europäische Geo- und Sicherheitspolitik heutzutage konzipiert, entschieden und durchgesetzt wird.
Die Berliner Republik unterscheidet sich, so gesehen, kaum von der Bonner Republik und bleibt geo– und sicherheitspolitisch wie eh und je eine Rollenspielerin im Washingtoner Machtspiel unabhängig davon, wer in Berlin die Regierungsverantwortung trägt.
Die Macht wird hier geo- und sicherheitspolitisch outgesourct und nach Washington delegiert. Berlin fungiert als Ausführungsorgan der Washingtoner Geo- und Sicherheitspolitik. Und es war daher nur konsequent, von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock im September 2022 zu verkünden: „Egal, was meine deutschen Wähler denken. Aber ich werde die Menschen in der Ukraine wie versprochen unterstützen.“
Sie spielt ihre Rolle; sie ist eine Rollenspielerin, keine Machtspielerin. Ihre Rolle ist das verordnete Machtspiel auszuführen und aufrechtzuerhalten, damit es funktioniert. Und es liegt nicht in ihrer Machtkompetenz darüber zu entscheiden, welches Machtspiel gespielt wird.
Denn die Machtentscheider sind die anderen – jene anonymen Strippenzieher ohne Gesicht und Maske, die hinter den Machtkulissen agieren und nur sie allein bestimmen das Machtspiel, ohne gewählt werden zu müssen.
Wer sich in dieses Machtspiel begibt, um zu funktionieren, ohne zu entscheiden, ist ein Rollenspieler, der sich wie der Kanzler in spe erlauben kann, sich mit verantwortungslosem Gerede zur Schau zu stellen, ohne dafür Verantwortung zu tragen. Das Problem ist nur, dass der Gegenspieler den Rollenspieler für einen Machtspieler kraft dessen Amtes halten und seine öffentlich gemachten Verlautbarungen ernst nehmen könnte, mit der Konsequenz, die entsprechenden Gegenmaßnahmen zu treffen, die zur Eskalation, Zuspitzung und letztlich zum Krieg führen können, die vermeidbar wären, hätte der Möchtegern-Machtspieler die überflüssigen, weil provozierenden Äußerungen unterbunden.
Und so leben wir heute in gefährlichen Zeiten, in denen Populisten, Draufgänger und Rollenspieler oft verbal eskalieren und Stimmung machen, ohne die reale Macht zu besitzen, indem sie an Stelle der Außenpolitik eine Machtshow betreiben, statt verantwortbare Alternativen anzubieten und zu diskutieren.
Die Rollenspieler bedienen sich dabei den vorherrschenden Macht- und Denkstrukturen, um die außenpolitischen Urteile und Vorurteile populistisch zu benutzen. Auf diese Weise verfehlt eine solche populistisch geleitete Außenpolitik nicht nur ihre friedensstiftende Funktion, sondern sie kann auch äußerst irreal werden und dadurch die machtpolitische Vorgehensweise der Gegenspieler verkennen und/oder eine unnötige Eskalation heraufbeschwören.
Jede außenpolitische Vorgehensweise ist dadurch präformiert, dass sie von ideologisch bedingten Vorverständnissen und systeminhärenten Entscheidungsprozessen, welche die außenpolitische Machtelite maßgeblich formen und ihre Urteile und Vorurteile prägen, präjudiziert wird. Die präformierten Denk- und Entscheidungsstrukturen machen blind und verzerren dadurch komplexe und widerspruchsvolle Realitätsbezüge der Außenwelt, die widerspruchslos erscheinen mögen, weil die ihnen zur Verfügung stehenden Informationsquellen aufgrund vorgegebener, eigener, vom determinierten Entscheidungssystem festgelegter, aber nicht mehr überprüfbarer und vor allem nicht hinterfragbarer Wert- und Ordnungsvorstellungen verarbeitet und populistisch ausgeschlachtet werden (können).
Die Axiome dieser nicht hinterfragbaren Wert- und Ordnungsvorstellungen erzeugen ein „Syndrom eingebauter Blindheiten“6, das den Nachrichtenstrom von der Außenwelt ideologisiert und wie in einem Zerrspiegel das Zerrbild der geopolitischen Realität wiedergibt, wodurch nur die eigene im Kern starre, weil auf sich bezogene, inflexibel gewordene politische Denk- und Entscheidungsstruktur selbstbestätigend verdeckt wird, „die ihrerseits in besonders hohem Maße internalisiert ist und sakrosankt gilt.“7
Das etablierte auf den „Kalten Krieg“ zurückgehende Denk- und Machtsystem erlaubt, kurz gesagt, allein nur die Denk- und Entscheidungsprozesse, die von den festgefahrenen Machtstrukturen längst festgelegt und vorgegeben sind.
Diese außenpolitischen Handlungs- und Entscheidungsstrukturen sind prägend für die westliche Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik in Zeiten des Krieges, die die Toren für alle möglichen Populisten, Draufgänger und Rollenspieler breit geöffnet hat.
Sie merken nur nicht, wie sehr sie in ihrem weltentrückten Eskapismus verstrickt sind, woraus sie nicht ohne Blessuren und Gesichtsverlust herauskommen werden. Wenn Gott jemanden strafen will, nimmt er ihm seinen Verstand, was dazu führt, dass „die Macht verdummt …“
Anmerkungen
1. Nietzsche, F., Götzen-Dämmerung, in: Gesammelte Werke. Bindlach 2005, 1051-1101 (1075).
2. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Krippendorff, E., Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Vernunft. Suhrkamp 1985,
23.
4. Nietzsche (wie Anm. 1), 1075.
5. Narr, W.-D., Realpolitik und Wirklichkeitsverfehlung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Roland Roth
(Hg.), Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen. Frankfurt 1980, 13-25 (14).
6. Krippendorff, E., Pax Americana, in: Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozess und
Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Frankfurt 1970, 439-484 (446).
7. Krippendorff (wie Anm. 6), 449.