Verlag OntoPrax Berlin

Fluch oder Segen?

Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung

Übersicht

1. Die NATO-Osterweiterung aus russischer Sicht der 1990er-Jahre
2. George F. Kennans geplatzter Traum
3. Die NATO-Expansion als Funktion der Geopolitik

Anmerkungen

„ Главное для России – не миропорядок сам по себе,
а место России в этом миропорядке.“
(Für Russland ist entscheidend nicht die Weltordnung
an und für sich, sondern Russlands Stellung in dieser Weltordnung.)
(Dmitrij Trenin)1

1. Die NATO-Osterweiterung aus russischer Sicht der 1990er-Jahre

Im Vorfeld der NATO-Osterweiterung fand in Russland eine lebhafte Diskussion auf Expertenebene statt. Eine Arbeitsgruppe des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik in der Russländischen Föderation wurde um die Mitte der 1990er-Jahre gegründet, die ein Thesenpapiere zu Russlands Politik gegenüber der NATO vorbereitete. Die Thesen wurden sodann auf einer Versammlung am 25. Mai 1995 diskutiert und anschließend verabschiedet. Das Thesenpapier selbst ging zurück auf Artikel und Arbeiten der zu jener Zeit noch überwiegend westlich gesinnten Außen- und Sicherheitspolitiker sowie Außen- und Sicherheitsexperten (S. A. Karaganov, A. G. Arbatov, A. A. Konovalov, A. V. Kortunov, A. K. Puškov, D. V. Trenin, P. S. Zolotarev u. a.). August Pradetto gab sie dann in der deutschen Übersetzung 1997 heraus.2

Bemerkenswert an diesem Thesenpapiere war eine unbefangene Offenheit und Aufgeschlossenheit bis zu einer kaum zu übertreffenden Naivität, mit welcher die russischen Außenpolitiker und Sicherheitsexperten vertrauensvoll auf den Wesen blickten und dessen Ziele und Absichten analysierten. Zwar warnten sie eindringlich vor der NATO-Osterweiterung, gleichzeitig lehnten sie aber „jegliche Art von >Einfrieren< der Zusammenarbeit mit dem Westen“ ab. Zwar wiesen sie darauf hin, dass die Pläne der NATO zu einer schweren Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen führen könne und dass es im Westen genug einflussreiche politische Gruppen gäbe, „die nur auf einen faux pas warten, der einen neuen Kalten Krieg hervorrufen könnte.“3 Eine solche Entwicklung sollte aber auf keinem Falle zum Bruch mit dem Westen führen.

Denn „Russlands wichtigstes geostrategisches Interesse“ – so wird ausdrücklich hervorgehoben – „besteht in der Aufrechterhaltung und Entwicklung guter Beziehungen, wenn nicht sogar eines strategischen Bündnisses, mit den führenden westlichen Ländern und ihren Koalitionen.“4 Wir befinden uns also (noch) in den „Flitterwochen“ der Ost-West-Beziehungen, in denen zumindest auf der Oberfläche die „glücklichen“, „ungetrübten“ und „unbeschwerten“ Verhältnisse zwischen Russland und dem Westen vorherrschten und die russische Gesellschaft von einem westlichen Wohlstand und einer vielversprechenden Zukunft zusammen mit den „westlichen Freunden und Partnern“ träumen dürfte.

Aus heutiger Sicht rufen solche Träume und Illusionen nur noch Erstaunen und Unglauben hervor. Heute befinden wir uns ein Vierteljahrhundert später in einer ganz anderen Welt. So „schnell“ ändern sich nun mal die Zeiten. Wie naiv, unbefangen, unaufgeklärt und vor allem leichtgläubig waren doch die westlich gesinnten Funktionseliten der 1990er-Jahre.

Viel zu spät wurden sie desillusioniert und manche gaben freimütig erst im Nachhinein ihre Illusionen zu. „Der anfängliche Versuch, sich in die westlichen Strukturen zu integrieren und sogar eine Art >dritter Westen< (третьий Запад) neben den USA und der EU im Rahmen der euroatlantischen Welt werden zu wollen“, ist – stellt Dmitrij Trenin (Direktor des Carnegie Moscow Center) in seinem jüngsten, 2021 erschienenen Werk rückblickend fest – „kläglich gescheitert.“5 Naivität rächt sich immer im politischen und erst recht im geopolitischen „Geschäft“. Trenin unterlag selbst nach eigenen Angaben in den 1990er-Jahren „dieser Illusion“.6 „Die Pariser Charta vom 21. November 1990 verschleierte lediglich“ – fügte er ernüchternd hinzu – „die neue unipolare Weltordnung und Moskau gab sich der Illusion des gemeinsamen Sieges der UdSSR und der USA im Kalten Krieg hin.“7

Seitdem hat sich viel geändert. Heute lässt sich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Russland und dem Westen auf einen einzigen von Trenin ebenfalls prägnant formulierten Nenner bringen: „Der Westen ist zu keinem Kompromiss, Russland ist zu keiner Kapitulation bereit (Запад не пойдет на компромисс, Россия – на капитуляцию).“8 Wir stecken – anderes formuliert – in einer geo- und sicherheitspolitischen Sackgasse.

Den westlichen Befürwortern der NATO-Osterweiterung lagen aus russischer Sicht der 1990er-Jahre unterschiedliche Interessen zugrunde. Der entscheidende Beweggrund für die NATO-Expansion bestünde – so die russische Analyse – wohl in der Befürchtung, dass die NATO – sollte es nichts passieren – ziellos dahinvegetiert, überflüssig wird und letztlich im Sterbebett landet. Nach dem Motto „Erweiterung oder Tod“ plädierten vor allem die US-Amerikaner für eine NATO-Expansion nicht zuletzt aus geopolitischen Überlegungen. Denn die sich aus dem Nordatlantik-Vertrag ergebenden Verpflichtungen dienten als Grundlage der militärischen und politischen Präsenz der USA in Europa und damit als wichtiges Vehikel zur Domestizierung Europas durch die USA sowie als Stärkung des amerikanischen Einflusses auf dem Kontinent.9

Diese russische Analyse findet ihre indirekte Bestätigung in den Äußerungen von Richard Holbrooke (der US-Sondergesandter für den Balkan in den 1990er-Jahren), der nach dem Abschluss des Dayton-Friedensabkommens erklärte: „Bosnien … bestimmte die erste Phase der Beziehungen zwischen den USA und Europa nach dem Kalten Krieg, und zwar auf eine Weise, die für die atlantischen Beziehungen höchst zerstörerisch war. Die Differenzen zwischen den einzelnen NATO-Mitgliedern gefährdeten die NATO selbst – und zwar ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Washington die NATO-Erweiterung ins Visier nahm.“10

Holbrookes Äußerung weist darauf hin, dass die US-amerikanische Sicherheitsstrategie bereits kurz nach dem Ende des Kalten Krieges auf die NATO-Osterweiterung ausgerichtet war und dass wir heute eine deutliche Parallele zwischen der Balkan- und der Ukraine-Krise feststellen können. In den beiden Fällen handelt(e) es sich letztlich um die geostrategische Frage, wer eine künftige gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur nach dem Ende des „Kalten Krieges“ bestimmt bzw. gewährleistet und damit die Ordnungsmacht in Europa wird.

Das Dayton-Abkommen (1995) legte im Grunde das Fundament für die NATO-Osterweiterung und bestimmte gleichzeitig die Rolle der USA als die Ordnungsmacht in Europa nach dem Ende des „Kalten Krieges“. Das Dayton-Abkommen war folgerichtig im Eigeninteresse der US-amerikanischen Sicherheits- und Geostrategie, die zum Ziel „die Osterweiterung des nordatlantischen Bündnisses bis an die Grenzen Russlands“11 und damit eng verbunden die US-amerikanische Führungsrolle in Europa hatte. Das Russland der 1990er-Jahre war viel zu schwach, orientierungslos, politisch und ökonomisch desorganisiert, um der sicherheitspolitischen Weichenstellung der US-amerikanischen Ordnungsmacht irgendetwas entgegensetzen zu können.

Russland war damit geopolitisch ausgespielt und sicherheitspolitisch bis zum 15. Dezember 2021 – als die russische Führung ihre sicherheitspolitischen Forderungen an den Westen gestellt hat – wie ein defekter Eisenbahnwaggon auf ein geopolitisches Abstellgleis abgestellt. Deswegen reagierten die USA und die NATO auf Russlands Forderungen so gereizt und ablehnend, weil sie nicht ohne Recht eine Revision der nach dem Dayton-Abkommen entstandenen Sicherheitsarchitektur in Europa witterten. Die Folge war der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022.

Dass nun laut dem Thesenpapier auch die anderen NATO-Bündnispartner – wie etwa Deutschland – an einer NATO-Expansion interessiert waren, weil sich – so die russische Mutmaßung – „die Reformen in Russland verlangsam(t)en und die Gefahr der Instabilität an(hielt)“12 (S. 165), ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen. Der maßgebliche Expansionstreiber war aber dessen ungeachtet zweifelsohne die USA. Es war eben im geostrategischen US-amerikanischen Interesse alles dafür zu tun, damit Russland, sollte es die Krise der 1990er-Jahre überwunden haben, „nicht in der Lage wäre, seinen politischen Einfluss in Europa entsprechend auszubauen.“13

Diese Sicht der Dinge wird indirekt von der amerikanischen Seite durch ein von der „New York Times“ 1992 veröffentlichtes Strategiepapier „Defense Planning Guidance“ bestätigt. Die unter der Leitung von Paul D. Wolfowitz zustande gekommenen, der Zeitung zugespielten und nicht für die Öffentlichkeit bestimmten US-amerikanischen geostrategischen Überlegungen für die Zeit nach dem Kalten Krieg sorgten weltweit für Aufsehen. Die konzipierte Präventivstrategie der nunmehr zum weltweiten Hegemonen aufgestiegenen Supermacht setzte zum Ziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“14

Resigniert und ernüchtert stellten die russischen Experten sodann fest: „Die Hoffnung einer absoluten Minderheit westlicher Politiker, einen neuen, ja sogar absurden Kalten Krieg zu provozieren, um zumindest zeitweise das >Hauptorganisationsprinzip< der NATO, d. h. die Prämisse der >Bedrohung aus dem Osten<, zu neuem Leben zu erwecken, sollten nicht von der Hand gewiesen werden.“15

Was für die russischen Experten der 1990er-Jahre noch als ein „absurder Kalten Krieg“ einer „absoluten Minderheit“ galt, ist seit Putins Münchener Rede 2007 und spätestens seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise (2014) und erst recht im Kriegsjahr 2022 weder absurd noch eine Minderheitsposition. Zum „Gespenst der russischen Gefahr“16 verdichtet, war das Misstrauen zu Russland in Europa nie aus der Welt und immer schon präsent. Auch in den 1990er-Jahren war es nicht verschwunden. Allein die russischen westlich gesinnten Eliten der 1990er-Jahre wollten das nicht wahrhaben und haben es – so naiv wie sie waren – auch nicht wahrgenommen, weil sie nicht wahrhaben wollten.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine geistert dieses „Gespenst“ nunmehr für jedermann ersichtlich durch die europäischen Korridore der Macht und es wird weiterhin für eine sehr, sehr lange Zeit herumgeistern.

Die NATO-Expansionspolitik hat – und das kann man heute mit Fug und Recht behaupten – die Sicherheitslage in Europa nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlimmbessert. Zutreffend zog Dmitrij Trenin 2021 – also noch vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine – eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Sowjets- und der NATO-Expansion, als er feststellte: „So wie die Sowjetisierung Osteuropas Ende der 1940er-Jahre keine Pufferzone geschaffen hat, sondern nur noch zur Entstehung der NATO, zur Präsenz der US-Truppen und letztlich zur Zunahme des US-amerikanischen politischen Einflusses auf Europa beigetragen hat, so hat die NATO-Osterweiterung nach dem Ende des Kalten Krieges keine bedeutsamen Vorteile für den Westen gebracht, sondern Russland vielmehr zunächst zum Opponenten, und dann zum Gegner der USA gemacht.“17

Ergänzend zu Trenins zutreffender Analyse ist festzuhalten: Russland ist im Jahr 2022 nicht nur zum Opponenten und Gegner der USA, sondern auch zum Feind des Westens geworden. Die nächste Steigerungsstufe der Eskalation sollte dann wohl Russland als „den absoluten Feind“ (Carl Schmitt) oder – in die Sprache des 21. Jahrhunderts übersetzt – als „Terrorstaat“ qualifizieren, der nicht besiegt, sondern vernichtet werden muss.

Wohin soll uns eine so gefährliche Eskalationsspirale noch führen? Ins nukleare Inferno? Vielleicht sollte man heute die Warnung des vergreisten Winston Churchill doch ernstnehmen? „Ich glaube“ – entrüstete sich Churchill resigniert über Eisenhowers nukleare Eskalationspolitik 1957 -, „dass die Erde bald zerstört wird … Und wenn ich der Allmächtige wäre, würde ich sie nicht wieder neu erschaffen, sonst würde man sie doch nur ein weiteres Mal zerstören<.“18 Möchten wir wirklich diesen Weg der Selbstvernichtung gehen?

2. George F. Kennans geplatzter Traum

Das Urgestein der amerikanischen Russlandforschung George F. Kennan warnte bereits vor einem Vierteljahrhundert die Clinton-Administration eindringlich vor der NATO-Expansion gen Osten: „Eine Ausweitung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“19

In einem dem bekannten New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman im Frühjahr 1998 gegebenen Interview fügte er hinzu: „Ich denke, dass die NATO-Osterweiterung der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist und dass die Russen darauf allmählich feindselig reagieren und ihre Politik in verschiedenen Fragen verändern werden. Ich glaube, das sei ein tragischer Fehler. Für eine solche Vorgehensweise bestand gar keine Notwendigkeit. Keiner hat jemanden bedroht … Ist es denn nicht offenkundig, dass wir während des Kalten Krieges allein mit dem Sowjetkommunismus Meinungsverschiedenheiten hatten? Jetzt aber kehren wir denjenigen den Rücken, welche die größte Revolution in der Geschichte ohne Blutvergießen realisierten, um das Sowjetregime zu beseitigen …

Darin bestand das Ziel meines ganzen Lebens und es tut mir weh zu sehen, wie all das zunichte gemacht wird.“20

Kennans schroffe Ablehnung der NATO-Osterweiterung ist offenkündig auf seine Sorge und Befürchtung zurückzuführen, dass der Westen mit seiner forschen Expansionspolitik gen Osten zur erneuten Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen führen und dadurch die Annäherung an das postsowjetische Russland, das aus eigener Kraft den Sowjetkommunismus abgeschüttet habe, zunichtemache. Kennan konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, als die Westalliierten froh wären, wenn Stalin mit seinen Rotarmisten das nach dem Zweiten Weltkrieg besetzten Osteuropa verlassen hätte.

Diesen Gefallen haben ihnen weder Stalin noch die nachfolgenden Sowjetführer getan. Auch die USA haben in ihrem Kampf gegen den Weltkommunismus vergeblich versucht, Osteuropa während des „Kalten Krieges“ mit der sog. Rollback-Strategie zu befreien. Und was tue die Clinton-Administration heute – empört sich Kennan -, nachdem die Russen selber aus eigener Kraft das sowjetische Joch abgeschüttet haben? Sie gefährde mit ihren NATO-Expansionsplänen die bewundernswerte Selbstbefreiung der Russen vom Joch des Sowjetkommunismus.

Je mehr Kennan seine Bewunderung für dieses aus seiner Sicht epochemachende Ereignis empfand, umso mehr befürchtete er das Scheitern des antikommunistischen Umsturzes in Russland infolge der aggressiven NATO-Expansionspolitik und umso mehr sah er sein Lebenswerk in Gefahr. Mehr noch: Kennan war offenbar darüber besorgt, dass er zwar den ideologischen Kampf seines Lebens gegen den Sowjetkommunismus gewonnen hat, aber den Kampf um Russlands Integration in die „westliche Wertegemeinschaft“ nach dem Ende des „Kalten Krieges“ infolge der Ignorierung der russischen Sicherheitsinteressen verlieren könnte.

Kennan ist ein Ideologe, kein Geopolitiker. Sein ganzes Leben war er ein von Entsetzen und Abscheu ergriffener Antistalinist, hat er doch selber als Diplomat in Moskau (1933-1937) unmittelbar und hautnah den Stalin-Terror erlebt. Als Ideologe des „Kalten Krieges“, der auf persönliche Veranlassung Stalins zur persona non grata erklärt und des Landes verwiesen wurde, hat er das Sowjetsystem sein Leben lang erbittert bekämpft.

Im Zentrum seines Denkens und Wirkens stand in erster Linie die Bekämpfung des Sowjetkommunismus, ohne dass er (und nicht nur er) eine geopolitische Tragweite der Konfrontation zwischen Russland und den USA jemals so richtig verstanden hat. Das war nun mal die „Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) und nicht der Geopolitik.21 Kennan vertrat immer die Auffassung, dass Russland – sollte das kommunistische Regime verschwinden – zu den Ursprüngen „des russischen Liberalismus“ zurückkehren wird, wofür er lebenslang gekämpft hat. Seine jahrzehntelange schriftstellerische Tätigkeit ist der Beweis dafür.

Bereits 1951 veröffentlichte er inmitten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“ und der gezielt geschürten Angst vor dem „unbegrenzten sowjetischen Expansionismus“ einen ungewöhnlichen Aufsatz „America and Russian Future“ in der Zeitschrift „Foreign Affairs“. Dieser ins Deutsche übertragene und in der vom amerikanischen Juden polnischer Herkunft und linken Antistalinisten Melvin J. Lasky während der Berlin-Blockade 1948 gegründeten internationalen Zeitschrift „Der Monat“22 publizierte Aufsatz „Amerika und Russlands Zukunft“23 löste eine lebhafte und kontroverse Debatte in den nachfolgenden Heften der Zeitschrift24 aus.

In seinem Aufsatz machte Kennan eine ebenso aufschlussreiche wie zukunftweisende Voraussage, dass nämlich der Sowjetkommunismus in Russland lediglich „ein sowjetisches Zwischenspiel“ der russischen Geschichte bleiben und „die Sowjetmacht“ sich eines Tages totlaufen werde.25

Genau 40 Jahre nach der Veröffentlichung des Artikels ging seine Voraussage tatsächlich in Erfüllung. Wie begründete Kennan nun seine Untergangsprophetie? Mit der fehlenden Stabilität des Systems! „Ein System, das sich auf die Schwächen und das Böse in der menschlichen Natur stützt, kann keine echte innere Stabilität besitzen; ein System, das versucht, seine Existenz auf die Erniedrigung des Menschen zu gründen . . . – ein derartiges System entspricht nur der grenzenlosen Enttäuschung und Verbitterung der Generation, die es geschaffen hat und dem eisigen Terror derer, die aus Schwäche oder Dummheit zu seinen Werkzeugen wurden . . . Viele Diener der totalitären Macht, die sich selbst tiefer als ihre Opfer erniedrigt haben und sich klar darüber sind, dass sie sich jeden Weg in eine bessere Zukunft versperrt haben, mögen sich verzweifelt an ihre unseligen Posten und Ämter klammern. Aber der Despotismus kann von der Furcht seiner Kerkermeister und Henker allein nicht leben; er bedarf als treibender Kraft eines starken politischen Willens“ (S. 350).

Zugleich entwickelte Kennan inmitten des „Kalten Krieges“ eine Theorie von einem „anderen Russland“ als Alternativvorstellung sowohl zum Sowjetsystem als auch zum befürchteten Dritten Weltkrieg. Zwar könnte ein „Krieg mit der Sowjetmacht, dessen Ausgang in militärischer Hinsicht noch als relativ günstig für den Westen“ erscheint, erfolgreich beendet werden; er würde aber „an sich nur wenig oder gar nicht zur Realisierung jenes >Anderen< beitragen, das wir für Russland zu erreichen hoffen“ (S. 339). Es wäre laut Kennan besser über „das Bild eines anderen, eher zu akzeptierenden Russlands“ nachzudenken, „das für uns Amerikaner ein reales und erstrebenswertes Ziel wäre“, als „Gedanken an einen eventuellen Krieg“ zu verschwenden (S. 339).

Was bedeutet aber dieses erhoffte „Andere“? Von welchem „anderen Russland“ ist hier überhaupt die Rede? Nun stellt Kennan zunächst unmissverständlich klar, was Russland nicht sein kann. „Es wäre kein kapitalistisches und liberal-demokratisches Land mit Institutionen ähnlich denen unseres eigenen Landes“, weil „Russland ein privates Unternehmertum in dem Sinne, wie es uns in Amerika vertraut ist, kaum jemals kennengelernt hat“ (340). Von diesem negativen Verdikt ausgehend, kommt er sodann zu einer sonderbaren Feststellung, dass „ein liberal-demokratisches Russland“ zwar „nicht erwartet werden kann“, was „nicht oft genug betont werden“ muss. „Künftige russische Regierungen“ brauchen aber deswegen „nicht illiberal zu sein“ (342). Eine Art >illiberale Liberalität<? Was soll das denn heißen? „Die liberale Tradition innerhalb Russlands“ – lesen wir weiter – „kann sich mit derjenigen der anderen Länder durchaus messen. Viele Einzelpersonen und Gruppen sind noch heute tief durchdrungen von dieser Tradition und würden alles tun, um sie zum dominierenden Element der Zukunft zu machen“ (342).

Nach der Verwirklichung seines Lebensziels – die Überwindung des Sowjetkommunismus in Russland -, sah Kennan nun sein zweites Lebensziel – die Errichtung eines „anderen Russlands“ – vor dem Hintergrund der NATO-Expansionsplanung in akuter Gefahr. Vierzig lange Jahre träumte er vom Wiederaufleben der liberalen Tradition Russlands. Umso mehr war er enttäuscht, als er über die US-amerikanische Planung zur NATO-Osterweiterung erfahren sollte. Offenbar fürchtete er, dass die NATO-Expansion statt Russlands Annährung an den Westen zu dessen Entfremdung führen und dadurch sein Traum vom liberalen Russland platzen könnte. Zu Recht?

Kennans Traum von einem liberalen Russland war eine Fata Morgana. Er hat sein Leben lang einen falschen Traum geträumt. Es ist an der Zeit, mit dem Mythos von einer „liberalen Tradition“ Russlands gründlich aufzuräumen. Es gab sie gar nicht.26

Wie auch immer, das Tragikomische an der Ablehnung der NATO-Osterweiterung war darum der Umstand, dass Kennan die richtige Warnung aussprach, die aber aus falschem Grund erfolgte. Indem er sein Augenmerk allein auf eine ideologische Bekämpfung des Sowjetkommunismus fokussierte, ignorierte er die geopolitische Dimension des Konflikts zwischen Russland und dem Westen und vermengte folgerichtig Ideologie mit Geopolitik (zurzeit der „Kalten Krieges“) bzw. Axiologie mit Sicherheitspolitik (nach dem Ende des „Kalten Krieges“), wodurch er – wie alle Außenideologen27 – die Außen- und Geopolitik von der Verfassungs- und Innenpolitik abhängig machte.

Kennans Warnungen aus den Jahren 1997/8 sind dessen ungeachtet vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine eine brutale geopolitische Realität geworden. Heute rächt sich die Machtarroganz, mit welcher die Clinton-Administration und die transatlantischen Machteliten bis heute diese Warnungen ignorierten und ihnen keine Beachtung schenkten.

3. Die NATO-Expansion als Funktion der Geopolitik

In seinem Werk „Mission Failure. America and the World in the Post-Cold War Era“ (2017) wies auch Michael Mandelbaum darauf hin, dass die US-amerikanische Entscheidung für die NATO-Osterweiterung in der historischen Perspektive die gravierendsten Folgen für die ganze Periode nach dem Kalten Krieg haben könnten.“ Mehr noch: „Statt die Sicherheit der Bündnispartner der USA in Europa zu stärken, hat die NATO-Expansion ihre Sicherheit geschwächt.“

Sein Hauptargument lautet: Die NATO-Osterweiterung habe die demokratischen Kräfte in Russland deskreditiert und dadurch geschwächt. Die NATO-Expansion habe genau das Gegenteil dessen bewirkt, was sie beabsichtigt habe: Sie zog eine neue Trennlinie zwischen den Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Allianz.

Mandelbaums Argumentation ähnelt der von George F. Kennan. Er verfährt reduktionistisch, indem er die Sicherheitsproblematik ausklammert, die geopolitische Dimension des Konflikts ignoriert und allein axiologisch argumentiert. Als Repräsentant der Generation des „Kalten Krieges“ ist Mandelbaum genauso wie Kennan vom ideologisch geleiteten Ost-West-Konflikt geprägt und denkt darum eben in ideologischen und nicht in geopolitischen Kategorien. In den amerikanischen Eliten herrschte – merkte Henry Kissinger einst spöttisch an – zurzeit des „Kalten Krieges“ eine außenpolitische Stimmung vor, die entweder von der Theologie oder von der Psychiatrie vorgegeben wurde und folgerichtig „geopolitische Erwägungen ganz einfach ausschloss“. „Die Väter der >containment<-Politik – Acheson, Dulles und ihre Kollegen“ – fuhr Kissinger fort – „hatten . . . ihr Werk ausschließlich mittels theologischer Kategorien konzipiert.“28

Zugleich verkennt Mandelbaum die Verfassungswirklichkeit Russlands der 1990er-Jahre und glaubt tatsächlich, dass sich Russland auf dem Weg zur Demokratie befand und nur die NATO-Expansion sie ausbremste. Das ist nichts weiter als eine Mythenbildung29 und hat mit geopolitischen Erwägungen der NATO-Osterweiterung nicht im Geringsten etwas zu tun. Weder die Missionierung der sog. „westlichen Werte“ noch die Oktroyierung von Demokratie und Menschenrechten den wertfremden Kultur- und Machträumen notfalls mittels des „militanten Humanismus“ steht im Zentrum der US-Geopolitik der 1990er-Jahre, sondern die Sicherheits- und geoökonomischen Expansionsinteressen, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden sollten.

Der Triumphalismus hat bis heute die „Siegermächte“ des „Kalten Krieges“ nicht nur übermütig gemacht, sondern die zurzeit des Ost-West-Konflikts vorherrschende „Vernunft des nuklearen Friedens“ (Michael Stürmer) vergessen lassen. Der zur Ordnungsmacht in Europa aufgestiegene US-Hegemon will bis heute immer noch keine definierten NATO-Expansionsgrenzen akzeptieren. Die bipolare Weltordnung, in der die Supermächte noch „in den Abgrund“ schauten und darin „die Trümmer ihrer eigenen Existenz“ sahen, gibt es nicht mehr. Das „aus Furcht und Vernunft“ entstandene bipolare System, das Raymond Aron so in Worte fasste: „Frieden unmöglich, Krieg unwahrscheinlich“, erzwang „den langen nuklearen Frieden.“30

Und heute? Heute gilt dasjenige, was Henry Kissinger euphemistisch „congenital ambivalence“ nannte. Zwar war auch Kissinger 1994 der Meinung, dass sich die mit der NATO-Osterweiterung verbundene US-Expansionspolitik übernehmen könnte, und gab zwanzig Jahre später in seinem Werk „World Order“ (2014) zu, dass es utopisch war, daran zu glauben, dass sich die US-Hegemonie über die ganze Welt „automatisch“ ausbreiten würde. Die Frage nach der NATO-Osterweiterung hat er aber 2014 ganz umgangen und sprach lediglich nebulös davon, dass „der Sieg im Kalten Krieg von congenital ambivalence begleitet wurde“. Nun ja, so kann man auch die geo- und sicherheitspolitische US-Expansion mittels der NATO-Osterweiterung nach der siegreichen Beendigung des ideologischen Konflikts umschreiben.

Vor dem Hintergrund dieser „angeborenen Zweideutigkeit“ (congenital ambivalence) erklärt sich auch Mandelbaums Empörung darüber, dass Clinton sein Wort gebrochen habe. Noch im Januar 1994 hat Bill Clinton auf dem Brüsseler NATO-Gipfel verkündet, dass „die Allianz sich nicht erlauben kann, eine neue Trennlinie zwischen Ost und West zu ziehen, weil sie zur selbsterfüllten Prophezeiung führen und die künftige Konfrontation mit Russland vorwegnehmen kann.“ Mandelbaum erklärte diesen Wortbruch von Clinton im Gegensatz zu Kissingers Euphemismus mit dem Widerstand seitens des Kongresses, stellte zugleich aber fest, dass Clinton sich dagegen auch nicht gewehrt hat.

Wie auch immer, Clintons Warnung vor „Self-Fulfilling Prophecy“ ist achtundzwanzig Jahre später eine bittere Realität geworden.

Selbst Zbigniew Brzezinski (1928-2017), dem einst nachgesagt wurde, er habe „eine Art Hobby …, Russland Schaden zuzufügen,“31 gab in seinem letzten Werk „Strategic Vision“ (2011) zu, dass die USA die Chance verpassten, gemeinsam mit Russland die Sicherheitsstrukturen zu schaffen, und mahnte zugleich: „Wir können nicht länger der globale Polizist sein. Denn es wird uns in den Bankrott treiben, innenpolitisch soziale Wut entfachen und international zum Verlust unserer Legitimität führen.“32

Auch diese Warnung wurde vom US-Establishment wie so oft in den Wind geschlagen. Der Frieden steht offenbar nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste der US-Außen- und Geopolitik. Ist der Westen unter der US-Führung vielleicht zu selbstsicher und zu übermütig geworden? Oder will er keinen Frieden mehr? Wohl kaum! Die Gründe liegen woanders. Der Westen hat heute die Sorge vor einem langfristigen Trend, der dazu führt, dass die jahrhundertelang andauernde geopolitische und geoökonomische Vormachtstellung der westlichen Hemisphäre erodiert.

Diese Sorge überlagert jede Angst vor einer Weltfriedensgefährdung und macht den Westen ideologisch und geoökonomisch umso aggressiver, je weniger er fähig und gewillt ist, sich auf eine militärische Konfrontation gegen die Großmächte China und Russland einzulassen. Eine ideologische und geoökonomische Eskalation kann allerdings unter bestimmten Umständen ebenfalls in einen militärischen Konflikt ausarten.

An ernsthaften Verhandlungen mit Russland über eine Sicherheitsarchitektur in Europa, die weder anmaßende noch oberlehrerhafte Belehrungen sind, führt aber kein Weg vorbei. Weder das „moralische Athletentum“ noch ein „steriler Moralismus“, sondern „Subtilität und Realismus“ sowie die „außenpolitische Selbstbeschränkung“ und „deideologisierte Sachlichkeit“33 sind heute mehr denn je das Gebot der Stunde.

Anmerkungen

1. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021; näheres dazu Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021, www.ontopraxiologie.de
2. Russland und die NATO. Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik der Russischen Föderation, in: Pradetto, A. (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Russland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit. Darmstadt 1997, 161-177.
3. Russland und die NATO (wie Anm. 2), 163.
4. Ebd., 167.
5. Trenin (wie Anm. 1), 48 f.
6. Trenin (wie Anm. 1), 461 FN 5.
7. Trenin (wie Anm. 1), 134 f.
8. Trenin (wie Anm. 1), 9.
9. Vgl. Russland und die NATO (wie Anm. 2),165.
10. Holbrooke, R., Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien. München 1999, 550; zitiert nach Becker, J./Beham, M., Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006, 36.
11. Becker/Beham (wie Anm. 10), 37.
12. Russland und die NATO (wie Anm. 2), 165.
13. Ebd., 166.
14. Zitiert nach Kubbig, B. W., Wolfowitz’ Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
15. Russland und die NATO (wie Anm. 2), 166.
16. Dazu Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 19. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
17. Trenin (wie Anm. 1), 275.
18. Zitiert nach Stone, O./Kuznick, P., Amerikas ungeschriebene Geschichte. Die Schattenseiten der Weltmacht. Berlin 2015, 187.
19. Kennan, G. F., „A Fateful Error“, in: The New York Times, 5.2.1997, S. A23; zitiert nach Greiner, B., Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, 195, 171.
20. Zitiert nach Александр Крамаренко, Расширение НАТО: предистория >рокового решения<. Что делать? 25. Januar 2018.
21. Näheres dazu Silnizki, M., Georg F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. „Geist“ des „Kalten Krieges“ und die Gegenwart. 4. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
22. Zur Geschichte der Zeitschrift „Der Monat“ siehe Marko Martin, Orwell, Koestler und all die anderen. Melvin J. Lasky und „Der Monat“. Leipzig 1999.
23. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353.
24. Die „Monat“-Hefte 37 und 39 (1951).
25. Kennan (wie Anm. 23), 343. Eine eingehende Analyse der Schrift findet man bei Silnizki (wie Anm. 21).
26. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017.
27. Dazu Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik. 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
28. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782.
29. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017; ders., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
30. Vgl. Stürmer, M., Vernunft des nuklearen Friedens scheint vergessen, 16.09.2014.
31. James K. Galbraith, Demokracy inaction, in: „Salon“, 30.11.2004. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in: Blätter f. dt. und intern. Politik 57 (2012), 89-97 (90).
32. Brzezinski, Z., Conversations, in: „PBS Newshour, 8.2.2012; zitiert nach Ritz (wie Anm. 27), 95.
33. Hacke, Ch., Die Ära Nixon-Kissinger 1969-1974: konservative Reform der Weltpolitik. Stuttgart 1983, 16 f., 24, 42, 123.

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