Verlag OntoPrax Berlin

Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges

Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten

Übersicht

1. Warum ist der Nichtwesten gegen den Sanktionskrieg?
2. Lukjanovs „altes Denken“ und die euroatlantische Weltordnung
3. Karaganovs Gegenwartsanalyse und seine Zukunftsvision
(a) Die Explosion des internationalen Systems
(b) Russlands Verhältnis zum Westen
(c) Russlands Stellung in der Welt
(d) „Die ukrainische Frage“
4. Trenins „modernes Russland“ in einer veränderten Welt
(a) Eine gescheiterte Beziehung: Russland und der Westen
(b) Russland als „Großmacht“ (Deržava)?
5. Die chinesisch-russischen Beziehungen vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts
6. Die Rückkehr der Geschichte?

Anmerkungen

„Россия сыграла и продолжает играть роль в освобождении
мира от западного диктата.“
(Russland spielte und spielt nach wie vor eine Rolle in der Befreiung
der Welt vom westlichen Diktat).
Sergej Karaganov1

1. Warum ist der Nichtwesten gegen den Sanktionskrieg?

Der Westen lebt in einer selbstgeschaffenen medialen Blase. Er ist es gewöhnt, lieber Selbstgespräche mit Gleichgesinnten zu führen, als sich mit Einsichten, Meinungen und Haltungen einer außerhalb des Westens existierenden Welt auseinanderzusetzen. Schließlich sei der Westen im Besitz der „universalen Werte“ und habe es daher gar nicht nötig, die Werthaltungen und den Gerechtigkeitssinn der nichtwestlichen Welt anzuerkennen. Es ist dennoch ratsam, hin und wieder über den Rand der eigenen westlichen Hemisphäre hinauszuschauen, um zu sehen, ob die andere, uns fremde Welt vielleicht doch noch etwas zu sagen hat, was unsere Selbstgerechtigkeit ernsthaft beeinträchtigen könnte.

In seinem Gastkommentar „Indiens Bande zu Russland“ für die Wiener Zeitung schreibt der indische Schriftsteller und Journalist N. P. Ullekh am 30. August 2022: „Wenn die USA jemals dachten, sie könnten Indien Bedingungen diktieren oder es davon abbringen, seine Beziehungen zu Russland fortzusetzen, lautet unsere Antwort, dass wir kein Vasallenstaat sind. Die USA können nicht erwarten, dass Indien ihre Feinde als seine Feinde betrachtet. Wir haben unsere eigenen strategischen Interessen genauso wie sie ihre.“

Und er fügt resümierend hinzu: „In Indien versteht man nicht, warum die USA nicht genug tun, um den Ukraine-Krieg zu stoppen, der doch nicht in ihrem Interesse sein kann, weil er ihre Aufmerksamkeit von ihrem größten Feind China ablenkt, einem Gegner, den die USA und Indien gemeinsam haben. Stattdessen liefert die Regierung aus Washington weiterhin Waffen an die ukrainische Armee, ungeachtet ziviler Opfer. Der Krieg in der Ukraine hat sich für Russland von einem erwarteten Sprint zu einem Ultramarathon entwickelt. Indien ist gegen den Krieg. Und Indien ist auch gegen doppelzüngige Diplomatie.“

Analysiert man die Äußerungen des Inders genau, so stellt man schnell fest, dass ihnen eine ideologiefreie geopolitische Denkweise ohne einen moralisierenden Unterton zugrunde liegt. Mehr noch: Dem Westen wird dezidiert neben der „doppelzüngigen Diplomatie“ ein immer noch vorhandenes Kolonialgebaren vorgeworfen und unterstellt, dass die USA wie selbstverständlich dem Rest der Welt – dem sog. „Nichtwesten“ – Vasallität abverlangt. Genau im Bann dieser Denkweise diskutieren auch die russischen außenpolitischen Experten über die Einstellung des Nichtwestens zum westlichen Sanktionskrieg gegen Russland.

So nennt der Chefredakteur der renommierten russischen außenpolitischen Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“ Fedor Lukjanov in seinem am 2. Juli 2022 veröffentlichten Artikel „Warum es dem Westen nicht gelingt, den Rest der Welt für die Konfrontation mit Russland zu gewinnen“2 drei möglichen Gründe:

(1) Die nichtwestliche Welt wisse ganz genau, dass Kriege auf dem Planet Erde – erst recht in den vergangenen dreißig Jahren – nicht aufhörten zu existieren. Und sie nehme das pathetische Gerede Europas von der Ära des Friedens und Wohlstands aller Länder und Völker, die Putin nunmehr zerstört haben soll, nicht weiter als eine Mischung von Egoismus und Scheinheiligkeit wahr.

(2) Die Mehrheit der ehemaligen „Dritten Welt“ sehe das aktuelle Drama als eine Kulmination der nie enden wollenden Kollision zwischen Russland und dem Westen, die auf eine aggressive Expansionspolitik der USA und ihrer Verbündeten zurückzuführen sei. Darum wundere man sich in der nichtwestlichen Welt und frage mit Erstaunen: „Was haben Sie eigentlich erwartet, wenn Sie am Schnurrbart eines Tigers ziehen“ (А чего вы, собственно, ждали, дергая тигра за усы)?

(3) Die Reaktion der nichtwestlichen Weltmehrheit zeige schließlich, wie gereizt sie auf den Westen reagiere. Der Westen werde als Hegemon mit einer langen kolonialen Vergangenheit wahrgenommen, der immer seine Macht missbraucht habe. Und jetzt versuche er seine Sanktionspolitik allen anderen, deren Interessen tangiert werden, aufzuzwingen. Eine Schadenfreude über die Amerikaner, die mit einem heftigen Widerstand gegen ihre Russlandpolitik konfrontiert werden, überkompensiert also bei weiten die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise Moskaus. Mit anderen Worten, der Unwille des Nichtwestens, sich der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland anzuschließen, erkläre sich nicht so sehr mit einer Sympathie für Russland als vielmehr mit einer Antipathie gegen den Westen.

Diese Entwicklung, die Lukjanov nach eigener Bekundung selbst überrascht hat, könne sich zu einer prorussischen Stimmung in der nichtwestlichen Welt auswachsen. Und genau diese Tendenz mache den Westen seiner Meinung nach stutzig und besorgt. Überwog zunächst der westliche Druck auf den Rest der Welt, sich dem Sanktionsregime gegen Russland anzuschließen, so wich dieser Druck eher der westlichen Beschwichtigungspolitik und dem Versuch, etwas als Gegenleistung anzubieten, damit der Nichtwesten mitzuspielen bereit wäre.

Die Schwierigkeiten, womit der Westen bei seinem Druck und/oder seiner Beschwichtigungspolitik konfrontiert werde, gehen nicht allein auf die koloniale Vergangenheit der europäischen Großmächte zurück, sondern ebenso und insbesondere darauf, dass die G7-Länder kaum etwas anbieten können, was den Rest der Welt veranlasst hätte, seine Russlandpolitik kardinal zu ändern. Die Welt habe sich in den vergangenen dreißig Jahren derart radikal verändert, dass es durchaus genug Alternativen außerhalb des Westens für die Entwicklungsperspektiven der ehemaligen „Dritten Welt“ gebe, ohne dass die westliche Hemisphäre diese weltpolitische Realität aus Machtarroganz und Selbstüberschätzung zur Kenntnis genommen habe.

Lukjanovs Analyse schließt mit der Bemerkung ab: „Die Nichtanerkennung des Rechts des Westens auf seine Weltführerschaft besagt, dass es die auf den westlichen Regeln basierte Weltordnung nicht mehr geben wird“ (А непризнание права Запада на лидерство означает, что общего порядка, основанного на западных правилах, больше не будет).

2. Lukjanovs „altes Denken“ und die euroatlantische Weltordnung

In einem anderen am 1. April 2022 erschienenen Artikel „Altes Denken für unser Land und die ganze Welt“3 bezeichnet Fedor Lukjanov den „Februar 2022“ als das Ende eines „historischen Experiments“. Das Ziel dieses Experiments war laut Lukjanov „die Überprüfung der folgenden Hypothese“: „Russland könnte in eine Weltordnung integriert werden, die zwar ohne seine Mitbeteiligung zustande kam und von den führenden westlichen Großmächten geschaffen wurde, aber ihm einen gewissen Spielraum für seine Entwicklung in den vorgegebenen Rahmen dieser Weltordnung eingeräumt hat“ (Россию возможно включить в международный порядок, созданный без её участия ведущими западными державами, но подразумевающий определённое пространство для её развития в рамках установленных лидерами этого порядка правил).

Das Experiment – stellt Lukjanov apodiktisch fest – sei gescheitert. „Das Ergebnis ist negativ“. Was schlägt er nun vor? Die Antwort auf diese Frage findet man bereits im Titel des Artikels „Altes Denken für unser Land und die ganze Welt“. Den Titel hat Lukjanov paraphrasierend Gorbačevs Buch „Perestrojka und neues Denken für unser Land und die ganze Welt“ (1988) entlehnt. Es geht hier um die Reanimierung des „alten Denkens“ nach dem Motto: Die Zukunft liege in der Vergangenheit. Was heißt das?

Die Russländische Föderation trat nach Lukjanov 1992 auf die weltpolitische Bühne auf „in einer schizophrenen Verfassung als Rechtsnachfolger des Sowjetstaates und zugleich als dessen schärfster Verneiner, der jede Identität mit diesem Machgebilde negierte“. Seit dem Untergang der UdSSR war Russland fünfzehn Jahre lang bestrebt, sich in die von den USA und ihrer Verbündeten geschaffenen europäischen Sicherheits- und Friedensordnung zu integrieren. Die Integration suchte Russland dergestalt zu verwirklichen, dass es zwar die eigenen Interessen, aber eben nicht zu Lasten und nicht auf Kosten der etablierten Ordnung berücksichtigt haben wollte. „Das ist nicht gelungen“ (Не получилось), stellt Lukjanov ernüchtert fest.

Putin habe in seiner Rede vom 21. Februar 2022 – also drei Tage vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine – bewusst ein altes Gespräch mit Bill Clinton erwähnt, in dem es um Russlands Nato-Eintritt ging. Die Antwort fiel nach Putins Angaben negativ aus. „Ärgerlich ist es nur“ – entrüstete sich Lukjanov -, dass Moskau diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen habe. Die westliche Ablehnung „hinterließ tiefe Spuren im russischen politischen Denken“.

„Könnte der Westen sich anderes verhalten? Theoretisch wäre das denkbar“, allerdings unter der Voraussetzung der Miteinbeziehung Russlands und der restlichen postsowjetischen Länder in eine neu geschaffene (europäische) Sicherheitsordnung, statt einfach „mit den eigenen Instituten des Kalten Krieges zu expandieren“ (распространять вширь собственные институты холодной войны). „Praktisch“ – stellt Lukjanov zu Recht fest – „kann man sich das schwer vorstellen“. Denn die Kräfteverhältnisse der damaligen Zeit waren dergestalt, dass die Dominanz der USA und ihrer Verbündeten auf der weltpolitischen Bühne keine Zugeständnisse an den niedergerungenen Rivalen erforderte.

Lukjanovs Analyse ist zwar korrekt, sie gibt aber nur zum Teil die gesamteuropäische Gemengelage der 1990er-Jahre wieder. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der bipolaren Weltordnung fand nur scheinbar die Wiedergeburt des Nationalstaatsprinzips bzw. des Selbstbestimmungsrechts der Völker statt. Wie in der Zwischenkriegszeit zeigte sich bald, wie zweckentfremdet ein Prinzip sein kann, wenn es den geopolitischen Interessen einer Supermacht widerspricht. Zwar sind die osteuropäischen Staaten nach ihrer Befreiung von dem Sowjetblock de jure unabhängig geworden, wurden als Subjekte des Völkerrechts anerkannt und waren auch gewillt und bestrebt, sich in die westlichen Strukturen integrieren zu lassen.

Mit einer weitgehenden militärischen, politischen und ökonomischen Westintegration der ehem. sowjetischen Satellitenstaaten in die Nato- und EU-Strukturen fand aber de facto ein außen-, sicherheits- und geopolitischer Souveränitätsverzicht und deren Übertragung auf die supranationalen Institutionen statt.

Man könnte diese Entwicklung nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung mit Werner Link durchaus als „die Fortsetzung der europäischen Integration und ihre geographische Ausdehnung nach Osten … als Versicherung gegen die Wiederkehr der Geschichte“ ansehen und „als Gegentypus zu Hegemonie und Gleichgewicht“ charakterisieren.4

Es gibt nur einen Haken. Diese „Integration“ hat zum einen nicht die Hegemonie überwunden, sondern diese lediglich verschleiert, da sie vor dem Hintergrund des US-Hegemonen als der europäischen Ordnungsmacht stattgefunden hat. Es fand mit anderen Worten nicht so sehr eine Integration der osteuropäischen Staaten, als vielmehr deren Eingliederung in die US-Hegemonialsphäre auf dem europäischen Kontinent statt. Zum anderen wurde Russland gleichzeitig aus diesem hegemonial gesteuerten Integrationsprozess ausgeschlossen.

Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Integration Russlands in die supranationalen Institutionen Europas einerseits sowohl zum Machtverlust der US-Hegemonie in Europa als auch zur Implosion der EU geführt hätte. Die Ausklammerung Russlands aus dem europäischen Integrationsprozess führte aber anderseits zur unvermeidbaren Entstehung und Ausbildung der hegemonialen Dysbalance in Europa.5 Als die EU unter Federführung des US-Hegemonen versuchte, nunmehr auch die Ukraine zu „integrieren“, gingen in Russland alle geostrategischen Alarmglocken an und es war aus russischer Sicht fünf Minuten nach zwölf. Denn wäre die Ukraine in die EU- und die Nato-Strukturen „integriert“, dann hätte sich nicht nur die hegemoniale Dysbalance in Europa verschärft, sondern es wäre auch zum Umkippen der geostrategischen Machtbalance in ganz Eurasien gekommen. Dann hätte Russland zwischen den USA und China zerrieben werden können und es stünde die geopolitische Existenz Russlands zur Disposition.

Diese innerwestlichen Entwicklungen wurden von den russischen auspolitischen Experten – wie Lukjanovs Ausführungen zeigen – bis heute außer Acht gelassen.

Könnte sich Russland seinerseits anders verhalten und eine andere Rolle als diejenige einnehmen, die es im Rahmen der US-amerikanischen Hegemonialordnung in den 1990er-Jahren und im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre eingenommen hat? Russland ging laut Lukjanov nach dem Untergang des Sowjetimperiums von der Unbestreitbarkeit der US-Hegemonialstellung in der Welt aus. Diese russische Einstellung habe Anfang des 21. Jahrhunderts Zweifel bekommen (Проще говоря – американская гегемония неоспорима. Но в этом как раз в начале ХХI века возникли сомнения).

Nun hat der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 die dreißig Jahre lang andauernde postsowjetische Entwicklung Russlands zu Grabe getragen. Und Putins Rede vom 21. Februar 2022 hat einen dicken Strich unter diese Periode der postsowjetischen Geschichte gezogen. „Wo stehen wir aber heute?“, fragt Lukjanov und stellt eine ziemlich gewagte These auf: „Indem Russland die Globalisierung für sich abschafft, trägt es den entscheidenden Beitrag zur Abschaffung der Globalisierung für alle (Отменяя глобализацию для себя, Россия тем самым вносит решающий вклад в её отмену для всех.)“

Sieht man davon ab, dass Russland gar nicht in die Lage wäre, die Globalisierung für alle abzuschaffen und dass eine Deglobalisierung spätestens von der Trump-Administration in Gang gesetzt wurde6, so ist Lukjanovs These insofern richtig, als sie darauf hindeutet, dass der westliche Sanktionskrieg gegen Russland die Weltwirtschaft in ernsthafte Turbulenzen mit unabsehbaren Folgen für die Globalisierung gestürzt hat.

Moskau könne nach Lukjanovs Überzeugung nur dann erfolgreich aus dieser Konfrontation mit dem Westen herauskommen, wenn die sich anbahnende weltweite Krise realiter zum Sturz der bestehenden Weltordnung führen würde. Oder anders formuliert: Damit sich Russland aus dem etablierten Weltordnungssystem nicht herauskatapultiert, soll dieses System einfach zu existieren aufhören. „Die einzige Chance“ für Russland wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ erneut systembildend zu werden, bestehe im Zusammenbruch der euroatlantischen Weltordnung, an deren Stelle dann die anderen Ordnungsprinzipien treten sollten.

Der „Februar 2022“ bedeute nach Lukjanov der Beginn eines (neuen) Experiments, das „in der Rückkehr zum alten bzw. traditionellen politischen Denken besteht“ (вернуть старое политическое мышление (можно назвать его традиционным)). Dieses „alte Denken“ bedeute die Wiederherstellung des „Wertpluralismus statt Universalismus, Machtbalance statt der Balance von Interessen und schließlich ein klassischer militärischer Konflikt als Problemlösung, falls andere Problemlösungen nicht funktionieren (ценностный плюрализм (вместо универсальности), опора на баланс сил (а не интересов), наконец, классический военный конфликт как способ решения проблем, если другие не работают).“

Mit diesem „alten Denken“ steht Lukjanov durchaus in der Tradition der russischen Geopolitik7 auf dem europäischen Kontinent, die auf dem Gleichgewichtsdenken des 19. Jahrhunderts beruht und zuletzt von Dmitrij Trenin mit seinem 2021 erschienenen voluminösen Werk „Neue Machtbalance“ erneut in Erinnerung gerufen wurde.8

3. Karaganovs Gegenwartsanalyse und seine Zukunftsvision

(a) Die Explosion des internationalen Systems

Der alte Hase der russischen außenpolitischen Expertise Sergej Karaganov, dem nachgesagt wird, er strebte einst vergeblich den Außenministerposten an, hat gerade eine neue programmatische Schrift „Vom Nichtwesten zur Weltmehrheit“9 verfasst. In der Schrift stellte er unmissverständlich fest: „Die Zeit, in der sich Russland in die hauptsächlich vom Westen geschaffene Weltordnung zu integrieren versuchte, ist zu Ende gegangen. Es wäre allerdings besser, wenn dies früher geschehen wäre. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist zu einer direkten Konfrontation, zum hybriden Krieg, übergegangen. Dieser Krieg ist auf Dauer angelegt, und zwar unabhängig davon, was an der ukrainischen Front geschieht. Die Ukraine ist ein aktueller und offenkundiger, aber bei weitem nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Schauplatz dieser Konfrontation.“

Und Karaganov fügte gleich hinzu: Es gehe um die Zukunft Russlands als eines souveränen Staates mit seiner eigenartigen Zivilisation. „Russland verlässt (endgültig) die euroatlantische Zivilisation in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform (Россия уходит от цивилизации евроатлантической в современном её виде). Sie hat Russland zwar nicht wenig gegeben. Heute brauchen wir sie aber nicht mehr, geschweige davon, dass sie immer mehr im Widerspruch zu unserer historischen Tradition, Kultur und Werten steht. Vom Standpunkt des eigenen Koordinatensystems degeneriert der Euroatlantismus ja selber in einem rasanten Tempo.“

Wie könnte es zu einer solchen Entfremdung zwischen Russland und dem Westen überhaupt kommen? Vergessen sind längst die euphorischen ebenso wie naiven 1990er-Jahre, als die russische Gesellschaft und Öffentlichkeit euphorisiert von Zukunftshoffnungen und -erwartungen dem Westen aufgeschlossen gegenüberstand. Vier Gründe nennt Karaganov für die – wie er es nennt – „Explosion des internationalen Systems“:

(1) Der Westen habe sowohl seine militärische Überlegenheit als auch seine fundamentale politische, ökonomische und kulturelle Dominanz der vergangenen fünf Jahrhunderte verloren.
(2) Das westliche Modell der Weltwirtschaft habe sich erschöpft. Die Grenzverwischung zwischen einem realen und einem virtuellen Wirtschaften habe zur ethischen Aushöhlung der Grundlagen des die lange Zeit erfolgreichen und sich an Fortschritt orientierten westlichen Kapitalismus geführt.
(3) Die zunehmende Verschärfung globaler und innerwestlicher Probleme, wie etwa Klimakatastrophe, Pandemien, eine Vertiefung sozialer Ungleichheit, Migration usw., war ein weiterer Grund für die erodierende westliche Weltdominanz.
(4) Der wichtigste Grund der Systemexplosion sei jedoch der Aufstieg dessen, was wir kraft unseres gewohnten westlich zentrierten Denkens den „Nichtwesten“ nennen. Man sollte aber diesen Namen in Anlehnung an Fedor Lukjanov lieber durch den Ausdruck „Weltmehrheit“ (Мировое большинство) substituieren.

(b) Russlands Verhältnis zum Westen

„Der Selbstzerstörungsprozess des Westens“ (процессы саморазрушения Запада) wurde infolge dessen Konsolidierung im ideologischen und geopolitischen Machtkampf gegen Russland vorübergehend gestoppt. Der Erosionsprozess selbst gehe weiter und finde bereits seit mindestens fünfzehn Jahren statt. Die weltweiten destruktiven Tendenzen beschleunigen nur noch diese Entwicklung. All das führe zur wachsenden internationalen Instabilität und Konflikten insbesondere im Süden, im Osten und immer wieder auf dem europäischen Kontinent. Die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen sei heute viel gefährlicher als zurzeit des Kalten Krieges. Der Westen setze nicht einfach und nicht nur auf seine altbewährte Eindämmungspolitik (containment), sondern auch und zuallererst auf die Vernichtung der russischen Staatlichkeit in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform.

Allein wegen dem mächtigen Nuklearpotenzial der Russländischen Föderation gehe der Konflikt (noch) nicht in eine direkte militärische Konfrontation.

Die allgemeine Systemkrise habe sich auch auf den militärisch-politischen Bereich erstreckt, was das Risiko eines Zusammenpralls der Rivalen erheblich erhöht. In jedem Fall werde das Niveau der internationalen strategischen Stabilität weiter sinken. Und es bleibe nur zu hoffen, dass die jetzt stattfindende Konfrontation den Gegner auch ohne eine weitere Verschärfung der Krise vorsichtig und besonnen werden lasse. Man müsse allerdings mit Bedauern konstatieren, dass die Macht- und Führungseliten des Westens an Niveau und Qualität dramatisch eingebüßt haben. Das Überschreiten der nuklearen Schwelle sei außerordentlich gefährlich und die Qualität der westlichen Machtelite wirke in diesem Kontext alles anderes als beruhigend. Das Arbeiten am Absinken des möglichen nuklearen und erst recht thermonuklearen Krieges sei darum unbedingt erforderlich.

Es gibt in der Tat nur wenige Stimmen, die zur Besonnenheit mahnen. Und diese Stimmen stammen dazu noch allein von der Generation des „Kalten Krieges“. Unlängst wies Prof. Phillip Karber (der Ex-Berater von Margaret Thatcher und Nato-Generalsekretär Manfred Wörner) in einem Interview vom 8. September 2022 auf die Gefahr einer nuklearen Konfrontation hin: „Wenn Sie der US-Präsident sind, so ist Ihre primäre Verantwortung die Verteidigung der amerikanischen Bevölkerung. Sie müssen dabei die bestehende nukleare Gefahr unbedingt beachten.“

Die Feinseligkeit des Westens sei – fährt Karaganov fort – nicht allein durch Russlands Ablehnung bedingt, „das Spiel nach den alten Regeln zu spielen“, und nicht allein durch das Bestreben des Westens verursacht, die weltweite Machtumverteilung zu stoppen oder durch die Angst der Europäer vor der Rückkehr der traditionellen, auch militärischen Großmächterivalität in Europa. Die Motive dieser Feinseligkeit liegen vielmehr und insbesondere innerhalb der westlichen Welt.

Russland sei für den Westen wichtig als Feind, dessen Existenz es den etablierten Eliten ermöglicht, ihre Geo- und Sicherheitspolitik nach innen zu rechtfertigen und ihr gescheitertes ökonomisches, soziales und politisches System, worauf ihre Macht basiere, ideologisch zu legitimieren. Es sei wichtig zu verstehen, dass der Konflikt allein für das gegenwärtige westliche Establishment von existenzieller Bedeutung sei, weil dieses Establishment unter den Bedingungen der globalen Dominanz, die zu Ende gegangen sei, entstanden sei. „Der liberale globale Imperialismus“ der vergangenen Jahrzehnte wäre zwar für sie außerordentlich vorteilhaft. Die westlichen Machteliten können aber – beteuert Karaganov – ganz gut auch ohne diese globale Dominanz bestehen.

In naher Zukunft (zehn bis fünfzehn Jahre) erwartet er deswegen eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, falls die national orientierten Eliten im Westen an die Macht kommen und die nationalen Interessen Russlands anerkennen.

(c) Russlands Stellung in der Welt

Karaganovs Zukunftsvision für die Russländische Föderation ist eine „Festung Russlands“ (крепость Россия). „Festung“ bedeutet für ihn weder Selbstisolation (самоизоляция) noch Autokratie (автаркия). Sie sei „vor allem eine sichere Verteidigung gegen das (uns) umgebende Chaos und die Fähigkeit zu einer selbständigen Wahl darüber, mit wem und wie man Geschäfte führt (это прежде всего надёжная оборона от окружающего хаоса и способность самостоятельно выбирать, с кем и как вести дела).“

Um diese „Festung“ erfolgreich zu errichten, bedarf es der Realisierung von vier Zielen:

(1) Es bedürfe einer Nationalisierung der russischen Eliten und die Verdrängung der kompradorischen bzw. prowestlichen Elementen und Einflüsse. Diese Entwicklung finde teilweise bereits infolge der Emigration der radikalsten Gegner der Regierung statt. Keine geringere Rolle spiele dabei der Sanktionskrieg und die westliche Russophobie, welche zur Solidarisierung der Bevölkerung führe. Das Problem der kulturellen Verwestlichung bleibe nach wie bestehen und die Gewohnheit, die Ereignisse durch die Brille der westlichen Informationen und Interpretationen wahrzunehmen, sei immer noch nicht aus der Welt. Es bedürfe darum einer „Dekolonisierung des Bewusstseins“ (деколонизация сознания) sowie der Überwindung einer außenpolitischen, kulturellen und Informationsorientierung am Westen. Der Sinn dieser Umorientierung bestehe eben nicht darin, das bestehende Westlertum durch das gegensätzliche aggressive Antiwestlertum zu substituieren (заменить прежнее западничество на его противоположность – агрессивное антизападничество). Erforderlich sei vielmehr eine beschleunigte Intensivierung und Verbreiterung der ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zu den anderen, nichtwestlichen Weltregionen.
(2) Russische Wirtschaft müsse sich auf Sicht von zehn bis zwanzig Jahren unter den Bedingungen des wachsenden internationalen Chaos und eines erbarmungslosen Sanktionskrieges, dem alle traditionellen ökonomischen und persönlichen Kontakte und Beziehungen zum Opfer fielen, entwickeln. Diese Entwicklung erfordere allerdings ein qualitativ ganz anderes ökonomisches System, das einerseits mehr von oben gesteuert und andererseits nach unten liberaler werden soll. Die Öffentlichkeit müsse verstehen, dass es sich um einen schweren und langandauernden Machtkampf um das Überleben des Staates und der Gesellschaft in einer konfliktreichen und gefährlich gewordenen Welt gehe.
(3) Die allerwichtigste Aufgabe sei aber eine Gewährleistung einer maximalen Autarkie (самодостаточность) der russischen Wirtschaft unter den Bedingungen nicht nur des feindselig gewordenen Westens, sondern auch vor dem Hintergrund des Zerfalls des in der Zeit zwischen den 1980er- und 2000er-Jahren entwickelten Globalisierungsmodells der Weltwirtschaft. Ausgehend von der Weltfinanzkrise 2008, setzte sich dieser Zerfall seit 2014 fort und beschleunigte sich infolge des selbstmörderischen Wirtschaftskrieges des Westens gegen Russland. „Die globalistische liberale Wirtschaftspolitik lohnt sich für Russland einfach nicht mehr, zumal sie buchstäblich vor den Augen der ganzen Welt zerfällt“ (глобалистская либеральная экономическая политика не просто невыгодна России, она рушится на глазах в масштабах всего мира).
(4) Die gebildete Schicht der Gesellschaft müsse zudem systematisch auf die Erwerbung bzw. Herausbildung eines selbstständigen (vom Westen unabhängigen) Bewusstseins hinarbeiten. Die Gesellschaftswissenschaften können per se nicht übernational bzw. universal sein. Sie spiegeln in der Regel die Interessen der Eliten der Länder, in welchen sich die geopolitischen und historischen Besonderheiten herausbilden wider.

Was Karaganov hier fordert, ist nichts anderes als eine Mobilisierung der Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten des Ukrainekrieges und auch als Vorbereitung der gesamtgesellschaftlichen Kräfte zu den (noch) kommenden und unabwendbaren Kriegen, deren aufziehendes Gewitter nicht zu übersehen sei. Und so präzisiert er auch inhaltlich seine Forderung nach einer „Festung Russlands“ und beschwört damit wie zu Zeiten des „Großen Vaterländischen Krieges“ eine Kriegswirtschaft herauf.

Vor diesem Hintergrund stimmt Karaganov auch Henry Kissinger zu, der vor etwa zwanzig Jahren ein „Paradoxon“ formuliert haben soll: „Es findet eine Globalisierung der Probleme bei gleichzeitiger Nationalisierung der Instrumente ihrer Lösung statt“ (происходит глобализация проблем при национализации инструментов их решения). Wir müssen deswegen geistig und organisatorisch zur Zusammenarbeit vor allem mit dem „Nichtwesten“ – der Weltmehrheit – bereit sein.

Mit dieser programmatischen Schrift hat Karaganov im Grunde nichts Neues gesagt. Sie ist „alter Wein in neuen Schläuchen“! Bereits in seinem Interview vom 22. Oktober 201710 meinte er mit Bezug auf die geopolitischen Spannungen selbstbewusst und voller Vorwürfe an die Adresse des Westens: „Wir bleiben nicht in den Schützengräben sitzen. Zusammen mit den Chinesen sind wir die Hauptlieferanten der globalen Sicherheit. Wir haben den Krieg in Europa verhindert, indem wir die Pläne der Ukraine durchkreuzt haben. Wäre sie ein Mitglied der NATO geworden, dann wäre der Krieg unvermeidbar.“ Man sieht nebenbei gesagt auch an dieser Äußerung, welche gewaltige Bedeutung die Nato-Expansion gen Osten im außen- und sicherheitspolitischen Denken der russischen Funktionseliten hat und wie wenig der Westen das verstanden bzw. mit welcher Machtarroganz und Ignoranz er – bewusst oder unbewusst, sei dahin gestellt – die Besorgnis der Russen von sich gewiesen hat.

Mit Verweis auf die globalen Entwicklungen glaubt Karaganov zudem zu wissen: „Mit Ausnahme von Russland und China umfassenden Großem Eurasien beginne die Weltordnung auseinanderzufallen, und zwar deswegen, weil die USA versuchen – von der Konkurrenz bedroht -, die Außenhandelsbeziehungen zu politisieren. Wir beobachten eine gewisse Deglobalisierung der Welt. Die sog. nord-atlantische Ordnung fängt an zu zerfallen, weil sich die USA von Europa entfernen. Der Nahe Osten steht ebenfalls in Flammen und zerfällt, nicht zuletzt wegen zahlreicher Fremdeinmischungen. Was die sog. liberale Weltordnung angeht, die angeblich seit 1945 existiert, so ist das eine glatte Lüge. Sie entstand etwa um 1991. Das war die Herrschaft des Westens in allen Bereichen, wobei diese Weltordnung weder liberal noch frei war. Man verstand darunter vielmehr die Forderung des Westens an die Adresse aller anderen Länder, sie sollten gefälligst das einzig wahre, (westliche) Modell übernehmen, die westliche Führerschaft akzeptieren und die einzige, (wahre) Ideologie zu eigen machen. Diese sog. Weltordnung war natürlich keine Ordnung, weil der Westen anfing, eine Aggression nach der anderen zu betreiben. Das geschah auch deswegen, weil Russland zu schwach, unfähig und nicht in der Lage war, den Westen einzudämmen, der sich allmächtig fühlte und bekanntlich zu dem führte, was wir in Jugoslawien, Irak, Libyen usw. beobachten dürften.“

(d) „Die ukrainische Frage“

In der bereits zitierten programmatischen Schrift „Vom Nichtwesten zur Weltmehrheit“ nimmt Sergej Karaganov Stellung zu der sog. „ukrainischen Frage“ (украинский вопрос) in Zeiten „der speziellen militärischen Operation“ (SVO). Vieles in der Politik werde vom Ergebnis der SVO abhängig sein. Das Endergebnis steht zwar noch aus. Die Ziele der SVO seien aber klar und deutlich umrissen: Die Verteidigung von Donbass, die Befreiung der Ost- und Südukraine“ und nicht zuletzt die sog. „Denazifizierung“.

Unter „Denazifizierung“ versteht Karaganov „die Ausrottung des brachialen (ukrainischen) Nationalismus“ (искоренение агрессивного национализма). Die Lösung dieser Aufgabe sei nur dann möglich, wenn die Ukraine ganz besetzt wird. Das setze aber politische Säuberungen voraus, deren Umsetzung in der heutigen Welt so gut wie unmöglich sei, weil sie den Grundwerten unseres Vielvölkerstaates widersprechen. Realisierbar sei allerdings eine vollständige Demilitarisierung, die Erreichung des Neutralitätsstatus sowie die Befreiung und der Wiederaufbau des Ostens und Südostens der Ukraine.

Das setze wiederum voraus, dass Russland zu einer langwierigen militärischen Operation politisch, militärisch und ökonomisch bereit wäre, balancierend an der Grenze zur Eskalation mit dem Westen. Es dürfe dabei auch keinen begrenzten Nuklearkrieg ausgeschlossen werden (в том числе до уровня ограниченной ядерной войны), sollte Russland glaubwürdig bleiben. Denn „ohne eine solche Drohung würden die USA und der Westen sich kaum auf irgendwelche Vereinbarungen außer eines befristeten Waffenstillstandes einlassen wollen“ (без такой угрозы США/Запад вряд ли отступят и пойдут на договорённости помимо временных перемирий).

Der Versuch einer Befreiung aller oder eines großen Teils der Territorien der Ukraine (ausgenommen Galizien und Bukowina) würde eine langwierige Mobilisierung, drastische Verteuerung der Operation und noch mehr menschliche Opfer bedeuten.

Auf manche historischen Reminiszenzen hinzuweisen, bedeutet dabei keinen übertriebenen Alarmismus auszulösen. Wenn die ukrainische Schlacht nämlich nicht mit einem Sieg enden würde, dann würde das Vertrauen in die politische Führung unterminiert. Die Wahrscheinlichkeit eines neuen Februars 1917 – einer der tragischsten Episoden in der politischen Geschichte Russlands seit der Zeit der Wirren (Smuta) Anfang des 17. Jahrhunderts – darf dann nicht ausgeschlossen werden. Im August 1991 war wenigstens ein Teil der Eliten bereit, die Macht im Staate zu übernehmen.

Die heutige Situation unterscheide sich jedoch erheblich von der der 1990er-Jahre. Der Westen setzte sich damals nicht zum Ziel, „Russland zu erledigen“ (добить Россию), weil er an eine Wiederherstellung Russlands als eine führende Weltmacht nicht glaubte. Das sei aber heute der Fall! Wenn wir heute zurückweichen, werde der Westen das Problem endgültig erledigen.

Was Karaganov hier behauptet, ist keine Obsession, sondern die vorherrschende Meinung in den russischen Macht- und Funktionseliten. Es geht um Alles oder Nichts.

Nach der „Befreiung“ des großen Teils des Ostens und des Südens der Ukraine sei es sinnvoll – resümiert Karaganov – die Waffenstillstandverhandlungen aufzunehmen, selbst wenn der Friedensvertrag momentan unmöglich sei. Ein solcher Friedensvertrag sei allein im Rahmen der Schaffung eines neuen europäischen bzw. eurasischen Sicherheitssystems möglich, dessen Konturen völlig unklar seien, zumal die Bereitschaft dazu seitens der potenziellen Teilnehmer fehle. Wie auch immer die momentane Situation in der Ukraine gelöst werde, müssen wir von der Perspektive einer langandauernden, womöglich fünfzehnjährigen wellenartigen Konfrontation mit dem Westen an der Front sowie mit einer gleichzeitigen Zunahme an Konflikten und Chaos in der Welt ausgehen.

Diese ziemlich deprimierenden Zukunftsaussichten hat Karaganov nicht erst seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine formuliert. Bereits in seinem zitierten Interview vom 22. Oktober 2017 meint er auf die Frage nach einer neuen Weltordnung: „Falls wir keinen schrecklichen Krieg erleben, dann entsteht in den kommenden 12-15 Jahren eine andere Machbalance, auf deren Grundlage andere Beziehungen aufgebaut werden. Diese Entwicklung wird m. E. vor allem im Großen Eurasien stattfinden, wo Russland und China die Hauptakteure sein werden, zu denen sich ein Teil Europas mit Indien, Iran, Türkei und Ägypten hinzugesellen werden. Bis dahin müssen wir erst überleben, denn es kann auch etwas ganz anderes passieren. Das Wichtigste ist aber zu verstehen, dass wir in einer der gefährlichsten historischen Epochen leben. Wir müssen der Geschichte eine Chance geben, damit sie nicht zu Ende geht.“11

Geben wir der Geschichte eine Chance, damit sie nicht zu Ende geht? Vor dem Hintergrund der nicht enden wollenden Krisen und Kriegen seit dem Anfang des noch ziemlich jungen 21. Jahrhunderts stehen die Zeichen allerdings eher auf Konfrontation als auf Deeskalation. Und es ist bis auf weiteres kein Ausweg in Sicht.

4. Trenins „modernes Russland“ in einer veränderten Welt

(a) Eine gescheiterte Beziehung: Russland und der Westen

Im Gegensatz zu Sergej Karaganov verfolgt Dmitrij Trenin (Direktor des Carnegie Moscow Center) einen anderen Denkansatz. Unter dem Motto „Das Fenster schließen“ (Закрыть окно) meint Trenin: „Die militärische Operation in der Ukraine“ (Военная операция на Украине) sei nicht bestrebt, die Weltordnung zu zerstören. Sie verfolge ein viel bescheidenes Ziel, nämlich die gewaltsame Lösung einer Reihe von geostrategischen, geopolitischen und humanitären Aufgaben in der Ukraine und in Europa insgesamt. Politisch wende sich Russland vom Westen bereits seit Mitte der 2000er-Jahre ab, indem es ein „ökonomisches Integrationsprojekt >Großes Europa< (Большая Европа)“ Mitte der 2010er-Jahre zu Grabe getragen hat.

Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert und in Februar 2022 ereignete sich eine radikale Wende: Die zunehmende Konfrontation mit dem Westen nahm Formen eines indirekten Krieges zwischen Russland und den USA bzw. der Nato auf dem ukrainischen Boden an. Dieser Krieg reiht sich in einen schwierigen Prozess einer Transformation der Weltordnung ein, die darin besteht, dass sich das Zentrum der ökonomischen Macht von der euroatlantischen zur indopazifischen Region verschiebt. Seit der Weltfinanzkrise 2008 gibt der Westen allmählich und unaufhaltsam seine ökonomische Weltmachtstellung an die asiatischen Giganten China und Indien ab. Russlands gewaltsame Vorgehensweise wirke in diesem Kontext wie Zündstoff, der die Tektonik der Geopolitik von Grund aus verändere. Und es gebe kein Zurück mehr in den Beziehungen Russlands zu den USA und Europa.

Nun stellt Trenin eine kühne These auf: Diese tektonische Verschiebung in der Geopolitik bedeute „faktisch die Ablehnung eines Teils des Erbes von Peter dem Großen“ – einer dreihundertjährigen Tradition der Positionierung Russlands nicht nur als eine bedeutende europäische Großmacht, die ein systembildender Teil der europäischen Machtbalance war, sondern auch als ein bedeutender Bestandteil der gesamteuropäischen Zivilisation (Фактически речь идёт об отказе от части наследия Петра Первого – трёхсотлетней традиции позиционирования России не только как великой европейской державы, неотъемлемой части баланса сил на континенте, но и составной части общеевропейской цивилизации).“

Was Trenin hier thesenhaft formuliert hat, ist das nichts anderes als eine subtile Kritik an der Vorgehensweise Putins in der Ukraine und seine tiefe Enttäuschung über die stattgefundene Entwicklung. Man muss nur Trenins neues kurz vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges erschienenes Werk „Neue Machtbalance“12 genau studieren, um diese Enttäuschung nachzuvollziehen.

Bereits in seinen früheren Veröffentlichungen vertrat Trenin die Auffassung, dass die Ukraine-Krise (seit 2014) eine neue Epoche in der russischen Geschichte auf dem Weg zu einem eigenständigen und selbstgenügsamen Staat einleitete, der die anderen Länder der ehemaligen UdSSR als Nachbarländer und nicht als Teil eines geopolitischen Raumes unter Führung Moskaus ansehe. Daraus schlussfolgerte er in Anlehnung an den ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid D. Kučma, dass „die Ukraine kein Russland“ sei und dass „das ukrainische politische Projekt prinzipiell erfolgreich sein kann, nur unter den Bedingungen einer maximalen Abkoppelung der Ukraine von Russland.“13

Diese Treninsche Diagnose ist für die russische Selbstverortung alles andere als selbstverständlich und wurde bereits zurzeit ihrer Veröffentlichung 2017 nur noch von wenigen geteilt. Dass der postsowjetische Raum darüber hinaus kein „Teil eines geopolitischen Raumes unter Führung Moskaus“ sei, diese Behauptung wurde spätestens mit dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 widerlegt.

Es ist zudem auch nicht ganz klar, was Trenin mit „der Ablehnung eines Teils des Erbes von Peter dem Großen“ meint. Denn dieses „Erbe“ ist – sollte er darunter „ein bedeutender Bestandteil der gesamteuropäischen Zivilisation“ verstanden wissen – ein Mythos, der dadurch nicht wahrer wird, wenn er stets wiederholt wird.14 Es gibt auch „keine dreihundertjährige Tradition der Positionierung Russlands“ als eine „bedeutende europäische Großmacht“, die „ein systembildender Teil der europäischen Machtbalance war“.

Das sog. „europäische Mächtekonzert“ ging bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde. An dessen Stelle trat sodann nach der Zwischenkriegszeit und dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht das wie Phönix aus der Asche auferstandene „europäische Mächtekonzert“, sondern die bipolare Welt der Supermächte. Und nach dem Untergang des Sowjetimperiums und dem Ende des „Kalten Krieges“ kann von einer Wiederherstellung der Machtbalance auf dem europäischen Kontinent erst recht nicht die Rede sein.

Vielmehr entstand nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine hegemoniale Dysbalance15 in Europa unter der unbestreitbaren Führung des US-Hegemonen und zu Lasten Russlands. Mit dem Ukrainekrieg wird aber eben diese hegemoniale Dysbalance von Russland in Frage gestellt, sodass Trenin hier im Grunde einem Phantom nachtrauert.

In einem Punkt hat Trenin durchaus recht. Die mit Gorbačevs Perestrojka eingeleitete Annährung Russlands an den Westen, die dann von Boris Jelzin fortgesetzt wurde, ist in der Tat gescheitert. „Es hat nicht geklappt“ (Не вышло), meint Trenin kurz und knapp und fährt mit einer ebenso bemerkenswerten wie zutreffenden Analyse fort: „Das gemeinsame Haus Europa wurde bereits unter dem Schutzschirm der USA, aber eben ohne Russland, aufgebaut und bevölkert. Das ist kein Fehler einer oder der anderen Seite. Der kollektive Westen konnte es sich gar nicht leisten, einen derartigen Koloss in seine Kreise aufzunehmen, ohne gleichzeitig das Fundament des errichteten Gebäudes zu erschüttern. Denn eine Vergrößerung des Fundaments hätte den Verzicht der USA auf ihre Hegemonialstellung“ in Europa bedeuten können.

„Russland konnte sich seinerseits unmöglich den Regeln unterwerfen, die ohne seine Mitbeteiligung entstanden sind und ihm lediglich in Aussicht stellten, im Wesentlichen eine untergeordnete Rolle im gesamteuropäischen Haus zu spielen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Eigenständigkeit und Souveränität die DNA der russischen Staatlichkeit im Bewusstsein des Volkes und seiner Führungsschicht ausmachen.“

„Beim genauem Hinsehen“ – resümiert Trenin am Ende seiner Analyse der Hintergründe des Konflikts – sei „das aufgebaute Haus nicht so sehr ein gesamteuropäisches, als vielmehr ein gesamtwestliches (выстроенный дом, по сути, не общеевропейский, а общезападный). Dass man in diesem Haus keinen Platz für Russland gefunden hat, ist wohl keine Überraschung.“ Die folgerichtige Konsequenz dieser Entwicklung, die gut fünfzehn Jahre andauerte und letztlich zum Bruch mit dem Westen führte, sei „die Notwendigkeit für Russland sich auf sich zu besinnen, und zwar nicht nur als eine vom Westen unabhängige Entität, sondern auch als eine selbständige … Zivilisation“.

(b) Russland als „Großmacht“ (Deržava)?

Auf der Grundlage dieses Befundes entwickelt Trenin nun seine Vorstellungen von einem „modernen Russland“, das er unter den kaum übersetzbaren Begriff „Deržava“ (держава) subsumiert, der meistens als „Großmacht“ übersetzt wird und hier vorläufig unübersetzt bleibt. Das „moderne Russland“ (Современная Россия) sei „weder Imperium noch Nationalstaat im europäischen Sinne des Wortes.“ Offiziell nennt sich Russland ein „Vielvölkerstaat“ (многонациональное государство). Richtiger wäre es, Russland als „zivilisatorische Deržava“ (державой-цивилизацией) zu nennen.

Was meint Trenin nun mit der „zivilisatorischen Deržava“? Russland sei weder „Europa 2.0 noch eine Alternative zur EU“. Im zivilisatorischen Sinne sei es mehr als Europa. Erstreckt auf dem ganzen Norden des eurasischen Kontinents, beinhaltet Russland zahlreiche Ethnien, die kulturell und konfessionell kaum historische Beziehungen zu Europa unterhielten. Diese Ethnien waren gleichzeitig in den (alles und alle) einenden russischen Staat (единое русское государство) integriert, der sich in vielerlei Hinsicht von den klassischen europäischen Imperien unterscheidet. Und dieser „einende russische Staat“ sei dasjenige, was Trenin „zivilisatorische Deržava“ nennt.

Der Begriff „Deržava“ sei also laut Trenin weder Imperium noch „Großmacht“ (великая держава), weder Kolonialmacht, deren Metropole im Verhältnis zu Kolonien hierarchisch organisiert sei (иерархия метрополии и колоний), noch eine Übermacht, die potentielle Konkurrenten im Schach hält, sondern eine Macht, die in der Lage sei, die verschiedenen Ethnien in einer organischen Einheit und Gleichheit zu einen und zusammenzuhalten. Dieser „einende russische Staat“ gewährleistet Frieden, Wohlstand und Entwicklung auf dem gigantischen Territorium vom Baltikum bis zum Japanischen Meer, von der Arktis bis zum Kaspischen Meer. Genau diese alles und alle umfassende Deržava ist der wichtigste Wert für diese komplizierte (russische) Zivilisation (Единое государство обеспечивает мир, благосостояние и развитие на огромной территории от Балтики до Японского моря и от Арктики до Каспия. Именно общая держава является важнейшей ценностью для этой сложной цивилизации).“

„In der Welt der Gegenwart bedeutet die große Deržava nicht jene, die den anderen ihren Willen aufzwingt, sondern genau das Gegenteil eine solche, welche es keinem erlaubt, sich seinen Willen aufzuzwingen (великая держава – не та, которая принуждает других действовать по её воле, а ровно наоборот – не позволяет никому диктовать свою волю ей самой).“ Auch hier spürt man eine subtile Kritik an der militärischen Vorgehensweise Russlands gegen die Ukraine. Mehr noch: Trenin wiederholt im Grund seine alte Position, woran man sehen kann, dass er doch unter Deržava trotz seiner umschweifigen Ausführungen eine zivilisatorische Großmacht versteht.

In seinem 2015 erschienenen Werk „Russland und die Welt im XXI. Jahrhundert“ schreibt er: „Russland ist eine Großmacht, und zwar nicht deswegen, weil es in der Lage ist, die anderen zu kontrollieren und ihnen die eigenen Normen, Regeln und Entscheidungen zu oktroyieren, sondern weil es den größtmöglichen Grad an eigener Autarkie (самодостаточность), die eigene Standfestigkeit gegen äußere Einflüsse und – was am wichtigsten ist – weil es die tendenzielle Fähigkeit besitzt, die globalen öffentlichen Güter, wie etwa die internationale Sicherheit, das internationale Recht und eine friedensstiftende Vermittlung zu gewährleisten.“16

Trenins Versuch, den Begriff „Deržava“ genauer zu definieren, bleibt trotz seiner wortreichen Bemühungen ziemlich verschwommen. Zwar stellt er zutreffend fest, dass das „moderne Russland“ weder „Imperium“ noch „Nationalstaat“, weder eine Kolonialmacht noch Übermacht sei. Die Bestimmung des „modernen Russlands“ mit dem nichtssagenden Schlagwort eines „einenden russischen Staates“ zeigt aber die ganze Rat- und Hilflosigkeit der russischen Gesellschaft, deren Repräsentant eben auch Dmitrij Trenin ist und die sich immer noch auf der ewigen Suche nach der eigenen russischen Identität befindet.

Trenins vergebliches Bemühen, Russland in der modernen Welt zu verorten, erklärt sich dadurch, dass er (und nicht nur er) die verfassungshistorische Entwicklung Russlands im Unterschied zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte außer Acht lässt. Deswegen missversteht er auch das Erbe von Peter dem Großen.

Auch Trenins zwanghafter Versuch, Russland immer wieder von der „Idee der zivilisatorischen Deržava“ im Unterschied zur „Idee des Imperiums“ abzuleiten und den Begriff „Großmacht“ (великая держава) umzudefinieren, erklärt immer noch nicht, was eigentlich ein „modernes Russland“ als Deržava ausmacht. Trenin fehlt schlicht und einfach neben dem verfassungshistorischen ein geopolitisches Vokabular zur positiven Bestimmung dessen, was Deržava ist. Denn mit dem Verständnis dessen, was ein „modernes Russland“ sei, steht und fällt – worauf Trenin ja selber völlig zu Recht hinweist – „dessen Rolle in einem neuen internationalen Kontext. Sie besteht nämlich nicht nur in der Verteidigung der Souveränität in der Konfrontation gegen die vereinten Kräfte des Westens, sondern hauptsächlich auch im Aufbau neuer Modelle in den Beziehungen zum Nichtwesten (Роль России в новом международном контексте могла бы состоять не только в отстаивании суверенитета в противоборстве с объединёнными силами Запада, но главным образом в выстраивании новых моделей отношений внутри не-Запада).“

Russland kennt bis heute weder „die russische Nation“ noch „den russischen Nationalstaat“; es ist überhaupt kein „Staat“ im westlichen Sinne des Wortes >status<. Russland ist heute auch kein Herrscherraum im Sinne des russischen Wortes „Staat“ (gosudarstvo), sondern eine zentralgesteuerte Raummacht, wobei die Raumsteuerung und Raumbeherrschung für das russische Selbstverständnis identitätsstiftend ist. Man könnte diesbezüglich auch von einer raumhaften – aber eben nicht nationalen Identität sprechen. Ohne die Zentralsteuerung des Raumes büßt die Raummacht nicht nur an ihrer Funktionsfähigkeit, sondern auch ihre Legitimitätskraft ein, weil diese Legitimität raumhaft ist, d.h. an Raumbeherrschung und -steuerung gebunden ist.

Zerfällt der russische Machtraum, verliert das Zentrum seine Legitimität als Raummacht und dadurch seine raumhafte Funktionsfähigkeit. Der Machtbesitz geht in Russland traditionell der Machtlegitimität voraus, soll heißen: Macht legitimiert sich selbst, vorausgesetzt, dass sie sich durchsetzt bzw. durchsetzen kann. Als Legitimitätsidee hat Nation in der russischen Geschichte keine Rolle gespielt und wird voraussichtlich bis auf weiteres auch keine Rolle spielen.

Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn die Gegner Russlands – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – daran hinarbeiten, entweder die Zentralsteuerung der russischen Raummacht zu delegitimieren oder den russischen Machtraum axiologisch von innen oder von außen zu sprengen. Würde die russische Raummacht dezentralisiert bzw. die vom Zentrum unabhängig agierenden Raumstrukturen de jure und de facto implementiert oder durch eine bzw. infolge einer wertlogischen Subversion der sog. „westlichen Werte“ etabliert, dann wird zum einen die zentralgesteuerte Raumbeherrschung implodieren und zum anderen werden zentrifugale Kräfte freigesetzt, welche die russische zentralgesteuerte Raummacht unter sich begraben.

5. Die chinesisch-russischen Beziehungen vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts

Im Internationalen Diskussionsklub „Waldai“ fand eine Diskussion über die russisch-chinesischen Beziehungen statt. In einer Studie zusammengefasst, wurde diese Diskussion unter dem Titel „Die Strategische Partnerschaft zwischen Russland und China unter den Bedingungen der europäischen Krise“ am 6. September 2022 veröffentlicht.17 Die Teilnehmer der Diskussion Timofej Bordačjov, Vasilij Kašin, Nikita Potašev, Jegor Prochin, Veronika Smirnova und Aleksandra Janjkova waren sich darüber einig, dass „der 4. Februar 2022“ das Datum des Endes der bestehenden und des Beginns einer neuen internationalen Weltordnung sei. An diesem Tag trafen sich nämlich zwei Staatsoberhäupter Russlands und Chinas in Peking, indem sie nach einer zweieinhalb Stunden andauernden Unterredung eine gemeinsame Erklärung verabschiedeten, in der für alle Welt ersichtlich „eine solidarische Position“ (солидарная позиция) von zwei mächtigsten Großmächten Eurasiens formuliert wurde.

Diese Erklärung spiegelte den Inhalt und Maßstab der Beziehungen zwischen China und Russland am Vorabend einer ernsthaften internationalen Krise wider, nämlich der Zusammenprall Russlands mit dem Westen bezüglich der Ukraine und der europäischen Sicherheitsarchitektur insgesamt. Die folgenden Ereignisse – der Beginn „der speziellen militärischen Operation in der Ukraine“ (SVO), der Wirtschaftskrieg des Westens gegen Moskau und die Handlungen Chinas – gehören bereits der neuen historischen Epoche an, welche die anderen globalen Spielregeln und eine andere Machtverteilung bestimmen werden. Am Beginn dieser Epoche zeigen China und Russland die beeindruckende Fähigkeit als eine „Einheitsfront“ (единый фронт) aufzutreten.

Je mehr Zeit seit dem Übergang von einer militärisch-politischen Krise zur militärischen Konfrontation in Europa vergeht, umso deutlicher werden „die Errungenschaften der chinesisch-russischen Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren“. Es kristallisieren sich auch die Grenzen heraus, in deren Rahmen die Gegner Russlands und Chinas einen negativen Einfluss auf ihre ökonomischen Beziehungen ausüben können. China und Russland seien ein Teil der Weltwirtschaft und ihre außenwirtschaftlichen Beziehungen finden im Rahmen eben dieser vom Westen dominierten Weltwirtschaft statt. Deswegen leiden ihre Ökonomien unter dem Wirtschaftskrieg der USA und ihrer Verbündeten gegen Russland. Die Frage sei nur, ob es den beiden gelingen würde, diesem Druck mittels der Ausweitung des Außenhandels miteinander standzuhalten und ein Teil der Weltwirtschaft zu bleiben.

Die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland verfolge nach Meinung der Studie kein Ziel, die Weltwirtschaft zu kontrollieren und die Weltpolitik zu domestizieren. Die wichtigste Aufgabe dieser Beziehungen sei vielmehr die Sicherung der Souveränität beider Länder und die Gewährleistung einer intakten globalen Entwicklung für alle. Die Partnerschaft sei auch nicht darauf angelegt, Angriffskriege zu führen oder die internationalen Institutionen zu unterminieren. Ganz im Gegenteil: China und Russland bestehen nachdrücklich auf die zentrale Rolle der UN-Einrichtungen bzw. des UN-Völkerrechts und rufen dazu auf, die gleichen Regeln für alle in der Weltpolitik zu wahren und zu achten.

Vor dem Beginn der SVO hätten China und Russland bereits eine gemeinsame Erfahrung bei der Bewältigung von schweren Krisen, wie etwa in Kasachstan, wo im Januar 2022 Massenunruhen ausgebrochen waren. Dieser Versuch eines Staatsstreichs wurde durch die militärische Intervention Russlands vereitelt, wobei China diese Intervention zur Stabilisierung der Situation in Kasachstan gutgeheißen hat.

Am Tag des Beginns der SVO fand ein Telefonat zwischen den Außenministern Russlands und Chinas Sergej Lavrov und Wan I statt. Während der Unterredung habe Lavrov den chinesischen Kollegen über die Gründe der stattfindenden „militärischen Operation“ informiert, in der die Verletzungen der von den USA und der Nato eingegangenen Verpflichtungen, keine Nato-Expansion gen Osten zu unternehmen, sowie die Nichterfüllung der Minsker Vereinbarungen hervorgehoben wurden. Die chinesische Seite habe ihrerseits unterstrichen, dass sie trotz einer prinzipiellen Unterstützung der territorialen Unversehrtheit aller Länder ein Verständnis für die komplexen historischen Hintergründe der ukrainischen Frage habe.

Am folgenden Tag – dem 25. Februar – habe China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution über „die Beendigung der Ukrainekrise“ enthalten. Als der russische Zahlungsverkehr Ende Februar 2022 vom System SWIFT abgetrennt wurde, habe China zu verstehen gegeben, dass diese Sanktionen den russisch-chinesischen Außenhandel nicht beeinträchtigt werden. Im Großen und Ganzen praktizierte China ein solches Verhalten seit dem Beginn der Ukrainekrise 2014.

Diese zurückhaltende Position werfe die Frage nach einer möglichen Vermittlungsrolle Chinas im Ukrainekonflikt auf. Die offizielle chinesische Position zur SVO habe der Außenminister Wan I bereits am 26. Februar in fünf Punkten formuliert:

(1) China tritt für den Respekt und die Verteidigung der Souveränität und der territorialen Unversehrtheit aller Länder sowie für die faktische Befolgung der Ziele und Prinzipien der UN-Statuten auf.
(2) China tritt für eine kollektive Sicherheit auf. Dabei hebt es hervor, dass die Nato-Osterweiterung die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands tangiert hat.
(3) China beobachtet die Ukrainekrise sehr aufmerksam und ist der Meinung, dass die gegenwärtige Situation unbefriedigend ist und alle Parteien Zurückhaltung ausüben sollten, damit die Lage in der Ukraine nicht außer Kontrolle gerät.
(4) China unterstützt alle diplomatischen Bemühungen, die zur friedlichen Beilegung der Ukrainekrise beitragen können. China begrüßt eine möglichst schnelle Aufnahme der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine.
(5) China ist der Auffassung, dass der UN-Sicherheitsrat eine konstruktive Rolle bei der Lösung der ukrainischen Frage spielen soll. Der UN-Sicherheitsrat soll statt einer weiteren Eskalation auf eine diplomatische Regelung hinwirken.

Diese Position hat der chinesische Staatspräsident Xi Jinping auf dem Gipfeltreffen mit den Führern Frankreichs und Deutschlands am 8. März wiederholt.

Zu gleicher Zeit beginnt die chinesische Seite ihre Außenpolitik neu zu formieren. Einerseits fängt sie an, regelmäßig von der chinesischen humanitären Hilfe an die Ukraine zu sprechen, andererseits beschuldigt sie die USA, den humanitären Fragen in der Ukraine mehr Aufmerksamkeit als allen anderen Problemen und Konflikten, wie z. B. in Syrien, Irak, Afghanistan oder in Somalia, zu widmen. Diese chinesische Position ist deswegen so wichtig zu betonen, weil sie die Sichtweise auf den Ukrainekonflikt seitens eines der nichtwestlichen Schlüsselakteuren des internationalen Systems zeigt.

Im April 2022 lehnte China es mehrmals ab, mutmaßliche russische Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in der Ukraine anzuerkennen und rief immer wieder zu den unabhängigen Untersuchungen bezüglich derartiger Vorkommnisse auf. Mehrere offizielle chinesische Vertreter wiesen zudem ebenfalls im April 2022 auf die Notwendigkeit einer Überwindung des Blockdenkens aus Zeiten des „Kalten Krieges“ hin.

Interessant ist es auch darauf hinzuweisen, dass eine derartige Aufforderung im Kontext der zunehmenden Spannungen im Indo-Pazifik stattfand. Das chinesische Außenministerium betonte deswegen in einer Erklärung die Gründe des Erfolgs der russisch-chinesischen Beziehungen. Sie lautet: „Die beiden Seiten lehnen das Modell des militärische-politischen Bündnisses der Epoche des Kalten Krieges ab und verpflichten sich ein neues Modell der internationalen Beziehungen auf der Grundlage der Block- und Konfliktfreiheit zu schaffen, das nicht gegen das Drittland gerichtet ist. Dieses Modell unterscheidet sich fundamental von der Mentalität der Epoche des Kalten Krieges, die ihrem Bestreben nach auf ein Nullsummenspiel hinauslief.“

Mai – Anfang Juni 2022 fand eine öffentliche Demonstration der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und China statt und der chinesische Botschafter in Russland Zhang Hanhui betonte erneut eine positive Tendenz in der Entwicklung der russisch-chinesischen Außenhandelsbeziehungen. Der russische Außenminister Sergej Lavrov prognostizierte seinerseits eine Beschleunigung der russisch-chinesischen Wirtschaftsaktivitäten nicht zuletzt auf dem Gebiet der Investitionen und Finanzen.

Diese demonstrative Zurschaustellung einer engen wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenarbeit der beiden Länder kann man vor dem Hintergrund des tobenden Wirtschaftskrieges des Westens gegen Russland als Wink mit dem Zaunpfahl auffassen.

Am 15. Juni fand ein Telefonat zwischen Putin und Xi Jinping anlässlich der Einweihung der ersten Autobrücke über dem Fluss Amur statt. In der darauffolgenden Erklärung der beiden Seiten vom 15. Juni wurde die Unabwendbarkeit der engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und China, die sich unabhängig vom Sanktionsdruck seitens der Außenmächte entwickeln, unterstrichen.

Vom Februar bis Anfang Juni 2022 fand also in der chinesischen politischen Rhetorik bezüglich der SVO eine wesentliche Veränderung statt. China ging von den akkuraten und vorsichtigen Formulierungen sowie der Ablehnung einer direkten Unterstützung Russlands im Frühjahr allmählich zu einer immer mehr prorussischen Haltung in den offiziellen Verlautbarungen über. Die chinesische Seite hat dabei ausdrücklich darauf Wert gelegt, die begründeten Sorgen Russlands im Zusammenhang mit den Sicherheitsproblemen in Europa hervorzuheben.

Diese veränderte chinesische Position zeige nach Meinung der Studie, dass man in China auf die ukrainische Problematik aus der Position einer Großmacht schaut, die ihrer Verantwortung für die globale Sicherheit durch und durch bewusst sei. Man verstehe in Peking, dass sich Russland auf die militärische Lösung des Problems nicht eingelassen hätte, wären die westlichen Staaten zu einem konstruktiven Dialog bereit und hätten sie das Kiewer Regime zur Erfüllung der von ihm eingegangenen Verpflichtungen gezwungen.

Indem sich die Staaten des Westens auf eine direkte Konfrontation mit Russland wegen der Ukraine eingelassen haben, haben sie nach Einschätzung der Studie die Möglichkeit einer tiefgehenden strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China in der neuen Epoche der geopolitischen Machtverschiebungen schlicht und einfach unterschätzt. Die Ereignisse der letzten Monate haben die Erwartung einer „Zerbrechlichkeit“ der Moskau-Peking-Beziehungen widerlegt. Vielmehr haben diese Ereignisse die strategische Vision der beiden Seiten nur noch untermauert und die Bereitschaft unterstrichen, sich gegenseitig in der Lösung der schwierigen außenpolitischen Probleme zu unterstützen.

Bereits Mitte März 2022 war sich Washington der ganzen Aussichtslosigkeit bewusst, China auf die Seite der USA zu ziehen und dazu zu bewegen, eine weniger prorussische Position im Ukrainekonflikt anzunehmen. Als Folge dieser Einsicht ging Washington zur Konterattacke auf den anderen für China wichtigen Politikfeldern mit Schwerpunkt Taiwan über.

Die diplomatischen Aktivitäten Moskaus und Pekings auf der Weltbühne haben – resümieren die Autoren am Ende ihrer Diskussion – gezeigt, dass die russisch-chinesischen Beziehungen ein solch hohes Entwicklungsniveau erreicht haben, welches es nie in der Geschichte der beiden Staaten gegeben habe. Der Grund für ein solch enges Zusammenwirken zwischen Moskau und Peking sei nicht – unterstreichen sie – der russisch-ukrainische Konflikt, sondern ein natürlicher Zustand der langwierigen strategischen Partnerschaft.

Die stabilisierende Rolle der chinesisch-russischen Beziehungen sei wichtig für die internationalen Institute neuen Typus wie ŠOS und BRICS. Ungeachtet des präzedenzlosen ökonomischen und militärisch-politischen Drucks seitens des Westens und insbesondere der USA auf Russland funktionieren diese Institute in einem normalen Geschäftsmodus und gewährleisten die Realisierung verschiedener Interessen der beteiligten Staaten. Russland und China bauen schon heute – schließen die Autoren pathetisch ihre Debatte ab – die Grundlagen einer künftigen Weltordnung ohne die Hegemonie einer kleinen Gruppe von Staaten auf.

Der vom Westen ausgelöste Wirtschaftskrieg gegen Russland fange erst richtig an. Umso wertvoller sei deswegen die Festigung der Beziehungen zwischen China und Russland, die erfolgreich die erste Periode des Kampfes um den Aufbau einer gerechteren Weltordnung abgeschlossen habe. Die Grundlage für diese gerechtere Weltordnung wurde mit dem historischen Treffen der beiden Führer am 4. Februar 2022 gelegt.

Das größte Manko der vorgelegten Studie über die „Strategische Partnerschaft zwischen Russland und China unter den Bedingungen der europäischen Krise“ ist aber, dass sie allein von Politikwissenschaftlerinnen und nicht auch von Nationalökonomen konzipiert wurde, wodurch die national – und vor allem geoökonomische Tragweite dieser „strategischen Partnerschaft“ außer Acht gelassen wurde. Aber gerade darin besteht die Hauptschwierigkeit dieser „Partnerschaft“. Mit Recht wies der US-amerikanische Ökonom Kenneth Rogoff unlängst in einem Handelsblatt-Interview (9./11.10.2022, S. 9) darauf hin, dass China „von den großen Märkten des Westens“ abhängig sei und „nach wie vor Interesse an globaler Kooperation“ habe.

Und Rogoff fügte weiter hinzu: „Das Land hat riesige Probleme: die schädliche Machtkonzentration, die völlig unterschätzten Probleme auf dem Immobilienmarkt. Das Wachstumsraten werden dramatisch zurückgehen in dieser Dekade – selbst wenn Peking am Ende doch zur Korrektur seines Corona-Missmanagements in der Lage sein sollte. Wird China auf absehbare Zeit nicht mit Covid fertig, so wird es in eine Rezession abgleiten. Dann steuern wir auf die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ und – man möchte hinzufügen – auf die größte Krise der bestehenden US-amerikanischen Hegemonialordnung mit unabsehbaren Folgen zu.

6. Die Rückkehr der Geschichte?

In ihrer Studie „Vorwärts in die Vergangenheit? Die Rückkehr der Geschichte“ sind Igor Istomin, Nikita Nekljudov und Andrej Sušencov der Meinung, dass alle Hoffnungen auf den Aufbau der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur und die Kooperation zur Lösung von Konflikten mit den Nato-Staaten endgültig der Vergangenheit angehören.18 Die Autoren stellen stattdessen eine harte Rhetorik, ein breites Arsenal der Mittel zur Schwächung des Rivalen und die gesteigerten militärischen Aktivitäten in der unmittelbaren Nähe zu russischen Grenzen fest.

Diese westliche Politik weise ihrer Analyse zufolge vor dem Hintergrund des Konflikts in der Ukraine auf die „Renaissance der Praxis der indirekten Konflikte“ (о возрождении практики опосредованных конфликтов) hin, die mit überschaubaren Mitteln und – wenn möglich – mit fremder Hilfe („чужими руками“) dem Rivalen eine strategische Niederlage zuzufügen anstrebe. Es finde eine Wiederherstellung der Stereotypen des Blockdenkens statt, wachse die gegenseitige Entfremdung und die Eindämmungspolitik befinde sich erneut auf dem Vormarsch. Gleichzeitig seien Probleme mit der Beherrschung des Instrumentariums der Krisenbewältigung zu beobachten, die offenkündig den Verlust der geübten Praxis der vergangenen Zeiten widerspiegele.

Zu Zeiten des „Kalten Krieges“ waren sich die beiden Parteien der Gefahren einer solchen Konfrontation und der Risiken einer unbeabsichtigten Eskalation bewusst. Die dramatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wirkten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch nach. Die folgenden Krisen hatten bei den sowjetischen und westlichen Machteliten zumindest das Verständnis dafür entwickelt, dass kein Endergebnis eines militärischen Konflikts zwischen den beiden Supermächten die zu entstehenden Verluste rechtfertigen und jeder Sieg sich als Pyrrhussieg erweisen könnte.

Diesem Befund kann man nur uneingeschränkt zustimmen und den US-amerikanischen Schriftsteller John Harvey Wheeler (1918-2004) in Erinnerung rufen, der über einen möglichen Ausgang des „Kalten Krieges“ einst schrieb: „Wenn einer siegt, sind beide am Ende.“19

Nach dem Zerfall der bipolaren Weltordnung ereignete sich nach Meinung der Autoren „eine axiologische Konterrevolution auf dem Gebiet der militärisch-politischen Eindämmungspolitik (После распада биполярной системы произошла контрреволюция ценностей военно-политической сдержанности). Den populistischen Gesten zuliebe neigt der Westen (heute) dazu, eine strategische Verantwortungslosigkeit und Frivolität zu demonstrieren.“ Der Westen begann nur allmählich und nur infolge der zunehmenden Eskalation Anfang der 2020er-Jahre die Gefahr einer möglichen Fehlkalkulation zu verstehen.

Die bipolare Weltordnung der Nachkriegszeit habe eine inoffizielle Doktrin der Nichteinmischung in die Angelegenheiten des gegnerischen Blocks etabliert. Die Situation habe sich allerdings mit dem Untergang der bipolaren Weltordnung dramatisch geändert. Heute beschuldigen sich alle Seiten stets des Revisionismus und die bestehenden Spielregeln befriedigen keine Seite der geopolitischen Barrikade mehr. Die aktuelle Krise zwischen Russland und dem Westen offenbart im Grunde „eine quasibipolare Natur der europäischen Sicherheitsordnung (квазиблоковую природу европейского порядка).“

Diese Analyse ist insofern bemerkenswert, als sie einerseits mit der mutmaßlichen Reanimierung des „Kalten Krieges“ „die Rückkehr der Geschichte“ diagnostiziert. Sie übersieht aber andererseits, dass der „Kalte Krieg“ de facto nie zu Ende war. Er nahm lediglich andere Formen ein. Nicht der „Kalte Krieg“ ist zurückgekehrt, sondern eine bipolare Konfrontation in einer ganz anderen Gestalt infolge der geopolitischen Machtverschiebung im globalen Raum.

Anfang der 1990er-Jahre wurde mit dem Zerfall des Sowjetblocks und der Auflösung des Warschauer Paktes die bipolare Ordnung des Ost-West-Konflikts und nicht der „Kalte Krieg“ als solcher zerstört. Die daraufhin eingesetzte Tauwetter-Periode der 1990er-Jahre, die im Übrigen im Verlauf der Blockkonfrontation immer wieder zu beobachten war, verstellte den Blick auf eine andersartige Fortführung des „Kalten Krieges“ mit anderen, nämlich geoökonomischen Mitteln.20

Die unter der Leitung von Paul D. Wolfowitz bereits 1992 zustande gekommene der Zeitung zugespielte und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte US-amerikanische Geostrategie für die Zeit nach dem Ost-West-Konflikt sprach zumindest nicht für die Überwindung der geopolitischen (nicht ideologischen) Rivalität des „Kalten Krieges“. Die konzipierte Präventivstrategie der nunmehr zum weltweiten Hegemonen aufgestiegenen Supermacht setzte zum Ziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“21

Wolfowitz‹ Ideen von 1992 über politische und militärische Prävention blieben zwar noch in der Schublade, da „ihre Zeit“ noch nicht gekommen und Wolfowitz nach Auffassung seines neokonservativen Mitstreiters William Kristol seiner Zeit voraus war. Kristol sah aber bereits 2003 Wolfowitz „durch die Geschichte bestätigt“. Denn die entscheidenden Ideen waren „inzwischen in die offizielle Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) der Bush-Administration vom 17. September 2002 eingegangen“.22

Ins gleiche Horn blies auch der US-amerikanische Karrierediplomat Steven R. Mann in seinem ebenfalls 1992 veröffentlichten Aufsatz „Chaos-Theory and Strategic Thought“. Die in dieser „Theorie“ formulierten Grundgedanken besagten, dass die USA „gezielt komplexe gesellschaftliche Dynamiken steuern (sollen), um Gesellschaften in chaotische Phasen hineinzutreiben. In solch chaotischen Phasen ist die Gesellschaft zum Vorteil der USA formbar. … Um die Konfliktenergie in einer Gesellschaft im Sinne der nationalen Sicherheitsinteressen der USA zu manipulieren, soll die ideologische Software einer Gesellschaft verändert werden, so wie es Hacker im Internet tun. … Der ideologische Virus, den die USA verbreiten sollten, besteht aus eben jenen Ideen, die die US-Ideologie ausmachen. Ideologie ist nur ein anderer Name für einen menschlichen Software-Virus. Mit diesem ideologischen Virus als Waffe sollten die USA in den – im übertragenen Sinne gesprochen – ultimativen biologischen Krieg ziehen. Die USA sollten in dieser biologischen Kriegsführung Zielbevölkerungen mit den ideologischen Konzepten des demokratischen Pluralismus und der Achtung der individuellen Menschenrechte infizieren. … Auf diese Weise sollten die USA versuchen, eine Weltordnung zu errichten, die für sie auf lange Dauer gesehen vorteilhaft ist.“23

Heute sind Ideen von Wolfowitz und Mann eine brutale geopolitische Realität. Mehr noch: Die Zurückdrängung der Russländischen Föderation tief in den Osten und die gleichzeitige Eingliederung der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten in die Nato-Allianz seit der zweiten Hälfte der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre, um auch den möglichen Konflikten mit dem alten geopolitischen Rivalen vorzubeugen, waren deutliche, von Russland zunächst nicht wahrgenommene Zeichen des fortgeführten „Kalten Krieges“. Die dann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zunehmenden Spannungen zwischen Russland, den USA und der Nato-Allianz wurden zunächst nur mit Ach und Krach unter den Teppich gekehrt, bis sie endlich mit der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation kaum mehr zu verbergen waren.

Mit Chinas Aufstieg zur geoökonomischen Supermacht bekommt nun der immer schon anwesende „Kalte Krieg“ lediglich seine neue bipolare Prägung. An Stelle der Blockkonfrontation des Ost-West-Konflikts wird immer deutlicher eine Herausbildung der zwei gigantischen Machtblöcke China/Russland versus den alten Westen zusammen mit den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten.

Zurückgekehrt ist also allein eine andersartige bipolare Konfrontation, aber weder die bipolare Weltordnung noch der „Kalte Krieg“. Der letztere war auch nie weg.

Anmerkungen

1. Караганов С.А. От не-Запада к Мировому большинству. In: Россия в глобальной политике. 1. September 2022.
2. Лукьянов, Ф., ПОЧЕМУ ЗАПАДУ НЕ УДАЕТСЯ ВОВЛЕЧЬ ОСТАЛЬНОЙ МИР B ПРОТИВОСТОЯНИЕ С РОССИЕЙ. Реакция большинства на планете иллюстрирует раздражение Западом в целом. In: Россия в глобальной политике. 2. Juli 2022.
3. Лукьянов, Ф., Старое мышление для нашей страны и всего мира. In: Россия в глобальной политик, 1. April 2022.
4. Link, W., Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen, in: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1999.
5. Vgl. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Siehe Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands Geopolitik. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. 23. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021; siehe die Besprechung des Buches bei Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
9. Караганов (wie Anm. 1).
10. Караганов, С., Холодная война: прогноз на завтра, в: Российская газета, 7405 (239), 22.10.2017.
11. Караганов (wie Anm. 10).
12. Тренин (wie Anm. 8).
13. Тренин, Д., Понять Украину, Россия в глобальной политике, 30.10.2017.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017.
15. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
16. Тренин, Д., Россия и мир в XXI. веке. Москва 2015, 94.
17. Стратегическое партнёрство России и Китая в условиях европейского кризиса. Доклад Международного дискуссионного клуба „Валдай“. Сентябрь 2022.
18. Истомин И.А./Неклюдов Н.Я./Сушенцов А.А. Вперёд в прошлое? Возвращение истории, in: Россия в глобальной политике. 1. September 2022.
19. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1987, 7.
20. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
21. Kubbig, B. W., Wolfowitz’ Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines »demokratischen Realisten«. HSFK 7 (2004).
22. Kubbig (wie Anm. 21), 19.
23. Bargatzky, T., Der große Wahn. Der neue Kalte Krieg und die Illusionen des Westens. Baden-Baden 2020, 102 f.

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