Kein Schreckgespenst mehr?
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht,
was sie tun.“
(Lukas 23,34)
„Wir müssen alles tun“ – sagte Bundeskanzler Scholz in einem Spiegel-Interview vom 22. April 2022 -, „um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der NATO und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden.“ Und er fügte sogleich hinzu: „Es darf keinen Atomkrieg geben.“ Ist diese Äußerung nicht mehr als das Pfeifen im Walde? Sind wir nicht längst eine Kriegspartei, auch wenn allerseits das (noch) entschieden bestritten wird? Liefern wir nicht längst und offen massenhaft Waffen an eine der Kriegsparteien? Forderte derselbe Kanzler nicht kurz zuvor: Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen? Und wird die Ausbildung ukrainischen Militärs an schweren Waffen in verschiedenen NATO-Ländern (auch auf deutschem Hoheitsgebiet) nicht nur geplant, sondern auch längst durchgeführt?
Laut Ankündigung von Generalleutnant Kai Rohschneider (Abteilungsleiter Führung Streitkräfte im Berliner Verteidigungsministerium) soll das Training ukrainischer Soldaten auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr (Bayern) stattfinden. Das Training weiterer ukrainischen Militärs sei in der Artillerieschule der Bundeswehr in Idar-Oberstein geplant.1
Und unsere sog. „Transatlantiker“? Sind sie nicht längst auf Kriegsfuß, um Putin – den „Kriegsverbrecher“ (Friedrich Merz) – zu bestrafen, zumal der größte aller „Transatlantiker“ – der US-Präsident Joe Biden – schon längst vom „Genozid“ spricht? Beschimpft der amtierende Bundesjustizminister Marco Buschmann Putin nicht als einen „Schlächter“, der vor Gericht gestellt werden muss?
Was sagt uns all das? Sollen etwa die zur Schau gestellte Empörung, Diffamierung und Verunglimpfung „einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland“ dazu beitragen, den Frieden wiederherstellen, den Krieg in der Ukraine zu beenden oder gar einen nuklearen Konflikt zu verhindern? Wohl kaum! Seit wann dienen denn Denunziation und Beschimpfung des Staatsüberhaupts einer nuklearen Großmacht als ein wirksames Instrument zur Kriegsverhinderung oder gar zur Vermeidung eines Atomkrieges? Wissen die Herrschaften überhaupt, was sie da tun? Oder hat ein Atomkrieg trotz anderweitigen Beteuerungen des Bundeskanzlers längst seinen Schrecken verloren?
Empörung und Entrüstung waren immer schon Zeichen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, die eine Handlungsfähigkeit lediglich simulierten, aber noch nie eine fehlende Diplomatie und Politik ersetzten. Die Politprominenz überbietet sich geradezu im Schimpfwettbewerb darüber, wer am besten verunglimpft und verdammt, statt den Krieg zu stoppen. Den Krieg werden sie damit weder stoppen noch beenden können.
„Eine solche (Geistes)Haltung“ – mahnte uns einst der US-amerikanische Diplomat Georg W. Ball (1909-1994), der unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson Staatssekretär im US-Außenministerium war, – „ist keine Politik, sondern eine Obsession.“ „So grotesk und übervereinfacht sie ist, so unzeitgemäß, ist sie auch“, fügte er gleich hinzu.2 Und Georg Ball wusste, wovon er redet. „Die Russen“ – meinte er – „sind wiederholt vom Osten her überrannt worden und allein in diesem Jahrhundert zweimal vom Westen überfallen worden. Sie haben eine pathologische Furcht vor Umzingelung. Wenn wir mutwillig versuchen sollten, sie zum rücksichtslosen Handeln zu verleiten, dann können wir am erfolgreichsten sein, wenn wir die atavistische Umklammerungsangst der Russen verstärken und sie an zwei Fronten bedrohen.“3
Aber diejenige, die heute gegen die russische Führung pöbeln, wissen das offenbar nicht. Sie feuern geradezu den russischen Atavismus an und verstärken mit ihren Pöbeleien sogar sehr erfolgreich die Gefahr eines Krieges in ganz Europa.
Weder eine Obsession noch Pöbeleien noch Waffenlieferungen haben jemals einen Krieg verhindert, sondern ganz im Gegenteil nur noch mehr Tot und Zerstörung gebracht. Das sind keine Kriegsverhindere, sondern Kriegsbefürworter. Wenn diese Herrschaften wirklich daran glauben, dass sie mit ein paar Panzern und Haubitzen das Kriegsgeschehen zu Gunsten der Ukraine wenden können oder die Großmacht Russland gar in die Knie zwingen, dann haben sie entweder von den Kriegshandlungen am Ort keine Ahnung oder verfolgen ganz andere, öffentlich nicht genannte Ziele. Sie bewirken dadurch nur noch mehr Leid und Tot in der leidgeprüften Ukraine. Den Krieg werden sie aber mitnichten verhindern, zumal er keine Überraschung war, sodass die westliche Empörung darüber wohlfeil ist.
Dieser Krieg hatte einen langen, sehr langen Vorlauf und schon Carl v. Clausewitz wusste ganz genau, dass kein Krieg ein „ganz isolierter Akt (ist), der urplötzlich entstünde und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhänge.“ Er besteht nicht „aus einer einzigen oder aus einer Reihe gleichzeitigen Entscheidungen.“4 Der Kriegsausbruch bedeutet immer das Versagen der Politik und der Diplomatie und so auch jetzt. Der Ukrainekrieg war ein Versagen der Politik mit Ansage. „Die Politik verschwindet“ – schrieb der französische Kriegstheoretiker Raymond Aron 1962 –, „wenn sie sich die Zerstörung der feindlichen Streitmacht als einziges Ziel setzt.“5
Auch im Kriegsjahr 2022 verschwand die Politik nicht erst am 24. Februar 2022. Die Minsker Vereinbarungen wurden seit Jahren sabotiert – von den US-Amerikanern im Verborgenen boykottiert, von Deutschen und Französen bewusst verschleppt. Die Ukraine selber führte die ganze Zeit nur die Scheinverhandlungen und dachte im Traum nicht daran, die Minsker Vereinbarungen nur annährend zu erfüllen. Die ganze Zeit über befand sie sich im naiven Glauben, ihr könne vor dem Hintergrund der starken Verbündeten aus Übersee und der EU nichts passieren.
Manche russischen Politikwissenschaftler haben schon lange davor gewarnt, dass die Ukraine mit dem Feuer spielt. Und die russische Führung? Putin ließ die Verhandlungen über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen kaltblütig und nur scheinbar teilnahmslos totlaufen. Der ganze Verhandlungsprozess befand sich infolgedessen in einer Sackgasse: Der Westen war samt der Ukraine zu keinem Kompromiss, Russland zu keinem Zugeständnis bereit.
Das Ergebnis ist der Krieg in Europa! Wer keine friedliche Lösung anstrebt, erntet den Krieg. Wo befinden wir uns nun heute im Kriegsjahr 2022? Kehren wir auf einmal zu den Anfängen des „Kalten Krieges“ zurück? „Russland lässt einen eisernen Vorhang herunter“, schrieb Konrad Adenauer besorgt an den Journalisten Hans Rörig in einem Brief am 5. Juli 1945.6
Vieles spricht dafür, dass der Westen heute derjenige ist, der einen neuen Eisernen Vorhang herunterlässt. Indem er einen totalen Wirtschaftskrieg gegen Russland anstrebt, glaubt er Russland weltweit „total“ zu isolieren. Im 21. Jahrhundert? In einem Jahrhundert also, in dem sich der kollektive Westen geopolitisch und geoökonomisch auf dem Rückzug befindet, möchte er Russland isolieren? Außerhalb des Westens findet er aber keine Verbündete für ein derartiges Abenteuer. Vor dem Hintergrund der dramatischen Zuspitzung der geopolitischen Rivalität zwischen Russland, China und den USA erscheint ein solches Abenteuer nicht nur verantwortungslos, sondern auch gefährlich.
„Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich.“ Mit dieser einprägsamen Sentenz hat Raymond Aron den friedlosen Status quo der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“ charakterisiert. Weder Krieg noch Frieden!? Das ist das Postulat des „Kalten Krieges“ unter den Bedingungen einer nuklearen Bedrohung.
Frieden unmöglich, Krieg wahrscheinlich! So könnte man aber heute den gegenwärtigen Zustand der geopolitischen Konfrontation charakterisieren, ohne dass eine nukleare Bedrohung der Welt verschwunden ist. Das ist der gravierendste und besorgniserregendste Unterschied zur Situation des „Kalten Krieges“. Im Gegensatz zum Ost-West-Konflikt haben wir heute anscheinend die Angst vor einem nuklearen Inferno verloren. Je mehr die „Vernunft des nuklearen Friedens“ (Michael Stürmer) in Vergessenheit gerät, umso weniger abschreckend ist der Atomkrieg.
Wir sind derart selbstsicher und machtarrogant geworden, dass uns nichts erschüttern kann und wir vor keinem – selbst vor einem nuklear aufgerüsteten geopolitischen Rivalen – Respekt zu haben brauchen. Das ist mehr als nur ein verhängnisvoller Fehler. Das ist Dummheit, der es an Urteilskraft mangelt, und „einem solchen Gebrechen“ – lehrte uns Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (A 133/B 172) – „ist gar nicht abzuhelfen.“
„Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely“ (Lord Acton). Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Und so blenden wir arrogant im trügerischen Gefühl unserer Machtvollkommenheit und vermeintlicher Unverwundbarkeit die Gefahr einer nuklearen Konfrontation aus. Ist uns wirklich die „Vernunft des nuklearen Friedens“ im immer noch bestehenden nuklearen Zeitalter abhandengekommen? Oder haben wir aus lauter moralischer Empörung tatsächlich den Verstand verloren und denken nur noch an Abschreckung, Bestraffung und Vergeltung?
Nach dem Motto: Abschreckung ist gut, Eskalation besser und Vergeltung noch besser, verschärfen wir rhetorisch die Konfrontation gegen Russland und unsere Sprache wird immer militanter, rabiater und selbstgerechter. Unsere eigenen zahlreichen Kriegsverbrechen der vergangenen zwanzig Jahre haben wir ja längst vergessen und vergeben, da wir im Besitz der „absoluten“ Moral und der „absoluten“ Gerechtigkeit sind. Hoch lebe unsere Selbstgerechtigkeit! Und weiter? Weiter stehen wir vor dem Abgrund, sollten wir weiter so tun, als würden wir die Götter des Olymps sein und jeden, der uns im Wege steht, bestrafen dürfen. Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns dadurch selber nicht bestrafen.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Wiegold, Th., Waffen für die Ukraine: Artillerie aus USA und Niederlanden – und aus Frankreich (Nachtrag: Audio Rohrschneider), in: augengeradeaus.net 22.04.2022.
2. Ball, G. W., Kalte Kriegsmanie im Weißen Haus, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der Atomkrieg rückt näher. Spiegel-Verlag. Hamburg 1981, 167-170 (168).
3. Ball (wie Anm. 2), 169.
4. Clausewitz, C. v., Vom Kriege. Bonn. Dümmler Verlag, I, 1, 94; zitiert nach Raymond Aron, Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1962, 34.
5. Aron (wie Anm. 4), 36.
6. Adenauer, K., Briefe über Deutschland 1945-1955. Ausgewählt und eingeleitet von Hans Peter Mensing. München 1999, 18.