Verlag OntoPrax Berlin

Die Kreuzritter unserer Zeit

Die westliche Internationale in ihrer axiologischen Weltmission

Übersicht

1. Axiologie und Sicherheit
2. Der Wertuniversalismus als Motto des westlichen Expansionismus

Anmerkungen

„Der falsche Universalismus ist ein ins Allgemeine erweiterte
Ethnozentrismus.“
(Habermas)1

1. Axiologie und Sicherheit

„Den Kern der Herausforderung kann man so umschreiben: Die Vereinigten Staaten können sich keinen weiteren Abstieg leisten, wie er für die letzten 15 Jahre charakteristisch war. Wird unsere Stellung in der Welt noch weitere 15 Jahre so ausgehöhlt …, dann werden wir auf eine Festung Amerika zurückgedrängt sehen, umgeben von einer Welt, für die wir ein kaum noch der Beachtung werter Faktor wären. … Wir sind nicht allmächtig. Wir sind nicht mehr unverwundbar. … Wir müssen jetzt bereit sein, den Schwierigkeiten ins Auge zu sehen. Vor allem dürfen wir uns über den Ernst unserer Lage keinen trügerischen Hoffnungen hingeben.“

Liest man diese Sätze, so glaubt man, dass die USA kurz vor einem Zusammenbruch stehen und die von ihnen seit gut dreißig Jahren angeführte unipolare Weltordnung kollabiert. Die zitierten Sätze stammen jedoch aus einer ganz anderen Epoche der Weltgeschichte.

Das gerade zitierte alarmierende Abstiegsszenario für die US-Weltmachtstellung hat kein geringerer als Henry Kissinger 1960 niedergeschrieben.2

Die darauffolgenden weltbewegenden und weltumwälzenden Ereignisse vom US-Eintritt in den Vietnamkrieg (August 1964) über die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre bis zum Untergang des Sowjetreiches 1991 haben Kissingers Alarmismus zwar gründlich widerlegt. Seine Warnung vor dem Abstieg der USA war aber zumindest aus heutiger Sicht alles andere als überzogen.

Heute sehen sich die USA mit solchen weltpolitischen Entwicklungen konfrontiert, dass selbst das von Kissinger vor gut sechzig Jahren angesprochene Abstiegsszenario als Lappalie erscheinen lässt. Denn die globalen ideologischen, geopolitischen und geoökonomischen Spannungen haben ein solches Maß eingenommen, dass die USA samt der gesamten Welt in den Abgrund stürzen können.

Und diese Entwicklung hatte einen langen, sehr langen Vorlauf. Bereits im Frühjahr 1944 hatte der einflussreiche US-amerikanische Kolumnist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Walter Lippmann, inmitten des Zweiten Weltkrieges warnend auf die ideologisch unüberbrückbare Kluft zwischen den Alliierten der „unheiligen Allianz“3 hingewiesen, die in der Zukunft in einem Weltkrieg münden könnte:

„Die Ursachen zukünftiger Störungen liegen in der Schwierigkeit, wie man sich über dasjenige einigen soll, was notwendig ist, um den Faschismus zu zerstören. Maßnahmen, die der Sowjetunion notwendig erscheinen, um den Faschismus zu zerstören, mögen anderswo als Maßnahmen gedeutet werden, die den Kommunismus begünstigen; Maßnahmen, die nicht-sowjetische Staaten als eine angebrachte Verteidigung gegen den Kommunismus betrachten, mögen in Russland als Unterstützung des Faschismus angesehen werden … Im Lebensinteresse sowohl des russischen Volkes als auch in unserem eigenen müssen wir diesen Teufelskreis durchbrechen. Sonst ist es möglich, dass die Russen, indem sie den Faschismus (wie sie ihn definieren) bekämpfen – und die Abendländer, indem sie den Kommunismus (wie sie ihn definieren) bekämpfen – als Todfeinde in einem Weltkrieg enden.“4

Der Nazismus wurde 1945 vernichtend geschlagen, der Sowjetkommunismus hat 1991 klang- und geräuschlos die Bühne der Geschichte verlassen. Der Westen hat im ideologischen Systemwettbewerb des „Kalten Krieges“ gesiegt und axiologisch triumphiert. War dieser Triumpf aber womöglich ein Pyrrhussieg?

Die nach dem Untergang des Sowjetreiches entstandene unipolare Weltordnung hat jedenfalls mit ihrer Missionierung von Demokratie und Menschenrechten die ideologische „Todfeindschaft“ nicht überwinden können. Geblieben ist die ideologische Inkongruenz in einem axiologischen Gewand.

Die ideologischen Todfeinde von gestern sind die axiologisch camouflierten geopolitischen Rivalen von heute geblieben. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Leben gerufene Idee der kollektiven Sicherheit war aus ideologischen Gründen bereits eine Todgeburt, bevor sie die institutionelle Gestalt als Organisation der Vereinten Nationen (UNO = United Nation Organisation) angenommen hat.

Heute stehen wir da, wo wir schon1945 standen: vor der Gefahr eines Weltkrieges. Die kollektive Sicherheit ist eine Illusion geblieben und die axiologisch verklärte geopolitische Rivalität der Gegenwart erweist sich immer mehr als genauso gefährlich wie die ideologische Todfeindschaft des „Kalten Krieges“.

Das Nixon/Kissinger-Gespann versuchte vergeblich in den 1970er-Jahren mit einer ganz anderen US-Außenpolitik neue Wege zu gehen. Nixon war der einzige US-Präsident nach 1945, „der unter dem Druck des Vietnamkrieges eine außenpolitische Alternative zur Eindämmungspolitik entwickelte und teilweise in die Tat umsetzte.“

Kissinger, der „sein Denken an großen europäischen Konservativen und >Realisten< geschult hatte“, wollte die US-Amerikaner „vom Manichäismus befreien und ihnen ausgerechnet jenes Konzept der internationalen Beziehungen zurückgeben, von dem der Moralist und Missionar Wilson die Welt hatte erlösen wollen: das Konzept des Gleichgewichtes der Mächte. Selbst eine nur relative Stabilität der internationalen Beziehungen – das Beste, was man angesichts der condition humaine erwarten könne, – war für Kissinger nur zu gewinnen, wenn die Existenz der Großmächte, unabhängig von ihrer jeweiligen inneren Ordnung, als legitim anerkannt, das heißt, wenn sie als Mächte nicht in Frage gestellt würden. Das Verhältnis der Staaten zueinander dürfe nicht von ihrer innenpolitischen Struktur abhängig gemacht werden, sondern von ihrem außenpolitischen Verhalten.“5

Nixon/Kissinger strebten, anders formuliert, eine ideologiefreie, vom Manichäismus befreite und die legitimen geo- und sicherheitspolitischen Interessen der anderen Großmächte zu respektierende US-Außenpolitik an. Dieser neue außenpolitische Ansatz der Nixon-Administration wurde bereit zu Carters Amtszeit (1977-1981) relativiert und von der Reagan-Administration endgültig verworfen.

Und heute? Heute setzt die Biden-Administration nicht auf die Diplomatie, sondern auf eine militärische Konfrontation, die Russland vermitteln sollte, dass ein jeder Angriff auf die Nato zurückgeschlagen werde und – wenn Krieg ausbreche – er für Russland verlorenginge. Diese maßlose Selbstüberschätzung der Nato-Allianz wird durch den Ukrainekrieg keineswegs bestätigt und ist im nuklearen Zeitalter umso gefährlicher, je weniger wir die rivalisierenden Mächte vor uns haben, die an einem geo- und sicherheitspolitischen Status quo interessiert sind.

Von den drei historisch überlieferten sicherheitspolitischen Konzepten (balance of power, die Idee der kollektiven Sicherheit und das „Gleichgewicht des Schreckens“) scheint heute keines von ihnen geeignet zu sein, eine Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa gewährleisten zu können. Die bestehende Macht-Dysbalance in Europa6 widersetzt sich jedwedem Machtgleichgewicht und „das Gleichgewicht des Schreckens“ hat sozusagen seinen Schrecken angesichts der fehlenden Angst vor dem Armageddon verloren.

Und was jetzt? Eine Todfeindschaft ohne Ende? Nicht ganz! Das „Gleichgewicht des Schreckens“ war ein sicherheitspolitisches Prinzip des „Kalten Krieges“ im Zeitalter der nuklearen Konfrontation, das den Status quo in Europa zementierte. Mit der Auflösung des Warschauer Pakts, der Nato-Osterweiterung und dem Aufstieg der USA zur unangefochtenen hegemonialen Ordnungsmacht in Europa wurde der Status quo als Ordnungsprinzip zerstört.

An dessen Stelle trat das Expansionsprinzip, das im krassen Gegensatz zur Gleichgewichtspolitik der Status-quo-Mächte steht. Zweierlei hat zu dieser Entwicklung in den 1990er-Jahren beigetragen: der Aufstieg der USA zur „Weltmacht ohne Gegner“7 und die Ignorierung eines das Machtgleichgewicht regulierende Selbstbeschränkungsmechanismus.

Sicherheits- und ordnungstheoretisch betrachtet, versucht Russland nunmehr im Ukrainekrieg eine neue Machbalance (balance of power) zu erkämpfen und ein Machtgleichgewicht gegen einen erbitterten Widerstand der USA als hegemoniale Ordnungsmacht in Europa und den konsolidierten Westen wiederherzustellen.

Wir beobachten in diesem Konflikt, anders formuliert, einen Machtkampf der Ordnungsprinzipien: Expansionsprinzip versus Status-quo-Prinzip, Hegemonialprinzip versus Gleichgewichtsprinzip der Status-quo-Mächte, das auf einem vitalen Sicherheits- und Eigeninteresse beruht. Der Versuch der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1945 „ein mit dem Gleichgewichtsprinzip konkurrierendes Konzept zur Friedenssicherung …: die Idee der kollektiven Sicherheit“8 zu etablieren, ist hingegen de facto gescheitert.9

Im Gegensatz zur Politik der Machtbalance, „die einen Machtausgleich durch Stärkung der nationalstaatlichen Souveränität bei gleichzeitiger Zurückdrängung expansiven Hegemoniestrebens anstrebte und so den Frieden zu erhalten suchte, beruhte die Politik der kollektiven Sicherheit auf der Annahme, nur durch einen Abbau der Konfrontation und durch alle Staaten einschließende gemeinsame Sicherheitsgarantien auf der Basis des status quo sei dauerhafte Friedenssicherung möglich.“10

Was wir nun aber seit dem Ende des „Kalten Krieges“ in Europa und vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine hatten, war weder die Machtbalance, die ein expansives Hegemoniestreben der USA zurückdrängen konnte, noch der Status quo, der eine „dauerhafte Friedenssicherung“ ermöglicht hätte, da die USA als die neue gesamteuropäische Ordnungsmacht den geopolitischen und axiologischen Status quo in Frage stellten und sich einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung unter Einbeziehung der vitalen Sicherheits- und axiologischen Eigeninteressen Russlands verweigerten.11

Es entstand eine Macht-Dysbalance, die es den USA ermöglichte, ihre geopolitischen und axiologischen Expansionsbestrebungen bei gleichzeitiger Neutralisierung der russischen Sicherheitsinteressen zu verwirklichen. Das hatte aber zufolge, dass Russlands Reintegration in das vom US-Hegemonen dominierte Weltordnungssystem misslang.

Mit dem dann entstandenen geo- und sicherheitspolitischen Dissens zwischen Russland und dem sich neuformierten und erweiterten Nato-Block wurde sowohl das sicherheitspolitische Ordnungsprinzip des Mächtegleichgewichts als auch das Prinzip einer gemeinsamen und unteilbaren Friedenssicherung unter sich begraben.

Der „Kalte Krieg“ erzwang mit seiner Gleichgewichtspolitik – dem Gleichgewicht des Schreckens -, was im Interesse der Friedenssicherung notwendig war, wozu man sich aber nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht hätte durchdringen können. Zu sehr war der Westen vom Siegesrausch über den Systemrivalen des „Kalten Krieges“ geblendet.

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine werden nunmehr die geo- und sicherheitspolitischen Karten neu gemischt. Und welches Sicherheits- und Ordnungsprinzip sich herausstellen wird, hängt nicht nur vom Ausgang des Ukrainekonflikts, sondern auch und insbesondere davon ab, ob eine Friedenssicherung ungeachtet der weiterbestehenden geopolitischen und axiologischen Differenzen gewährleistet und die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands ideologiefrei respektiert werden.

2. Der Wertuniversalismus als Motto des westlichen Expansionismus

Wenn also die Idee der kollektiven Sicherheit de facto gescheitert ist, das Expansionsprinzip aber zum Ukrainekrieg geführt hat, statt eine umfassende gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu gewährleisten, und „das Gleichgewicht des Schreckens“ seinen Schrecken verloren hat, dann stellt sich die Frage: Welches Sicherheits- und Ordnungsprinzip soll kommen, damit die rivalisierenden Großmächte deeskalierend eine halbwegs einvernehmliche Lösung finden?

Die Antwort liegt im Wesentlichen in einer ideologischen bzw. axiologischen Abrüstung des Westens. Die oben zitierte Passage von Walter Lippmann hat insofern an ihrer Aktualität nicht verloren, als es im beiderseitigen Überlebensinteresse ist, die ideologische Verklärung der eigenen machtpolitischen Intentionen zu durchbrechen, wollen wir nicht „als Todfeinde in einem Weltkrieg enden“.

Das bedeutet aber ein radikaler Paradigmenwechsel in der Politik der Friedenssicherung dergestalt, dass das Verhältnis der Staaten zueinander nicht von ihren innenpolitischen bzw. verfassungsrechtlichen Strukturen, sondern von ihrem außenpolitischen Verhalten abhängig gemacht wird. Sollte die ideologische Abrüstung vom Westen verweigert werden, wovon man zurzeit auch ausgehen muss, so wird eine solche Weigerung unweigerlich zum Auf- und Ausbau eines parallelen Weltordnungssystems führen, das tendenziell die jahrhundertelange Weltdominanz der westlichen Hemisphäre überwinden und brechen wird.

Was bedeutet aber eine ideologische Abrüstung des Westens? Die Antwort ist so schlicht wie komplex: Eine freiwillige Abschaffung und Überwindung des westlichen Wertuniversalismus, der im Namen der „internationalen Gemeinschaft“ die sog. „westlichen Werte“ überall und zu jeder Zeit zu missionieren, zu propagieren und zu oktroyieren trachtet.

„Wie viele Menschenleben wären gerettet worden, hätte die westliche Hegemonie nicht den Namen der internationalen Gemeinschaft usurpiert, sondern sich an das kodifizierte Recht derselben gehalten. Auch um die spezifische Verbindung von Demokratie und Recht … ist es seit langem schlecht bestellt,“12 empörte sich Ingeborg Maus bereits 2004.

Hinter dieser Usurpation des Namens verbirgt sich in der Tat nicht so sehr die „internationale Gemeinschaft“ als vielmehr die westliche Internationale, die unter Führung des US-Hegemonen global vernetzt und raumübergreifend die Weltbevölkerung mittels ihrer weltweiten medialen Informationsdominanz zu domestizieren trachtet.

Wie die Kommunistische Internationale (Komintern) von Stalin am 10. Juni 1943 aufgelöst wurde, so muss auch die westliche Internationale heute sich selbst abwickeln und darauf verzichten, ihren Wertuniversalismus der ganzen Welt oktroyieren zu wollen, will sie einen globalen Krieg vermeiden.

Dieser Schritt ist längst überfällig, weil die westliche Internationale keine Zukunft mehr hat und sich im Nichtwesten bzw. im sog. „Globalen Süden“ längst diskreditierte.

Das Zeitalter des westlichen Wertuniversalismus ist zu Ende und dieser Schritt muss aus den gleichen Gründen vollzogen werden, wie Stalin es seinerzeit in Bezug auf die Komintern als ein Zugeständnis an die westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg getan hat, zumal die Komintern genauso, wie heute die westliche Internationale, keine ideologische Gestaltungskraft mehr besaß.

Stalin erklärte in einem Interview mit der Agentur Reuters am 28. Mai 1943, dass der freiwilligen Auflösung der Komintern zwei außenpolitische Maxime zugrunde lagen: Moskaus Nichteinmischung „in das Leben der anderen Staaten“ und die kommunistischen Parteien handeln „im Interesse ihres eigenen Volkes“ und nicht „auf Befehl von außen“.13 Stalin bremste damit „den weltrevolutionären Missionsdrang der Kommunistischen Partei“ (Wilhelm G. Grewe) und bestätigte indirekt seine bereits in den 1920er-Jahren formulierte Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“.14

Die Nichteinmischung „in das Leben der anderen Staaten“ soll heute auch zur außenpolitischen Maxime der westlichen Internationale mit ihrer geradezu religiös anmutenden Missionierung der „westlichen Werte“ werden. Der westliche Wertuniversalismus trägt ein säkularisiertes, humanitär verklärtes, christliches Sendungsbewusstsein. Er strebt danach, nicht nur „human“ sein zu wollen, sondern ihre „Humanität“ auch machtvoll missionieren zu können.

Der westliche Wertuniversalismus wünscht sich den globalen Raum „human“ domestizieren zu können, indem er seine „Humanität“ dergestalt auf der Hegemonie gründet, dass die ganze Welt selber anerkennen solle, dass die westliche Internationale allein zum Wohle der Menschheit handele. In seinem Sendungsbewusstsein folgt der westliche Wertuniversalismus freilich der geopolitischen Logik.

Diese entwickelt sich aus den Denkmustern, die zwar ihrem eigenen kulturellen Umfeld entnommen, aber nicht ohne weiteres auf die nichtwestlichen Kultur- und Machträume übertragbar sind. Es ist eine gefährliche, ja friedensgefährdende Illusion zu glauben, dass sich der westliche Wertuniversalismus – losgelöst von seiner eigenen kulturellen Umwelt – außerhalb seines Kulturkreises erfolgreich etablieren bzw. gedeihen könne.

Glaubte die antike Welt, „dass kommende Ereignisse durch eine bestimmte Kunst der Weissagung entschleiert werden können“, dass man sie „vorherwissen (kann), weil sie vorherbestimmt sind“, und verlor dieses „Vertrauen auf Weissagung … an Ansehen erst, als die Kirche es untergrub“, obwohl sie selber an die Prädestination glaubte, so glaubt der westliche Wertuniversalismus allein an seine eigene Weltmission.

Er bildet sich ein, „die Zukunft könne durch ihn selbst geschaffen werden. Er hält sie für unerkundbar, weil er sie selbst herbeiführen will“15 und damit – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – eine Art der säkularisierten Eschatologie praktiziert, in deren Zentrum nicht mehr der Schöpfungsgott, sondern das Geschöpf Gottes mit seinen selbstproklamierten „universalen Werten“ steht.

So hat der prognostizierte Vormarsch von Demokratie und Menschenrechten beinahe „den Charakter von einem unausweichlichen Fatum wie von einer göttlichen Vorsehung. Sowohl wer ihn fördert wie wer ihm widerspricht, ist ein blindes Werkzeug in der Hand einer Macht, die die Geschichte lenkt.“

Diese „unvermeidliche“ Entwicklung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat sei „eine providentielle Tatsache und sie besitzt alle Merkmale eines göttlichen Ratschlusses: sie ist universal … (und) alle Ereignisse und Menschen dienen ihrem Fortschritt“. Der Versuch, die Demokratie auszubremsen, würde bedeuten, gegen die Vorsehung und „gegen Gott selbst zu kämpfen“.

Die Unmöglichkeit, diesen Vormarsch aufzuhalten, „ermöglicht andererseits die Voraussagbarkeit ihrer künftigen Entwicklungen“.16 Nur innerhalb dieser so verstandenen säkularisierten Eschatologie werden die westlichen Werte „universal“. Die „Universalität“ ist freilich hier eines menschlichen, nicht göttlichen Ursprungs; sie geht aus dem „Geschöpf Gottes“ – der westlichen Internationale – hervor, die die Geschicke des globalen Raumes vorauszubestimmen und herbeizuführen glaubt, weil sie sich „allein“ im Besitz des „teleologischen Universalismus“17 sieht.

Der westliche Wertuniversalismus hat längst das historische Christentum hinter sich gelassen und ist zum Urchristentum zurückgekehrt, in dem „die Geschichte von der Eschatologie verschlungen“ werde. Die urchristliche Gemeinde verstand sich nämlich „nicht als geschichtliches, sondern als eschatologisches Phänomen.“18

Nach „dem Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) versteht sich der westliche Wertuniversalismus heute ebenfalls als ein „eschatologisches Phänomen“. Er ist seiner Intention nach ambivalent: Er soll im Westen schon erfüllt, aber im globalen Raum noch nicht vollendet sein. Die Zeit zwischen Erfüllung und Vollendung ist determiniert; aber sie ist, solange sie da ist, eine Zwischenzeit eben nach der Erfüllung und vor der Vollendung des verkündeten Reiches des nicht mehr nur westlichen, sondern auch globalen Wertuniversalismus.

Infolge dieses Zwischenzustandes, in dem alles schon (teilweise) ist, aber eben noch nicht (global) vollendet ist, lebt der gläubige Wertuniversalist nicht nur in einer hoffnungsvollen Erwartung der kommenden globalen Herrschaft der „westlichen Werte“, sondern er unterstützt – einmal an die Macht gelangt – diese auch machtvoll mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich militärischer Gewalt.

Der am „Ende der Geschichte“ angekommene westliche Wertuniversalismus ignoriert freilich in seinem messianischen Übereifer die historische, kulturelle und verfassungsbezogene Pluralität des globalen Raumes. Die Überhöhung des Vorbildcharakters der eigenen Wertvorstellungen birgt in sich nicht nur eine gefährlich, weil friedensgefährdende Ignoranz der anderen Kulturen, sondern verkennt auch die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der eigenen geistesgeschichtlichen, rechts- und verfassungshistorischen Entwicklung.

Die abendländische Geistesgeschichte verdankt ihren Ursprung einer merkwürdigen, ja eigenartigen geistigen Synthese des antiken Erbes mit der heilsgeschichtlichen Botschaft der übernatürlichen Theologie. Die Antike war und ist bis heute „alt, aber nicht veraltet“. Sie hat im Gegensatz zur westlichen Moderne ein völlig anderes Geschichts- und Lebensverständnis, dessen Credo „nicht der Fortschritt, sondern … die Entfaltung aus dem Ursprung und der Rückkehr in den Utsprung“19 ist.

Weder das Christentum noch die antike Welt glaubten an den Fortschritt so, wie wir es heute glauben. „Wenn das biblische und griechische Denken irgendwo übereinstimmen, so in der Freiheit von Illusion des Fortschritts.“20

Glaubten die Griechen an die ewige und unvergängliche Physis des Kosmos und denaturiert die Offenbarungstheologie die Physis und den Kosmos, indem sie diese als aus sich bestehend negiert, und vom Schöpfungsgott aus dem Nichts erschaffen lässt, so glaubt der vom Fortschrittsglauben inspirierte westliche Wertuniversalismus, seine „universalen Werte“ ebenfalls aus dem Nichts schaffen zu können, indem er sich enthistorisiert, sein historisch gewachsenes axiologisches Selbstverständnis universalisiert, die nichtwestliche Kultur- und Machträume wertlogisch delegitimiert, um anschließend seine Wertlogik kraft der eigenen „Wertvollkommenheit“ zu oktroyieren.

Dieses Kreuzrittertum unserer Zeit erkennt keine anderen Werte außer den eigenen an. Der westliche Wertuniversalismus erweist sich als ein säkularisierter Schöpfungsglaube, dessen Demiurg der Westen selbst ist, der seine Werte dergestalt aus sich schaffen lässt, dass die wertfremden Kultur- und Machträume infolge ihres „Vergänglichkeitscharakters“ an sich selbst zugrunde gehen, von selbst wertlos werden und sich anschließend der „unvergänglichen“, „ewigen“ westlichen Werttransfusion unterziehen lassen.

Dieser kulturellen Grenzen ignorierende und alle völkerrechtlichen Grenzen sprengende axiologische Expansionismus des westlichen Wertuniversalismus macht das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten, indem er den historisch gewachsenen, faktisch existierenden Wertpluralismus negiert.

Weder die antike Welt noch die christliche Theologie haben die Welt so begriffen, wie die westliche Moderne. Verändert hat sich freilich nur „das Weltbild von der Welt. Aber was verbürgt uns, dass das moderne Weltbild der mathematischen Physik die physis angemessener versteht, als die Physik etwa des Aristoteles … Es gibt zwar eine moderne Naturwissenschaft, aber keine moderne Natur.“21

Und wer verbürgt uns, dass sich die Ordnung des globalen Raumes nach den westlichen Wertvorstellungen „besser“, d. h. friedfertiger gestalten lässt, als die Ordnung des hier und heute existierenden Wertpluralismus?

Der westliche Wertuniversalismus hat sich in der trügerischen Hoffnung verrannt, er und nur er allein könne von sich aus den Menschen geben, was die Lebenswirklichkeit ihnen versagt. Solange dieses Kreuzrittertum unserer Zeit weiterhin aufrechterhalten bleibt (und nichts deutet auf etwas anderes hin), ist eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur weder in Europa noch im globalen Raum denkbar und vorstellbar.

Anmerkungen

1. Habermas, J., Ein Interview über Krieg und Frieden, in: ders., Der gespaltene Westen. Frankfurt 2004, 85-
110 (102).
2. Kissinger, H., Die Entscheidung drängt. Grundfragen westlicher Außenpolitik. Düsseldorf 1961, 11 f.
3. Görtemaker, M., Die unheilige Allianz. Die Geschichte der Entspannungspolitik 1943-1979. München 1979.
4. Zitiert nach Bodensieck, H., Arnold J. Toynbees Analyse der internationalen Politik vom Mai 1947, in:
Weltpolitik III 1945-1953. 13 Vorträge, hrsg. v. Oswald Hauser. Göttingen 1978, 212-258 (225).
5. Junker (wie Anm. 1), 107.
6. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Baden-Baden 2000.
8. Görtemaker (wie Anm. 3), 15.
9. Siehe dazu Silnizki, M., Anarchie, Pentarchie und die Blocklogik der Konfrontation, in: ders., Auf dem
Wege zu einer anderen Staatenwelt? Im Spannungsfeld zwischen Blocklogik und Bündnisfreiheit. 17. März
2024, www.ontopraxiologie.de.
10. Görtemaker (wie Anm. 3), 15.
11. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
12. Maus, I., Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung, in:
Blätter f. deutsche u. internationale Politik 7 (2004), 835-850 (835).
13. Zitiert nach Othmar Nicola Haberl: Kommunistische Internationale, in: Pipers Wörterbuch zur Politik.
Bd. 4: Sozialistische Systeme. Piper 1981, 216.
14. Grewe, W. G., Machtprojektionen und Rechtsschranken. Baden-Baden 1991, 607; siehe auch Silnizki, M.,
Eindämmung, Zurückhaltung oder Deeskalation? Vom Irrweg der Eindämmungsstrategie Russlands. ??
April 2024, www.ontopraxiologie.de.
15. Löwith, K., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Tübingen 1983, 20 f.
16. Löwith (wie Anm. 15), 21.
17. Löwith (wie Anm. 15), 29.
18. Bultmann, R., Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958, 42.
19. Friedrich, H., Abendländischer Humanismus, in: Europa als Idee und Wirklichkeit. Freiburg 1955, 3-47
(46).
20. Löwith (wie Anm. 15), 214.
21. Löwith, K., Wissen, Glaube und Skepsis. Stuttgart 1985, 262 f.

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