Verlag OntoPrax Berlin

Ist die Ukraine ein Failed State?

Eine verfassungshistorische und geopolitische Betrachtung

Übersicht

1. Der Kampf um die Ukraine
2. Zwischen Sein und Schein
3. Am Abgrund?

Anmerkungen

„Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein,
aber Amerikas Freund zu sein, ist tödlich.“
(Henry Kissinger)

1. Der Kampf um die Ukraine

Leben wir in einer Vorkriegszeit? Die Frage mag überraschen. Befindet sich Europa nicht schon längst in einem Krieg? Im Ukrainekrieg? „Nur“ im Ukrainekrieg! Dieser Krieg kann sich ohne Vorwarnung und sehr schnell ausweiten, sollte die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen wegen der Ukraine an Schärfe gewinnen und eskalierend ununterbrochen weitergehen.

Der Kolumnist bei Foreign Policy und Professor f. intern. Beziehungen an der Harvard University Stephen M. Walt schreibt in einem Artikel „Why Do People Hate Realism So Much?“ am 13. Juni 2022: „Die Realisten unterschiedlicher Richtungen warnten immer wieder, dass die westliche Russland- und Ukrainepolitik zu ernsthaften Verwerfungen führen kann. Die Warnungen wurden leichtfertig von jenen ignoriert, die behaupteten, dass die Open-Door-Politik der Nato einen dauerhaften Frieden in Europa sichert“ (Realists of various stripes repeatedly warned that Western policy toward Russia and Ukraine would lead to serious trouble, warnings that were blithely ignored by those who claimed that NATO’s open-door policy would lead to lasting peace in Europe).

„Jetzt aber“ – schreibt Walt weiter -, „als der Krieg ausgebrochen ist, Menschen ihr Leben verlieren und die Ukraine zerstört wird, hätte man denken können, dass sich die Befürworter dieser Nato-Politik von ihren idealistic illusions befreiten und anfingen, an die Lösung dieser Probleme ernsthaft und realistisch zu denken“ (Now that war has broken out, lives are being lost, and Ukraine is being destroyed, you would think proponents of open-ended NATO enlargement would have set aside their idealistic illusions and think about these issues in a hard-nosed, realist fashion).

Weit gefehlt! Genau das Gegenteil geschah. Die Befürworter der Nato-Expansion beharren auf die Fortsetzung des Krieges bis zur vollständigen Niederlage Russlands (… insisting that the war continue until Russia is totally defeated and greatly weakened). Den Grund erblickt Stephen Walt darin, dass der Realismus in den USA unpopulär ist, „because it runs counter to the widespread belief in American exceptionalism“. Dieser amerikanische Exzeptionalismus sei im Besitz von „uniquely moral“ und agiere immer „for the greater good of humanity“.

Nun ja, aus der Sicht des Vertreters der Denkschule des US-amerikanischen Realismus in der Außenpolitik mag diese Betrachtung zutreffend sein. Auch die Hinterfragung des „American exceptionalism“ oder die Verurteilung der „Open-Door-Politik der Nato“, die statt der Sicherung eines „dauerhaften Friedens in Europa“ den Kriegsausbruch in der Ukraine nicht abwenden konnte, ist beachtenswert. Die Probleme der westlichen Russland- und Ukrainepolitik liegen jedoch woanders und viel tiefer, als Walt sie allein mit „uniquely moral“ und der Nato-Expansion zu erklären vermag.

Die sich seit 24. August 1991 von der Sowjetunion abgespaltene und unabhängig gewordene Ukraine machte in den vergangenen einunddreißig Jahren eine Entwicklung durch, die erstens mit einer allmählichen und zunehmend extrem werdenden innenpolitischen Polarisierung einherging, verschärft im Laufe der Zeit zweitens durch wirtschaftspolitische Stagnation, wenn nicht gar Regression, um drittens in den letzten acht Jahren infolge der sog. „Maidan-Revolution“ mit wachsender Tendenz vom Westen, vor allem von den Angelsachsen, geopolitisch und geoökonomisch domestiziert zu werden. Diese Entwicklung begründete Abhängigkeiten, die nicht nur den außenpolitischen Handlungsspielraum der Ukraine einschränkte, sondern auch den Weg zu einer Art Selbstkolonisierung freilegte.

Man kann darum in Ergänzung zur äußeren Abhängigkeit auch von einer inneren Aushöhlung der ukrainischen Staatlichkeit sprechen, die darin bestand, dass die gewonnene völkerrechtliche Souveränität der Ukraine weniger zum Auf- und Ausbau der inneren auf das Wohl des Landes ausgerichteten staatlichen Strukturen verwendet, als vielmehr zur Verdrängung der überkommenen Macht- und Funktionseliten der Sowjetzeit benutzt wurde. Diese Verdrängung führte wiederum zur Substituierung der überkommenen Machtstrukturen durch die ethnonationalen und seit 2014 dem Westen zunehmend willfährigen ukrainischen Machteliten. Die neuen Machtstrukturen agierten primär und zuallererst zum Wohle der eigennützigen Macht- und Wirtschaftsinteressen und in Übereinstimmung mit den westlichen, vor allem US-amerikanischen Machtstrukturen zu Lasten und auf Kosten des Wohlergehens des Landes.

Statt die wohlverstandenen Eigeninteressen des ukrainischen Staates zu vertreten, zeichnete sich die neuentstandene ethnonationale ukrainische Macht- und Funktionselite dadurch aus, dass sie das Land in den vergangenen acht Jahren nicht nur eigennützig und gemeinsam mit den sie domestizierenden westlichen politischen und ökonomischen Nutznießern „bewirtschafteten“, sondern es auch und ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung ausplünderten.

Ein derartiger ukrainischer Staatswerdungsprozess führte letztlich dazu, dass die rücksichtslose ökonomische und politische Ausplünderung des ukrainischen Staates, die nicht nur von der ukrainischen Oligarchie, sondern eben auch von den westlichen Machtstrukturen erfolgte, eine Deindustrialisierung, zunehmende Verarmung der Bevölkerung, wachsende ökonomische Rückständigkeit und Unterentwicklung mit sich brachte. Die seit 2014 immer größer werdende Domestizierung der Ukraine von außen führte aber gleichzeitig zu einer inneren Aushöhlung der ukrainischen Souveränität durch die einheimischen Machteliten, die sich im Grunde wie eine fremde Besatzungsmacht im eigenen Land verhielten, indem sie sich selbst frei- und mutwillig kolonisieren ließen. Man könnte sie in Abwandlung der marxistischen Terminologie auch als Kompradorenelite bezeichnen.

Der eigenen inneren Souveränität entkleidet, wurde die Ukraine dadurch vom Subjekt zum Objekt der westlichen bzw. US-amerikanischen Macht- und Wirtschaftsstrukturen dergestalt, dass sich die territoriale Souveränität „in einen leeren Raum“ (Carl Schmitt) verwandelte, um von außen sozio-ökonomisch umformatiert und geopolitisch auf Linie gebracht zu werden. Es fand und findet immer noch eine innerstaatliche Aushöhlung der ukrainischen Souveränität statt.

Mit dem Phänomen einer solchen inneren Souveränitätsaushöhlung hat Carl Schmitt sich in den zahlreichen Schriften immer wieder auseinandergesetzt und es vor allem in seinem „Nomos der Erde“ (1950) eindrucksvoll beschrieben: „Der äußerliche territoriale Gebietsbestand mit seinen linearen Grenzen wird garantiert, nicht aber der soziale und wirtschaftliche Inhalt der territorialen Integrität, ihre Substanz. Der Raum der ökonomischen Macht bestimmt den völkerrechtlichen Bereich. Ein Staat, dessen Handlungsfreiheit in solcher Weise Interventionsrechten unterliegt, ist etwas anderes als ein Staat, dessen territoriale Souveränität darin besteht, kraft eigener souveräner Dezision über die konkrete Verwirklichung von Begriffen wie Unabhängigkeit, öffentliche Ordnung, Legalität und Legitimität oder gar über seine Eigentums- und Wirtschaftsverfassung frei zu entscheiden und den Grundsatz cujus regio ejus economia zu realisieren.“1

Die Folgen dieser inneren Aushöhlung der ukrainischen Souveränität bedeutete, dass zwar der „äußere, entleerte Raum der territorialen Souveränität“ unangetastet blieb, „der sachliche Inhalt dieser Souveränität“ aber sozio-ökonomisch und geopolitisch „durch Sicherungen des ökonomischen Großraums der kontrollierenden Macht“ radikal verändert wurde.2

Anders als uns die Massenmedien weißmachen wollen, hat die westliche bzw. US-amerikanische politische, ideologische und ökonomische Domestizierung die Ukraine nicht wohlhabender, souveräner, unabhängiger und demokratischer, sondern ganz im Gegenteil ökonomisch, politisch, finanziell und auch militärisch vom Westen noch abhängiger gemacht. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich diese Entwicklung einerseits beschleunigt, andererseits aber einen schweren Rückschlag erlitten. Denn Russland sucht nunmehr die vom US-Hegemon in den vergangenen acht Jahren bestimmten geo- und sicherheitspolitischen Spielregeln auf dem ukrainischen Boden gewaltsam zu verändern.

Die noch kurz zuvor geglaubte sichere Inbesitznahme der Ukraine durch den Westen scheint nun mit der russischen Invasion ein abruptes Ende gefunden zu haben.

2. Zwischen Sein und Schein

Betrachtet man die vergangenen dreißig Jahre der ukrainischen Staatswerdung aus geopolitischer, rechts- und verfassungshistorischer Perspektive, so war der Versuch, die Ukraine in das westliche Lage überzuziehen, aus der Perspektive des liberalen Verfassungsstaates von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Ukraine ist mit ihrem dreißigjährigen Versuch, sich von Moskau geopolitisch abzukoppeln und nach Westen zu orientieren, zwar ebenso erfolgreich gewesen, wie das seit dem Jahr 2014 unternommene Experiment, das Geschäftsmodell „Anti-Russland“ zu etablieren. Die geopolitische und ideologische Abwendung von Russland bedeutete aber noch lange nicht die liberale „Andockung“ an den Westen: Die Ukraine ist weder rechts- und verfassungsstaatlich noch marktwirtschaftlich, weder mental noch rechtlich ein westeuropäisches Land geworden.

Ganz im Gegenteil: In der Ukraine hat sich nach der sog. „Maidan-Revolution“ nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat als vielmehr dessen Fassade etabliert. Diese Fassade verschleierte und verschleiert bis heute ein jeglicher liberalen Verfassungssubstanz entleertes Machtgebilde, das die liberale Verfassungsrhetorik nach außen zwar zur Schau stellt, nach innen aber weder in der Lage noch gewillt ist, ihr Folge zu leisten. Diese bloße Imitation ging zum einen mit dem Verlust der eigenen kulturellen Identität einher, ohne dass sich die liberalen Verfassungsgrundsätze etablieren konnten, und wirkte sich zum anderen destruktiv auf die traditionellen Lebensstrukturen aus, nachdem sie die eigene historisch-gewachsene Tradition für disponibel erklärt hat.

Auch die ukrainischen Träume davon, dass die „Maidan-Revolution“ zum westlichen Wohlstand und Lebensstandard führen werde, lösten sich in Luft auf: Zum einen ist die vom Westen erhoffte Dividende als Gegenleistung für den „heldenhaften“ Kampf gegen „die russische Aggression“ (seit 2014) ausgeblieben. Zum anderen ist auch der ukrainische Wunsch nicht in Erfüllung gegangen, in die EU aufgenommen und wie die anderen EU-Osteuropäer alimentiert zu werden. Zum dritten blieb die oligarchische Macht- und Wirtschaftsstruktur unverändert bestehen, auch wenn die ukrainische Machtelite sich einer liberal-demokratischen Rhetorik befleißigte.

Dieses innen- und außenpolitische Gewirr, das darüber hinaus noch von feindselig gewordenen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine begleitet wurde, erzeugte die russisch-ukrainischen Missverständnisse und verstellte zudem den Blick auf eine komplexe und komplizierte Dreierbeziehung zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen: Weil die ukrainischen Machteliten eine prowestliche und antirussische Außenpolitik betrieben haben, glaubten sie ein westeuropäisches Land geworden zu sein, obschon sie sich tagtäglich von der westlichen Rechts- und Verfassungskultur immer weiter entfernten.

Von seinem Rechts- und Verfassungsverständnis hergesehen, ähnelt das heutige ukrainische Machtkonstrukt eher dem Sowjetstaat in Miniaturformat als einem westlichen Rechts- und Verfassungsstaat, dessen ideologisches Gerüst nicht mehr die Sowjetideologie, sondern ein brachialer ukrainischer Ethnonationalismus ist.

Im Glauben, die Ukraine geopolitisch an den Westen endgültig verloren zu haben, verkannte die russische Führungs- und Machtelite ihrerseits, wie sehr die Ukraine der russischen Rechts- und Herrschaftstradition verhaftet ist, und merkte zudem nicht, wie sehr sich Russland selber trotz seiner vermeintlich endgültigen außenpolitischen Abwendung vom Westen dem westlichen Rechts- und Verfassungsverständnis mittlerweile viel stärker als die Ukraine angenähert hat.

Da der Westen seinerseits aus eigenem geopolitisch motiviertem Opportunismus die antiliberalen Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik konsequent ausgeblendet bzw. toleriert, gleichzeitig aber diese Tendenzen in der russischen Innenpolitik umso mehr beklagt hat, entstand bei den antirussisch gesinnten ukrainischen Führungs- und Machteliten das Gefühl der Narrenfreiheit, wodurch sie noch unberechenbarer und unverfrorener wurden und erst recht die Entwicklung der Ukraine zu einem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat ausbremsten, wohingegen Russland die Vorwürfe über die mangelhaften Menschenrechte seitens des Westens stets als geopolitisch motiviert konsequent zurückgewiesen hat und zugleich auf Distanz zur Ukraine gegangen ist.

Der Westen steht heute mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine vor einem Scherbenhaufen sowohl seiner Ukraine- als auch seiner Russlandpolitik. Die geopolitisch motivierte Ignorierung der Illiberalität in der ukrainischen Verfassungswirklichkeit verschärfte nur noch die antiliberalen Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik und die harsche oberlehrerhafte westliche Kritik an die Adresse Russlands führte nur noch zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, ohne dabei irgendetwas erreichen zu können.

Die Ukraine stand bereits vor dem Kriegsausbruch ebenfalls vor einem Scherbenhaufen ihrer Russlandpolitik, ohne dabei von der prowestlichen Außen- und Geopolitik sonderlich profitiert zu haben, wohingegen die russische Ukrainepolitik dazu verdammt war, an der Seitenlinie zu stehen und bis zum 24. Februar 2022 vermeintlich „schicksalsergeben“ von besseren Zeiten zu träumen. Die beiden „Brüdervölker“ blieben und bleiben heute erst recht bis auf Weiteres verfeindet. Der geopolitische Profiteur dieser Entwicklung war und ist (noch) zweifelsohne der Westen, dem es gelungen ist, einen Spaltpilz zwischen die beiden ostslawischen Völker zu treiben.

Nun werden die geopolitischen Karten seit dem Kriegsausbruch neu gemischt. Wer Verlierer oder Gewinner dieser nie enden wollenden geopolitischen Konfrontation sein wird, hängt heute allein von dem Ausgang des Krieges ab. Nun eins ist gewiss: Die Zukunft der ukrainischen Souveränität bleibt so oder so auf der Strecke.

3. Am Abgrund?

Der Versuch der Ukraine, nach der Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit bzw. nach der Loslösung vom Sowjetreich den eigenen ethnischen Nationalstaat im multikulturellen Umfeld und gleichzeitig einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat aufzubauen, musste kraft des Fehlens jedweder national- und rechtsstaatlichen Tradition zwangsläufig zu einer dysfunktionalen Entwicklung der politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Formationen führen. Hinzu kamen die geopolitisch motivierten Einwirkungen, welche die ukrainische Verfassungswirklichkeit zusätzlich verkomplizierten.

Dieses gleichzeitige, sich selbst ausschließende Zusammenwirken von einem Ethnonationalismus, der überkommenen Herrschaftstradition, multikulturellen Gesellschaftsstrukturen und der ungebrochenen geopolitischen Konfrontation der Großmächte hat den Aufbau der rechts- und verfassungsstaatlichen Strukturen erschwert und eine macht-, sozial- und wirtschaftspolitische Verfassungswirklichkeit entstehen lassen, deren dysfunktionaler Charakter eine rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung praktisch verunmöglichte.

Als Folge dieser Dysfunktionalität entstand eine Symbiose von der dem Westen entlehnten liberal-demokratischen Ideenwelt, dem ethnisch gefärbten Nationalstaatsbewusstsein und der tatsächlich gelebten, aber von den ukrainischen Führungs- und Machteliten unreflektierten russischen bzw. sowjetischen Herrschafts- und Verfassungstradition.

Kein geringerer als Bismarck sah klar und deutlich die Gefahren einer nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung, die zwischen liberal-demokratischen Ideen und Ethnonationalismus schwankte. Im Bann dieser Entwicklung befand er sich „im Zwiespalt zwischen einer älteren Ordnungsidee, in der das Nationale noch gebändigt erschien, und dem durch den Nationalliberalismus geprägten Nationalstaat, der das Nationale zugleich beschränkte und entfesselte.“3

Diese Janusköpfigkeit der Moderne, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte, war schon in der Revolution von 1848 zu beobachten. Bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze4 in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“ Diese moderne aneinander gekoppelte Nationsbildung und Verfassungsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins bis zum brachialen Ethnonationalismus, Chauvinismus, Rassismus usw. einher.

Im Unterschied zu der westeuropäischen Verfassungsentwicklung, in der das individuelle Bekenntnis zur grande nation die Nation als politische Willensgemeinschaft konstituierte, war in Mittel- und Osteuropa „die Nationszugehörigkeit dem Belieben des Individuums weitgehend entzogen. Sie war durch objektive Faktoren wie blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung bedingt. Einem voluntaristischen stand mithin ein deterministischer Begriff der Nation gegenüber“5. Genau diese Entwicklung hat die Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit durchgemacht.

Mehr noch: Vor dem Hintergrund der geopolitisch motivierten, verfassungsideologischen Expansionspolitik des Westens bzw. des US-Hegemonen im postsowjetischen Raum und insbesondere in der Ukraine ist festzustellen, dass die westliche Verfassungsoffensive auf einen unüberwindbaren Granit des deterministischen Nationalstaatsbewusstseins gestoßen ist und dadurch einen grandiosen Schiffbruch erlitten hat. Sie musste auch deswegen auf der ganzen Linie scheitern, weil das erwachte Nationalbewusstsein darüber hinaus noch von der fehlenden neuzeitlichen Rechts- und Verfassungstradition begleitet wurde.

Die verfassungsideologische Oktroyierungspolitik des Westens hinterließ sodann nur noch einen ukrainischen „Abklatsch der westlichen Demokratie“ (George F. Kennan), anstatt eine liberal-demokratische Erneuerung des Landes in Gang setzen zu können. Der Übergang zu einem liberalen Verfassungsstaat ist aber „gerade dadurch bestimmt, dass das Territorialprinzip im Ganzen durch das des Personenverbandes ersetzt wird“ und dass dieser „Austausch von Prinzipien den modernen Staat (erst) konstituiert.“6 Ein liberaler Verfassungsstaat ist nämlich nicht „eine Habe“ (Kant), ein Territorium, auf dem Menschen „als bloße Anhängsel des Bodens zu behandeln (sind), die mit diesem erworben oder veräußert werden können“7. Genau dieses liberale Verständnis von einem modernen Rechts- und Verfassungsstaat fehlt aber vollständig in der Ukraine.

Der Wandel vom totalitären Einheitsstaat zu einem liberal-demokratisch verfassten Nationalstaat schlug in der Ukraine allein schon deswegen fehl, weil die abgespaltete Sowjetrepublik sich primär als Territorial- und nicht als Personenverband definierte.

Das Kernproblem dieses vom Sowjetimperium abgespaltenen Territoriums ist der Umstand, dass das neu entstandene Machtgebilde namens Ukraine nach wie vor einerseits den Traditionsbeständen wie Abstammung und Schicksalsgemeinschaft und andererseits der russischen Herrschaftstradition verhaftet ist und darum per definitionem zu einer Entgrenzung ihres nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins weder fähig noch willig ist. Der westlichen Verfassungsideologie steht eben diese traditionsbedingte und ethnisch gefärbte Entgrenzungsunwilligkeit des ukrainischen Nationalismus entgegen. Sie kann ihn darum weder überwinden noch brechen.

Indem alle tradierten Inhalte einer verfassungspolitischen Integration des vormodernen Europas durch das neuzeitliche Legitimationsprinzip aufgerieben wurden und an ihre Stelle Verfahren traten, in denen über Inhalte unter Beteiligung der Staatsbürger erst entschieden wird, bezeichneten die nationalstaatlichen Grenzen nichts anderes als die Geltungsgrenzen dieses neuen Legitimationsprinzips und der auf dessen Grundlage zustande gekommenen Verfassungsordnung. „Grenzen dieser Art sind aber von vornherein auf Grenzüberschreitungen hin angelegt“8, was dem ukrainischen Nationalismus zuwider ist.

Allein die prowestliche und antirussische Geopolitik der Ukraine verschleiert diese antiliberale, antidemokratische und darum an und für sich antiwestliche Verfassungsgesinnung der ukrainischen Führungs- und Machteliten. Der immer wieder stattfindende Versuch einer Sprengung dieses ethnisch gefärbten, antiliberalen Identitäts- bzw. Nationalbewusstseins mittels des grenzüberschreitenden liberalen Legitimationsprinzips der Neuzeit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Da aber das ukrainische Identitätsbewusstsein raumgebunden, nicht entgrenzend und darum gegenüber dem Entgrenzungszwang der westlichen liberalen Verfassungsideologie immun ist, hat sich in der Ukraine nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat etabliert, als vielmehr dessen Fassade.

Die neben dem ukrainischen Nationalismus gleichzeitig existierenden, auf die russische Herrschaftstradition zurückgehenden, historisch-gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen lassen sich zudem trotz einer prowestlichen Geopolitik der Ukraine weder transformieren noch reformieren, sondern nur camouflieren, da diese kraft ihrer Eigengesetzlichkeit bestehen können und genügend Abwehrkräfte besitzen, um sich unbeschadet der geopolitischen Orientierung zu behaupten.

Der Einwurf des ukrainischen Politikwissenschaftlers Michail Pogrebinskij, man möge vielleicht über eine „Regime-Transformation in der Ukraine“ nachdenken, läuft darum ins Leere, weil er das eigentliche Dilemma der Ukraine verkennt. Nicht die Systemtransformation ist das eigentliche Problem der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, sondern eine unauflösbare Symbiose von einer prowestlich orientierten Geopolitik und der prorussischen Herrschaftstradition. Das Problem ist nicht entweder – oder, sondern sowohl – als auch.

Dieser unauflösbare Knäuel des ukrainischen verfassungs- und geopolitischen Gewirres zu entwirren, ist unmöglich, solange die beiden sich selbst ausschließenden Entitäten ineinander verknäuelt und miteinander unentwirrbar verknotet sind. Die Ukraine wird dadurch innenpolitisch zerrieben und außenpolitisch unberechenbar. Mit dem Kriegsausbruch ist der Staatswerdungsprozess der Ukraine zum Stehen gekommen und es besteht Gefahr, dass dieser Prozess rückabgewickelt wird.

Anmerkungen

1. Schmitt, C., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950, 226.
2. Schmitt (wie Anm. 1), 225.
3. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
4. Conze (wie Anm. 3).
5. Winkler, H. A., Der Nationalismus und seine Funktion, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1979, 52-80 (54).
6. Maus, I., Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder der Verlust der Demokratie, in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 375-406 (378).
7. Maus (wie Anm. 6), 379.
8. Maus (wie Anm. 7).

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