Unipolarität in einer Abwärtsspirale
Übersicht
1. Eine verfehlte Prophetie
2. In einer strategischen Defensive
3. Von der Ausdehnung über die Überdehnung zur Selbstvernichtung?
Anmerkungen
„Die Vorstellung, dass die Ukraine Russland an die Grenze von 1991 zurückwerfen
würde, war absurd. Niemand hat es wirklich geglaubt.“
(US-Senator James David Vance)1
- Eine verfehlte Prophetie
Am 15. Juli 1990 reiste die deutsche Delegation unter Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau, um in Verhandlungen mit der sowjetischen Führung unter Gorbačev die letzten Hürden auf dem Weg zur deutschen Einheit zu beseitigen. Es ging bei den Verhandlungen vor allem um Deutschlands Verbleib in der Nato.
Die Verhandlungen waren ein voller Erfolg. Kohl war sichtlich zufrieden und guter Laune. „Alles ist gelaufen“, habe er ihm zugeraunt, erinnert sich der Regierungssprecher Hans Klein. Zuversichtlich reist die deutsche Delegation sodann weiter in Gorbačevs Heimatregion im Kaukasus nach dem südrussischen Stawropol und weiter zu Gorbačevs Datscha in Archys.
Bei einem Spaziergang entstand das berühmte Foto, das um die Welt ging: Gorbačev, Kohl und Genscher auf der Sitzgruppe aus Baumstümpfen.
Kurzum: Die gute Atmosphäre führte am 16. Juli 1990 schließlich zum erfolgreichen Abschluss der deutsch-sowjetischen Verhandlungen. Mit der Vereinigung sollten die Vier-Mächte-Rechte erlöschen und Deutschland seine volle Souveränität erlangen. Der sowjetische Truppenabzug sollten binnen drei bis vier Jahren stattfinden. Es gilt die Beistandsverpflichtung der Nato. Zugleich soll Deutschland auf dem ehemaligen DDR-Territorium deutsche Truppen stationieren können, die allerdings nicht in die Nato integriert sind.
Dieses beeindruckende Ergebnis der Verhandlungen kommentierend, sprach der einflussreiche US-amerikanische Kolumnist, Charles Krauthammer (1950-2018), vom „Fünf-Jahrzehnte-Deal“ (deal of the half century), der „wohl als das Instrument der sowjetischen Kapitulation im Kalten Krieg in Erinnerung bleiben wird“.
„Gorbačev stimmte der Übergabe Ostdeutschlands als Ganzes an die westliche Allianz zu. Wir und die Kommunisten haben Korea gespalten. Sie haben Indochina bekommen. 1977 gab es sogar einen direkten Tausch von Äthiopien gegen Somalia.“
All das verblasse aber – schreibt Krauthammer in seinem am 20. Juli 1990 veröffentlichten Beitrag „The unipolar moment“ euphorisch – „angesichts der Übertragung von Russlands großem Schatz aus dem Zweiten Weltkrieg – seinem deutschen Pufferstaat (German buffer state) – an den Westen gegen Bargeld und ein paar unverbindliche Versprechungen.“
„Diese Kapitulation“ – fügte er gleich hinzu – markiere „ein einzigartiges historisches Phänomen, das man als Moment der Unipolarität bezeichnen könnte (a unique historical phenomenon, which might be called the moment of unipolarity).
Als erster hat Krauthammer – soweit ich weiß – die Zeichen der Zeit als „den Moment der Unipolarität“ genau erkannt und begriffen, dass den USA eine Neuformulierung und Neubestimmung der eigenen Rolle in der Welt bevorstehe. Was hat er aber genau erkannt? Und wie hat er diesen „unipolaren Moment“ reflektiert?
Krauthammer diagnostizierte zunächst den Tod der bipolaren Weltordnung und sah sodann eine „multipolare Welt“ (the multipolar world) voraus, „auf die wir zusteuern und in der die Macht von Berlin und Tokio, Peking und Brüssel sowie Washington und Moskau ausgehen wird“. Diese im Kommen begriffene „multipolare Welt“ kämpfe darum, geboren zu werden.
Der Übergang von Bipolarität zur Multipolarität – dieser „Moment der Unipolarität“ – sei „jetzt da und wird nicht lange dauern“, warnte Krauthammer. „Der Moment, in dem wir leben, ist ein Moment der Unipolarität“, in dem die US-Weltmacht das westliche Bündnis anführe, das seinerseits die Welt unangefochten dominiere und durch den Sieg im „Kalten Krieg“ noch nicht (wenn auch bald) zerbrochen sein würde.
Was Krauthammer hier mit seinem „unipolaren Momentum“ voraussagt, ist nicht etwa das kommende Zeitalter der unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen, sondern ganz im Gegenteil ein kleines Zeitfenster, an dessen Ende der Aufstieg Deutschlands und die Nato-Rückabwicklung stehen sollte.
Getreu dieser Voraussage schreibt er: „Der unipolare Moment wird von kurzer Dauer sein. Bis zum Jahresende wird Deutschland nicht nur völlig souverän, sondern auch ein unabhängiger Akteur auf der internationalen Bühne sein“ (The unipolar moment will be brief. By year’s end, Germany will not only be fully sovereign but a free agent in the international arena).
Deutschland entwickle sich – liest man weiter – „zur regionalen Supermacht in Europa“ ebenso wie Japan in Asien. Dennoch sind die aktuellen Klagen über die Sonnenfinsternis Amerikas verfrüht. … Die Vereinigten Staaten bleiben die einzige globale Supermacht der Welt“ (Germany is emerging as the regional superpower in Europe, as is Japan in Asia. Nonetheless the current laments about the eclipse of America are premature. … The United States remains the world’s only global superpower).
Im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung wurden bekanntlich alte Ängste in Europa zum Leben erweckt, zum Teil gezielt geschürt. Noch im März 1990 hielt die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit mehreren britischen und amerikanischen Intellektuellen ein Treffen über die Zukunft Deutschlands ab.
Eine der diskutierten Ideen war die Notwendigkeit, dass Großbritannien Russland als Gegenspieler zu Deutschland stärken müsse.
Die Reanimierung der auf Basis der Französisch-Russischen Allianz von 1894 entstandenen Triple Entente (ein informelles Bündnis zwischen dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Russland), die ein vereintes Deutschland ausbalancieren sollte, ist – entrüstete sich Krauthammer – „eine erschreckende Erinnerung an die Macht der Erinnerung“ (a chilling reminder of the power of memory).
„Die Macht der Erinnerung“! Der Verlauf der Geschichte der vergangenen dreißig Jahre hat jedoch gezeigt, wie gegenstandslos all die Ängste im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung waren, und wie falsch Krauthammer doch selber mit seiner Prophetie lag.
Seine Prophezeiung ist nicht in Erfüllung gegangen und Krauthammer erwies sich als ein falscher Prophet: Der Nato-Zusammenbruch ist ebenso ausgeblieben, wie der deutsche Aufstieg zur „regionalen Supermacht in Europa“ (the regional superpower in Europe).
Es hat sich etwas ganz anderes entwickelt. Die einzig verbliebene US-Supermacht war zu übermächtig, um der Multipolarität eine Chance zu geben, geboren zu werden, vom Aufstieg Deutschlands zu einer „Supermacht“ ganz zu schweigen. Und so bewahrheitet sich erneut, dass Prophetie nichts anderes als eine in die Zukunft projizierte Reflexion der Gegenwart und eine bloße Akklamation der unreflektierten Vergangenheit ist.
2. In einer strategischen Defensive
Die Welt hat sich ganz anders entwickelt und das US-Establishment definierte das „unipolare Momentum“ ganz anderes, als Krauthammer sich vorgestellt hat.
Krauthammers Diagnose eines Aufkommens der „multipolaren Welt“ (the multipolar world), „auf die wir zusteuern und in der die Macht von Berlin und Tokio, Peking und Brüssel sowie Washington und Moskau ausgehen wird“, war (noch) verfrüht.
Berlin ist zwar formal souverän geworden. Da Deutschland aber in die EU-Institutionen eingebunden war und in die Nato-Allianz integriert wurde, konnte von einer deutschen selbst- und eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik gar keine Rede sein.
Als ein besetztes Land ist Tokio bis dato auf Gedeih und Verderb der US-Geo- und Sicherheitspolitik ausgeliefert. Und Peking war in den 1990er-Jahren (noch) nicht soweit, um irgendjemandem geopolitisch und geoökonomisch Parole zu bieten, von der einzig verbliebenen US-Supermacht ganz zu schweigen.
Was nun Russland angeht, so lag es nach dem Untergang des Sowjetreiches am Boden und es war keine Bedrohung für irgendjemanden. Kurzum: Krauthammers Vision von einer multipolaren Weltordnung ging seiner Zeit weit voraus. Die einzig verbliebene US-Supermacht ist derart übermächtig geworden, dass sie in den 1990er- und dem ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre eine „Weltmacht ohne Gegner“2 geblieben ist.
Aus dem „unipolaren Momentum“, das lediglich von kurzer Dauer sein sollte, ist nicht eine multipolare, sondern eine unipolare Weltordnung hervorgegangen und besteht immer noch gut dreißig Jahre nach dem Untergang des Sowjetimperiums.
Zwar erleidet sie heute einen sichtbaren Erosionsprozess und dieser Prozess hat sich seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zur Überraschung aller sogar noch beschleunigt. Solange aber ihre militärische und vor allem monetäre Übermacht unter der Führung des US-Hegemonen intakt ist, bleibt die angeschlagene Unipolarität eher schlecht als recht bestehen.
Die Clinton-Administration hat diese Entwicklung mit ihrer neuen US-Außenpolitik in Gang gesetzt, auch wenn sie allein nicht der Spiritus Rectus war. Im Mittelpunkt der Clinton-Außenpolitik standen zwei Eckpfeile: die Nato-Expansion und die Etablierung der US-Hegemonialordnung mittels der Propagierung von Demokratie und Menschenrechten.
Und heute? Heute sieht es nach einer Abwicklung der Unipolarität und einem Aufkommen der polyzentrischen Weltordnung aus. Die Gründe für diese erstaunliche Entwicklung sind vielfältiger Natur und hängen nicht so sehr von äußeren Einwirkungen, als vielmehr von der Selbstschwächung der US-Hegemonie ab.
Das Erstaunlichste ist dabei, dass sich an Stelle der Selbstschwächung nunmehr mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ein bedrohlicher Abwärtstrend der US-Hegemonie etabliert. Immer deutlicher wird, wie sehr sich die Biden-Administration im Ukrainekrieg verzockt hat.
Sie gerät auf dem ukrainischen Schlachtfeld immer mehr in eine strategische Defensive. Der nach dem Ende des „Kalten Krieges“ zur Ordnungsmacht in Europa aufgestiegene US-Hegemon verliert infolge der immer deutlich werdenden Niederlage der Ukraine seine ordnungspolitische Gestaltungsmacht in Europa.
An der Front verlieren die ukrainischen Streitkräfte zunehmend an einer strategischen Initiative und werden von den russischen Invasionstruppen immer mehr in die Defensive gedrängt. Die Front bewegt sich langsam, aber unaufhaltsam gen Westen. Das westliche Engagement für die Ukraine lahmt und verliert an Kraft, was bereits an einer RND-Statistik deutlich abzulesen ist.
Der „Westen wird >kriegsmüde<: Hilfen für die Ukraine um 87 Prozent eingebrochen“, überschreibt RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) seinen Artikel am 7. Dezember 2023. Neue Daten des Ukraine Support Trackers des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) zeigen, dass die „Kriegsmüdigkeit“ bereits in Zahlen greifbar sei. „Wir sehen einen Rückgang der neuen Hilfszusagen um 87 Prozent“, sagt IfW-Experte Pietro Bomprezzi im Gespräch mit RND. Verglichen hat er den Zeitraum August bis Oktober mit dem Vorjahreszeitraum. Während sich im Vorjahreszeitraum die Hilfen auf 16 Milliarden Euro beliefen, waren es von August bis Oktober nur 2 Milliarden Euro, wie aus den Daten hervorgeht, die dem RND vorab vorliegen. Diese Tendenz zeichnete sich bereits in den Monaten zuvor ab.
Die Statistik besagt aber auch, dass der Westen trotz anderweitigen Beteuerungen von der im Sommer/Herbst stattgefundenen Konteroffensive der ukrainischen Streitkräfte enttäuscht ist und an den ukrainischen Sieg nicht mehr glaubt.
Und jetzt? Jetzt ist Katzenjammer angesagt. Der Westen befindet sich einerseits in einer strategischen Sackgasse. Friedensverhandlungen will er mit dem „Kriegsverbrecher“ Putin nicht führen, weil es zu Putins Friedensdiktat führen könnte. Die Fortführung des Krieges birgt in sich aber andererseits die Gefahr einer völligen Niederlage der Ukraine. Und was nun? Weder Krieg noch Frieden?
„Inter pacem et bellum nihil medium“, lautet der berühmte Spruch Ciceros aus der 8. Philippika. Es gibt kein Dazwischen! Das heißt aber, dass der Krieg bis zum bitteren Ende aus der defensiven Position weitergeführt wird. Russland kann es sich nicht leisten, den Krieg zu verlieren und die USA können es sich nicht leisten, dass die Ukraine den Krieg verliert.
Conclusio: Der Krieg geht weiter. Welchen Surplus haben die USA von der Fortsetzung des Krieges? Das Ziel ist nach wie vor sich als die Ordnungsmacht in Europa zu behaupten, die Bedingungen gemeinsamer Sicherheit zu diktieren und letztlich dadurch die Weltdominanz aufrechtzuerhalten.
Die US-Hegemonie ist immer noch stark, aber brüchig, auch im eigenen Land. Die nichtwestliche Welt bleibt zunehmend ein unsicherer Kantonist für die unipolare Weltordnung. Im Gegensatz zu früheren Zeiten können die USA den Nichtwesten weder mit monetären Ressourcen und „soft power“ für sich gewinnen noch mit monetärer Repression unter Druck setzen. Die ganze US-Hegemonie kann sich nur noch auf Sanktionen und Militärmacht stützen.
Militärmacht kann aber allein niemals eine Hegemonie welche Art auch immer sichern. Sie ist nicht geeignet, alle Situationen zu beherrschen und allen politischen Herausforderungen Herr zu werden. Zwar können die militärischen Drohgebärden der USA Angst und Schrecken anjagen. Die Emanzipation des Nichtwestens hat aber mittlerweile solche Formen angenommen, dass man sich nicht ohne weiteres einschüchtern lässt.
Der überdimensionierte Umfang der US-Militärmacht und eine maßlose Überdehnung der US-Hegemonie, deren Finanzierung allmählich an ihre Grenzen stößt, führen immer mehr dazu, dass die USA technologisch, ökonomisch und militärisch mit den aufstrebenden Groß- und Mittelmächten nicht mehr Schritt halten können und immer mehr an ihrer Führungsmacht einbüßen.
Die USA geraten zunehmend in eine strategische Defensive, die für ihre Hegemonialstellung in der Welt nichts Gutes verspricht. Denn der Machterhaltungsinstinkt kann die USA zu Entscheidungen und Maßnahmen verleiten, die die Gegenmächte wie China und Russland auf den Plan rufen könnten, um sich dem zu widersetzen.
Dann würde sich die Frage aller Fragen stellen: Was gewinnt die Überhand: der Machterhaltungsinstinkt oder der Selbsterhaltungswille. Oder sind die beiden Überlebenstriebe gar nicht voneinander zu trennen? Nur eins wird immer deutlicher: Die US-Hegemonie befindet sich genauso, wie die Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre, in der Endphase ihrer Existenz. Ein erneuter Rückzug der USA auf sich selber in eine Selbstisolation wird es aber auch nicht mehr geben. Das würde nur noch zum Zerfall der USA führen. Wir leben wahrlich in einer der spannendsten Zeiten der Weltgeschichte.
3. Von der Ausdehnung über die Überdehnung zur Selbstvernichtung?
Bei allen Erfolgen in der Ausdehnung und Expansion der unipolaren Weltordnung in den vergangenen dreißig Jahren stießen die USA auf der Höhe ihrer Hegemonie (1993-2009) infolge der Machtüberdehnung und der falschen Prioritätensetzung an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Je sichtbarer, stärker und mächtiger die Weltdominanz und je exponierter die globale Machtstellung der USA wurden, desto deutlicher wurden die strategischen Fehleinschätzungen der US-amerikanischen Außen- und Geopolitik.
Die USA haben sich nach dem ideologischen Sieg über den Sowjetkommunismus für eine axiologische Offensive im postsowjetischen Raum entschieden, ohne Rücksicht auf eine völlig andere, historische und kulturelle Tradition. Der axiologische Geltungsanspruch führte die US-Russlandpolitik letztlich in eine geopolitische Sackgasse, obwohl die anfänglichen Erfolge unbestreitbar beachtlich waren:
- Das Sowjetimperium ist – wie noch nie in der russischen Geschichte – in einzelne, staatsähnliche Machtgebilde zerfallen.
- Die Nato expandierte erfolgreich gen Osten.
- Das Russland der 1990er-Jahre lag am Boden: politisch, ökonomisch, ideologisch, und hat im globalen Raum keine Rolle mehr gespielt.
- China war ökonomisch noch zu schwach und es sah alles danach aus, als ob die sog. „liberale Demokratie“ verfassungspolitisch, marktwirtschaftlich und axiologisch weltweit triumphierend auf dem Vormarsch ist. Jedes wie auch immer geartete Zugeständnis an Russland erschien darum für den Westen in jener Zeit derart absurd, dass selbst ein Gedanke darüber nicht der Rede wert war.
Den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen war jedoch kein Erfolg beschieden und ihre Verschlechterung war zwar eine allmähliche und schleichende, aber eben keine überraschende Entwicklung. Man dachte, lebte und handelte aneinander vorbei: Angefangen bereits mit den Gajdar– Reformen, die der russischen Bevölkerung viel Leiden und Entbehrung abverlangten und letztlich zur gescheiterten Transformation führten, deren vorläufiger Höhepunkt im Finanzdesaster 1998 mündete, setzte sich der Entfremdungsprozess zwischen Russland und dem Westen mit dem Kosovo-Krieg fort, der in der russischen Öffentlichkeit – vom Westen völlig ignoriert – Entsetzen und Empörung auslöste.
Der Aufstieg Putins mit seiner allmählichen Abwendung vom Westen, die westliche Kritik an zwei Tschetschenienkriegen, Putins Münchener Rede (2007) usw. usf. waren deutliche Alarmzeichen, bis schließlich der Ausbruch der sog. „Ukraine-Krise“ 2014 das Verhältnis Russlands zum Westen endgültig zerrüttet und vergiftet und der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 zur Errichtung eines neuen „Eisernen Vorhangs“ geführt hat.
Wäre eine andere Entwicklung als die in den 1990er-Jahren und die danach stattgefundene überhaupt denkbar und möglich? Die westlich gesinnten und an die Macht gelangten Machteliten im Russland der 1990er-Jahre waren von „der“ westlichen Lebenskultur genauso, wie von der missverstandenen Marktwirtschaft (рыночная экономика)3 derart besessen, dass jeder Alternativgedanke zu einem von ihnen erträumten Westen als abstrus erschien.
Auch für die vorherrschende westliche „liberale Theorie“ kam alles andere als die Verwirklichung der „westlichen Werte“ gar nicht in Frage. Für sie war nicht „das Machtgleichgewicht Garant für Ordnung, sondern die Durchsetzung von Wertordnungen, die sich in liberalen Demokratien und in den Menschenrechten manifestieren“.4
Diese außenpolitische „Kernvision“ vor allem der US-Demokraten geht von der irrigen Grundannahme aus, dass die Verfassungsform eines Staatswesens auch ihr Außenverhalten vorausbestimmt. „Die historischen Erfahrungen“ – stellte Herbert Dittgen bereits 1996 zutreffend fest – „sprechen eindeutig gegen eine solche Behauptung.“5
Die vergangenen dreißig Jahre haben diese Grundannahme nicht nur gründlich widerlegt, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Die „liberalen Demokratien“ erkauften ihren liberalen Frieden in der Innenwelt mit dem Unfrieden in der Außenwelt, ja der Unfriede wurde oft bewusst in Kauf genommen oder gar gezielt herbeigeführt. Die eigene Sicherheit und der eigene Wohlstand gehen vor und im Zweifel zu Lasten der Außenwelt!
Nicht anders verhielt es sich mit der US-Chinapolitik. Die von den USA 1993 eingeleitete „Ökonomisierung der Chinapolitik“6, die eine ideologische und geopolitische Konfrontation ausklammerte, entpuppt sich heute als Bumerang. Als „Rückversicherung für den Notfall, um den Rest der Region nicht in den chinesischen Orbit driften zu lassen“, hat die US-amerikanische Einbindungsstrategie nicht nur nicht funktioniert, sondern China ist geoökonomisch den USA auch noch über den Kopf gewachsen. Sie konnte auch gar nicht funktionieren, „weil Peking seinen eigenen (als Gleichgewichtspolitik verstandenen) ordnungspolitischen Kampf gewonnen hatte und sich … viel besser auf sein engeres regionales Interesse konzentrieren konnte als die Supermacht mit ihrer universalen Zuständigkeit“.7
Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille; die andere ist das komplette Versagen der US-amerikanischen „Einbindungsstrategie“. Eine „Geostrategie“, die darauf abzielt, kurzfristige ökonomische Gewinne zu generieren, ignoriert die eigenen geopolitischen Interessen und riskiert dadurch auch eine geoökonomische Dominanz als unverzichtbare Voraussetzung für die moderne Geopolitik zu verlieren. Wer die kurzfristigen Profite über die Geopolitik stellt, läuft Gefahr, alles zu verlieren.
Zur Zeit des „Kalten Krieges“ wussten die US-Geostrategen noch ganz genau, dass die US-amerikanischen ökonomischen und handelspolitischen Interessen der Geopolitik weichen müssen, sollten die USA im Systemwettbewerb obsiegen.
Jede aufsteigende Weltmacht stellt (und sei es nur ungewollt) die etablierte Weltordnung in Frage. Die Infragestellung des Status quo durch China beschwichtigt man nicht mit einer Ökonomisierungsstrategie, sondern mit einer klaren, geostrategisch definierten Ausrichtung der eigenen Außenpolitik.
Die sich herausbildenden neuen politischen und ökonomischen Machtstrukturen im eurasischen und asiatisch-pazifischen Raum, mittlerweile aber auch im sog. „Globalen Süden“, haben sich mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine derart beschleunigt, dass es Freund und Feind überraschte.
Die USA sind nicht nur – wie Michael Staack mit Bezug auf den „Aufstieg Chinas“ bereits 2013 diagnostizierte – „sowohl mit einer Erosion ihrer Machtressourcen als auch ihrer Gestaltungsfähigkeit konfrontiert“.8
„Im asiatisch-pazifischen Raum“ ist nicht nur „die Vormachtstellung der USA bereits brüchig geworden“; der „rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas“ hat nicht nur „eine neue global wirksame Rivalität hervorgebracht“ und bezogen „auf die aktuelle Weltpolitik bedroht die neue aufstrebende Großmacht indessen (nicht nur) den Status quo“, wie Michel Pauls bereits 2017 zutreffend konstatierte.9
Nein, die USA kämpfen heute auch ihren letzten Kampf um die Welthegemonie und die Aufrechterhaltung ihrer unipolaren Weltordnung. Die US-Hegemonialstellung in den vergangenen dreißig Jahren berührte auf militärischer, ökonomischer und insbesondere monetärer Übermacht.
Dieser Dreiklang der US-Omnipotenz bekommt Risse und wird brüchig. Die unipolare Weltordnung ist zwar unter der Führung des US-Hegemonen Wirklichkeit geworden, aber eben nur eine unvollkommene Wirklichkeit.
1981 schrieb Lothar Ruehl geradezu hellseherisch über „Russlands Weg zur Weltmacht“: „Im Aufstieg zur Weltmacht war der Niedergang schon beschlossen; doch die Kräfte reichen noch aus, um dem Koloss die Macht ohne Perspektive für längere Zeit zu erhalten. … Die Fähigkeit, die Zivilisation zu zerstören, ist nicht identisch mit der Kraft, die Welt zu regieren oder den Gang der Weltgeschicke zu lenken.“10
Diese bemerkenswerte Diagnose gilt heute auch für die USA. Die USA befinden sich wie die Sowjetunion in den 1980er-Jahren in der Endphase ihrer Welthegemonie, auch wenn der „Koloss“ seine Weltmacht noch „ohne Perspektive für längere Zeit“ aufrechterhält.
„Im Aufstieg zur Weltmacht war der Niedergang schon beschlossen“ und der Grund dafür ist wie so oft Hybris.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Lauren Sforza: Senate Republican says US needs to accept Ukraine will ‘cede some territory’ to
Russia.thehill.com 10.12.2023.
2. Weltmacht ohne Gegner: Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Internationale Politik
und Sicherheit), hrsg. v. Peter Rudolf u. Jürgen Wilzewski. Baden-Baden 2000.
3. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
4. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen
Strategie, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten
Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (296 f.).
5. Dittgen (wie Anm. 4).
6. Möller, K., Hegemoniale Herausforderung und wirtschaftliche Zusammenarbeit: Die USA und
China, in: Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu
Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000, 65-86 (84).
7. Möller (wie Anm. 6), 84.
8. Staack, M., Multipolarität und Multilateralismus als Strukturen der neuen Weltordnung, in: des. (Hrsg.),
Asiens Aufstieg in der Weltpolitik. Opladen/Berlin/Toronto 2013, 9-48 (12 f.).
9. Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität. Baden-Baden
2017, 30.
10. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf/Wien 1981, 539 f.