Im Spannungsfeld zwischen Blocklogik und Bündnisfreiheit
Übersicht
1. Von Angst- und Verantwortungslosigkeit des Zeitgeistes
2. Anarchie, Pentarchie und die Blocklogik der Konfrontation
3. BRICS und das globale Machtgleichgewicht
Anmerkungen
„England ist im Niedergang begriffen. China befindet sich noch im 18. Jahrhundert,
Russland misstraut uns und macht uns seinerseits misstrauisch. Amerika ist die
einzige Großmacht, die den Frieden in der Welt aufrechterhalten kann.“
(Franklin Roosevelt, 1944)1
1. Von Angst- und Verantwortungslosigkeit des Zeitgeistes
Es gibt Zeiten, in denen die Welt Kopf steht, in Flammen aufgeht und wir auf das Allerschlimmste gefasst sein müssen. Diese Zeiten sind Kriegszeiten. Wie positionieren wir uns in solchen Zeiten? Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden zahllose Kriege statt. Europa blieb von all den Kriegen nicht nur weitegehend verschont, sondern war auch ein Kriegsprofiteur und hat davon gut gelebt.
Der seit gut zwei Jahren in Europa tobende Ukrainekonflikt hat allerdings eine ganz andere Qualität. Die Kriegsprofiteure sind heute die anderen: Die US-Amerikaner, die Chinesen, die Inder und selbst der sog. „Globale Süden“ profitieren mehr von dem Krieg als die EU-Europäer. Europa steckt tief im Schlamassel des Krieges fest und kennt keinen Ausweg.
Und was macht es daraus? Statt auf Diplomatie zu setzen, heizt es die Stimmung auf. Statt sich verbal abzurüsten, verschärfen die europäischen Macht- und Funktionseliten ihre Kriegsrhetorik. Im Glauben, unbestraft davon zu kommen, sparen sie nicht an Verunglimpfungen, Beschimpfungen und Diffamierungen Russlands und seiner Führung. In früheren Zeiten wären schon weniger scharfe verbale Attacken auf ein ausländisches Staatsoberhaupt ein Kriegsgrund.
Die EU-Europäer haben die Angst verloren, sie ignorieren Risiken und Gefahren, unterschätzen maßlos den geopolitischen Rivalen und überschätzen umso mehr die eigene ökonomische und militärische Macht. Das Paradebeispiel für diese Angstlosigkeit und Risikoignoranz ist eine unsäglich geführte Debatte über die Lieferung der Taurus-Raketen und/oder einen Einsatz von Bodentruppen der Nato-Staaten in der Ukraine.
Unlängst merkte ein Zeitungsjournalist zutreffend an: „Es ist an der Zeit, die Taurus-Debatte endlich zu beenden. … die Annahme, Taurus alleine würde dem Krieg die entscheidende Wendung zugunsten der Ukraine geben, (ist) ein Irrglaube.“2
Aber selbst das wäre halb so schlimm, hätte man eine realistische Beurteilung der eigenen Stärke, die des Gegners und vor allem des Kriegsgeschehens an der ukrainischen Front gehabt. Und so muss man sich solche „flotten“ Sprüche anhören, wie die verbalen Drohgebärden von Herfried Münkler, der in seinem jüngsten Handelsblatt-Interview vom 8. März 2024 tollkühn empfiehlt:
„Warum macht man Moskau über diplomatische Kanäle nicht klar: Wenn ihr weiterhin ukrainische Infrastruktur angreift, dann werden wir den Taurus liefern, damit auch die Ukraine eure Infrastruktur angreifen kann. Das wäre eine Art Doppelbeschluss: Wenn Russland auf eine bestimmte Form der Terrorisierung der ukrainischen Zivilbevölkerung verzichtet, dann verzichten wir darauf, den Taurus zu liefern.“
Dass Russland auf das empfohlene Husarenstück mit der gleichen Münze reagieren könnte, kommt Münkler nicht einmal in den Sinn. Münklers Anspielung auf den Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 ignoriert offenbar die Kehrseite der Medaille. Der Doppelbeschluss war eine Nato-Gegenreaktion auf die Stationierung der sowjetischen SS-20, welche die sowjetische Überlegenheit in Europa vergrößerte.
Sollte Deutschland die Taurus-Raketen liefern, würde Russland „über diplomatische Kanäle“ mit Gegenmaßnahme drohen, die Münkler nicht gefallen werden.
Ferner überschätzt Münkler, der von der in der Ukraine stattfindenden militärischen Revolution3 offenbar keine Ahnung hat, maßlos die militärische Bedeutung dieser in Rede stehenden Waffengattung. Sie ist keine Wunderwaffe und wird kaum das Kriegsgeschehen an der Front verändern.
Sie kann aber, sollte sie gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden, verheerende Wirkung haben und die Eskalation drastisch erhöhen. Man möchte dann nicht die Reaktion der Russen wissen wollen. Oder ist das unerklärte Ziel solcher Angst- und Furchtlosen nicht so sehr der Ukraine zu helfen, als vielmehr so viel Russen wie nur möglich zu töten? Will Münkler womöglich Revanche nehmen?
Wie auch immer, es ist doch erstaunlich, wie sehr Münkler um die ukrainische Infrastruktur und die „Terrorisierung der ukrainischen Zivilbevölkerung“ besorgt ist. Es ist nicht überliefert, dass er mit gleichem Eifer um die Terrorisierung der Zivilbevölkerung während des Kosovo-Krieges, Afghanistans- oder Irak-Krieges seitens der US-amerikanischen und Nato-Invasionstruppen besorgt war.
Und was die unterstellte „Terrorisierung der ukrainischen Zivilbevölkerung“ angeht, so ist sie verglichen mit der US-amerikanischen Kriegsführung harmlos. Oder weiß Münkler nichts davon? Zu Erinnerung:
Wie brutal die US-Kriegsführung sein kann, können wir nur mutmaßen, verschweigen doch die westlichen Massenmedien beharrlich die ganze Wahrheit über die US-Interventionen der vergangenen 25 Jahre vor der eigenen Öffentlichkeit. Gelegentlich können wir diese Brutalität an den blutrünstigen Überschriften zahlreicher US-amerikanischen Zeitungsartikel ablesen und nur erahnen, wie grausam die „friedensschaffende“ US-amerikanischen Kriegsführung war:
- „Bringing the Serbs to heel, a massive bombing attack opens the door to peace“ – cover of Time magazine (March 24, 1999).
- „Bombing Iraq Isn’t Enough“. By William Kristol and Robert Kagan (The New York Times, Jan. 30, 1998).
- „Bomb Syria, Even if It Is Illegal“. By Ian Hurd (The New York Times, Aug. 27, 2013).
- „To Stop Iran’s Bomb, Bomb Iran.“ By John R. Bolton (The New York Times, March 26, 2015).
Als der Nato-Pressesprecher Jamie Shea, der im Kosovokrieg den Begriff Collateral Damage geprägt hat, seine Pressekonferenz am 25. Mai 1999 hielt, wurde er vom Norwegian News Agency gefragt: „I am sorry Jamie but if you say that the Army has a lot of back-up generators, why are you depriving 70% of the country of not only electricity, but also water supply, if he has so much back-up electricity that he can use because you say you are only targeting military targets?“
Auf diese Frage hat Jamie Shea eine ebenso bemerkenswerte wie erbarmungslose Antwort gegeben: „Yes, I’m afraid electricity also drives command and control systems. If President Milosevic really wants all of his population to have water and electricity all he has to do is accept NATO’s five conditions and we will stop this campaign. But as long as he doesn’t do so we will continue to attack those targets which provide the electricity for his armed forces. If that has civilian consequences, it’s for him to deal with but that water, that electricity is turned back on for the people of Serbia. Unfortunately it has been turned off for good or at least for a long, long time for all of those 1.6 million Kosovar Albanians who have been driven from their homes and who have suffered, not inconvenience, but suffered in many cases permanent damage to their lives. Now that may not be a distinction that everybody likes but for me that distinction is fundamental.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wo war Münkler die ganze Zeit, als es um die Terrorisierung der jugoslawischen, afghanischen oder irakischen Bevölkerung ging? Hat ihn das Schicksal dieser Völker überhaupt nicht interessiert? Hat er damals überlegt, welche Waffen er an die terrorisierte Bevölkerung übergeben will, um Leib und Seele der Menschen zu schützen? Dass er seinerseits darüber besorgt war, ist ebenfalls nicht bekannt.
Jetzt will er aber die roten Linien ziehen und der nuklearen Supermacht Russland mit der Taurus-Lieferung drohen, auch wenn er der Gefahr einer solchen Eskalation durchaus bewusst ist. Denn er will nicht ausschließen, dass „die Russen“ im Falle der Zerstörung der Krim-Brücke „diesen Krieg massiv eskalieren“.
Auf die Frage des Interviewers, ob die massive Eskalation den Einsatz taktischer Nuklearwaffen bedeute, antwortet Münkler: „Wir sollten jetzt nicht so tun, als könne man das prinzipiell ausschließen. Die größte Rückversicherung dagegen ist Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, der als Hauptunterstützer Russlands keinerlei Interesse daran haben kann, dass es zu einer solchen Eskalation kommt.“
Es ist eine erstaunliche Argumentation, die hier von einem „großen“ Kenner der chinesisch-russischen Beziehungen, Münkler, stammt. Ausgerechnet das kommunistische Land China soll als Rückversicherer die westliche Eskalations- und Kriegspolitik absichern.
Wie kommt unser Nichtmilitärexperte aber auf diese geradezu „geniale“ Idee? Zugegebenermaßen steht er damit nicht ganz allein da. Unlängst behauptete sein Kollege, Andreas Heinemann-Grüder, genau dasselbe: „China hat dem Kreml deutlich gemacht, dass es den Einsatz von Atomwaffen ablehnt.“4
Die russisch-chinesischen Beziehungen geben das freilich nicht her.5 Münkler und Heinemann-Grüder verkennen offenkündig die Natur der informellen „Allianz“ zwischen Russland und China.
Zwischen Russland und China besteht kein Vasallitätsverhältnis. „Die Frage der Vasallität und der Hegemonie ist mit der Allianz unlöslich verbunden, sobald es sich nicht um ein Bündnis zwischen vollkommen Gleichen handelt.“6 Im Gegensatz zur Nato-Allianz, in der die europäischen Nato-Verbündeten sicherheitspolitisch im Abhängigkeitsverhältnis zum US-Hegemon stehen, ist die russisch-chinesische Beziehung eine Beziehung zwischen Gleichen.
Mehr noch: China hängt sicherheitspolitisch mehr von Russland ab als umgekehrt. Das zeigt sich allein schon daran, dass die Volksrepublik China seine strategischen Nuklearwaffen nahe an der Grenze zu Russland stationiert und sich damit automatisch unter nuklearem Schutzschild der Russen befindet. Sollten die USA China nuklear angreifen, würde Russland unmittelbar betroffen und entsprechend darauf reagieren.
Dass China eine besondere Rolle in den Außenwirtschaftsbeziehungen zu Russland unterhält, wodurch bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, die freilich nicht überbewertet werden dürfen, entkräftet die sicherheitspolitische Bedeutung Russlands für China nicht.
Münkler unterliegt darum einer gefährlichen Selbsttäuschung, wenn er glaubt, in China die „größte Rückversicherung“ für die westliche unbegrenzte Eskalationspolitik erblicken zu können. Er sollte sich lieber, statt eine weitere Eskalation zu predigen, mit der russischen Militärdoktrin zum Einsatz der Nuklearwaffen vertraut machen.
Und zu alledem: Wer zwingt eigentlich Deutschland, Europa und den Westen die Ukraine im Kampf gegen Russland zu unterstützen? Aus welchem Grund machen sie das? Zwecks Verteidigung des Völkerrechts, das der Westen ja selber im vergangenen Vierteljahrhundert mehrmals gebrochen hat? Um Russland ein für allemal eine Lehre zu erteilen? Oder will der Westen unter Führung des US-Hegemonen der ganzen Welt beweisen, dass er immer noch das Sagen hat, und jeden, der ihm im Wege steht, abgestraft und in die Schranken gewiesen werden kann?
Falls das der Fall sein sollte, so ist dieses Ziel dem Westen ordentlich misslungen und er ist auf der ganzen Linie gescheitert. 252 Milliarden Dollar hat der konsolidierte Westen bis dato im Ukrainekrieg pulverisiert. Und das Ergebnis sind hunderttausende Tote und ein zerstörtes und ruiniertes Land.
Schlimmer noch: Der Ukrainekonflikt hat genau das Gegenteil bewirkt, als der Westen sich erhofft hat. Statt der ganzen Welt die globale Führungsrolle der USA erfolgreich zur Schau zu stellen, hat sich der Westen militärisch und geoökonomisch blamiert und – was noch schlimmer ist – geostrategisch eine Entwicklung in Gang gesetzt, die ihn unter sich begraben kann.
Der Ukrainekonflikt hat eine geopolitische Revolution ausgelöst, die eine bereits stattfindende Emanzipation des Nichtwestens vom Westen regelrecht beschleunigt und das globale Machtgefüge zur Disposition gestellt hat. Und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten.
2. Anarchie, Pentarchie und die Blocklogik der Konfrontation
Nun präsentiert Münkler sich am Ende des Interviews als Geopolitiker, der selbstsicher in die Zukunft blickt und treffsicher seine Prognosen über die künftigen globalen Entwicklungen macht. So will er nach Aufforderung eines Interviewers „einen Blick in die Zukunft“ wagen und die Frage beantworten: „Wie könnte die europäische Sicherheitslage in fünf Jahren aussehen?“
„Wenn Donald Trump die Wahlen in den USA gewinnt und die USA sich als Hüter der Weltordnung, wie wir sie aus den letzten Jahrzehnten kannten, zurückziehen, ist Anarchie der Staatenwelt eine Möglichkeit. Ein Status also, bei dem kaum noch einer weiß, welches Bündnis am nächsten Tag gilt, wenn man abends einschläft. Es wäre eine Situation, wie wir sie tendenziell in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatten. Bündnisse zwischen Staaten wären dann Spielsteine, die man hierhin und dorthin gezogen werden.“
Und die Frage: „Was wäre die Alternative?“ beantwortet Münkler folgendermaßen:
„Eine Art Pentarchie, in der fünf Mächte – die USA, Europa, China, Russland und Indien – die Dinge wechselseitig beeinflussen. Das wäre das Optimum dessen, was herauskommen kann. Wenn diese fünf sich miteinander ins Benehmen setzen, dann werden die Kriege auch wieder weniger oder kürzer werden.“
Analysiert man näher die beiden Entwürfe für eine künftige Gestaltung der Weltordnung, so stellt man schnell deren fehlende Originalität fest. (1) Münkler verbleibt im ersten Entwurf tendenziell und prinzipiell in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ und empfiehlt die Perpetuierung der bestehenden unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen. Sollte die bestehende Weltordnung wegbrechen, bricht „Anarchie der Staatenwelt“ aus, warnt Münkler.
(2) Alternativ zu diesem anarchischen Weltzustand sieht er im europäischen „Mächtekonzert“ des 19. Jahrhunderts die Blaupause für eine globale Weltordnung. An Stelle der europäischen Pentarchie des 19. Jahrhunderts (Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich und Preußen) sollte aber jetzt eine globale Pentarchie des 21. Jahrhunderts (die USA, Europa, China, Russland und Indien) treten.
Das sind Phantasieentwürfe jenseits jeder geopolitischen Realität und ohne Zukunftsperspektive. Sie haben keine Zukunft, weil sie die geopolitischen Umwälzungen und Tendenzen der Gegenwart schlicht ignorieren und die Zukunft aus der Perspektive der nicht mehr reanimierbaren Vergangenheit zu eruieren suchen.
Zu (1): Das Denken in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ ist das Relikt der Vergangenheit und geht bereits auf die Bildung von Allianzen und Bündnissen im Zeitalter des europäischen Imperialismus zurück. Bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts waren „feste und zeitlich langfristige oder unbefristete Bündnisse zwischen den europäischen Staaten eine seltene Ausnahme“, weil das europäische Staatensystem auf einer Politik der Staatsräson beruhte, welche die Flexibilität bei der Machtverteilung ermöglichte.
Die Bündnispolitik in Europa änderte sich fundamental erst mit der Gründung des Deutschen Reiches durch Preußen. Das von Preußen zwischen 1864 und 1871 geeinte Reich veränderte die geostrategische Lage auf dem Kontinent. Damit war die Basis des europäischen Gleichgewichtssystems der Großmächte „aus den Angeln gehoben, die Struktur der Staatenwelt verändert,“ wodurch die Bündnispolitik im Europa der letzten beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg „allmählich feste und dauerhafte Konturen“ gewann.
„Die Erstarrung in der Konfrontation zwischen den beiden Bündnissystemen“ war nach Meinung von Lothar Ruehl die „Voraussetzung für den totalen Krieg zur Niederwerfung des Gegners“.7 Sieht man von der Zwischenkriegszeit ab, in der die Allianzen aus bekannten Gründen, auf die wir hier nicht eingehen und worauf Münkler aufmerksam gemacht hat, von geringerer Bedeutung waren, so änderte sich die Lage schlagartig mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: Die neue Kriegskoalition gegen Deutschland „gründete sich auf den Primat des Krieges mit dem einzigen gemeinsamen Ziel: dem Sieg“.8
Aus dieser gedrängten historischen Skizze geht die Erkenntnis hervor, dass die Erstarrung in der Konfrontation zwischen den Bündnissystemen bzw. eine starre und unflexible Blocklogik die „Voraussetzung für den totalen Krieg“ erst möglich macht und ihn regelrecht prädisponiert.
Dies vorausgeschickt, war das Ziel, das zwischen Roosevelt und Stalin auf der Konferenz in Jalta (Februar 1945) vereinbart wurde, eine die Bündnis- und Blocklogik transzendierende Weltorganisation zu schaffen, welche die Sicherung des Weltfriedens gewährleisten sollte. Was dann geschah, war genau das Gegenteil.
Die in San Francisco stattgefundene Konferenz (April/Juni 1945), um die geplante Weltorganisation (die UNO) von sechsundvierzig Staaten aus der Taufe zu heben, hat Roosevelts Ursprungsidee von der Weltorganisation über Bord geworfen.
Die UNO sollte auf vier Pfeilern ruhen, zwei westlichen und zwei östlichen: den USA, der UdSSR, Großbritannien und China. Roosevelt bezeichnete diese vier Mächte seine „Weltpolizisten“. „Bemerkenswert an dieser Konzeption war, dass sie auf gegebenen realen Machtpositionen beruhte und ideologische Diskrepanzen unbeachtet ließ.“9
Man konnte diesen ideologie- und bündnisfreien Grundsatz zur Gründung der Weltorganisation nur dann zerstören, wenn man die ideologischen Fragen in den Vordergrund schob und die Weltorganisation ideologisierte. Die zwei außenpolitischen Hardliner – Arthur Vandenberg und John Foster Dulles (der spätere US-Außenminister, 1953-1959)10 – haben genau das begriffen und alles getan, um an der erwähnten Konferenz die Sowjets zu isolieren und so die eigenen Vorstellungen von der UN-Weltorganisation durchzusetzen.
Der Stein des Anstoßes waren neben dem Argentinien-Zwischenfall11 vor allem und in erster Linie die Artikel 51 und 52 der UN-Charta. „Ihr Inhalt war solcher Art, dass die beiden Artikel die restlichen 109 der Charta aufhoben,“ stellt Matthias empört fest und fährt fort: „Es wurde mit der linken Hand ausgewischt, was mit der rechten geschrieben worden war. Der eine Artikel (Art. 51) enthielt die Bestimmung, dass >im Fall eines bewaffneten Angriffs auf ein Mitglied< … dieses >das inhärente Recht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung< besitzen solle, solange der Sicherheitsrat noch keine Entscheidungen getroffen habe; und der zweite Artikel (Art. 52) bestimmte, dass >nichts in der vorliegenden Charta< die Mitgliedstaaten behindere, >regionale Vereinbarungen … für die Behandlung von Angelegenheiten zu treffen, die sich auf die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und die (internationale) Sicherheit beziehen …<.“12
Solche „regionalen Vereinbarungen“ sind aber genau das, was durch die Konstituierung der UNO gerade verhindert werden sollte. Sie sind nur „eine andere Bezeichnung für Bündnisse und die hat es nicht nur immer gegeben, sondern sie sind auch in einer großen Anzahl von Fällen der Anlass zu Kriegen gewesen. Um diese Bündnisse, diese Blockbildungen zu verhindern, sollte ja gerade eine Organisation geschaffen werden, durch die internationale Fragen auf einer anderen, friedlicheren Ebene behandelt werden konnten.“13
Resümierend stellt Matthias sodann fest: Der „Artikel 52 gestattete durch die Verwendung des Begriffs >regional< eine legale Isolierung der Sowjetmacht. Er gestattete internationale Blockbildungen, wie sie durch die UNO vermieden werden sollten, und damit war der Hebel gegeben, um die Idee der UNO zu reversieren.“14
Roosevelts Idee von einer Weltorganisation ohne Blöcke und Bündnisse wurde von seinen Nachfolgern ins Gegenteil verkehrt. Ob die Nachkriegsordnung eine andere Entwicklung genommen hätte, hätte die Idee von der kollektiven Sicherheit unter Führung von vier „Weltpolizisten“ verwirklicht werden können, bestreitet Werner Link.
Die ideologischen und geopolitischen Gegensätze zwischen Ost und West erhielten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges „wieder ein größeres Gewicht“. Zudem war seiner Meinung nach „die Machtdifferenz zwischen den Hauptkontrahenten so enorm, dass die Verwirklichung des integrativen Konzepts die Unterordnung des Schwächeren (UdSSR) unter den Übermächtigen (USA) bedeutet hätte. Statt der gemeinsamen Steuerung der Weltpolitik durch die Großmächte, die de facto einer kooperativen Suprematie der USA gleichgekommen wäre, entstanden im Zeichen regressiver Einflusssphärenpolitik bipolare Allianzsysteme, die den Regeln der Gegenmachtbildung folgten.“15
Dass die bipolaren Allianzsysteme nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, ist ein historisches Faktum. Ob sie vermeidbar waren, ist eine müßige Frage. Eines wird aber dessen ungeachtet deutlich: Die Blockbildungspolitik führt als Relikt des Zeitalters des europäischen Imperialismus – ideologisch angereichert – in ihrer letzten Konsequenz zum absoluten Freund/Feind-Denken, das die ideologischen Fronten zementiert und erstarren lässt, wodurch jeder Kompromiss als Verrat „an der eigenen Sache“ angesehen und schlussendlich bis zum „Endsieg“ gekämpft wird.
Die von Münkler favorisierte unipolare Weltordnung, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden ist und an deren Spitze die USA als „Hüter der Weltordnung“ stehen, ist im Grunde die Vollendung des Zeitalters des europäischen Imperialismus, dessen Blocklogik selbst die zwei Weltkriege und den „Kalten Krieg“ überdauerte.
Jetzt wird dieses Denken in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ zum Verhängnis der westlichen Geopolitik, weil sie unflexibel, starr, ideologisch fixiert und folglich jedem Kompromiss abträglich ist. Diese Geopolitik hat sich verrannt, ist perspektivlos und darum zum Scheitern verurteilt.
3. BRICS und das globale Machtgleichgewicht
Der französische Vordenker Raymond Aron unterschied einst „drei Typen des Friedens, Gleichgewicht, Hegemonie, Imperium: in einem historisch gegebenen Raum sind die Kräfte der politischen Einheiten im Gleichgewicht, oder sie werden von einer unter ihnen beherrscht oder von einer unter ihnen so weit überflügelt, dass alle Einheiten außer einer ihre Autonomie als Zentren politischer Entscheidungen verlieren und zu verschwinden denken. Der imperiale Staat behält sich schließlich das Monopol der legitimen Gewalt vor.“16
In welchem „historisch gegebenen Raum“ befindet sich der gegenwärtige „Typ des Friedens“? Eine globale Machtbalance können wir von vorn herein ausschließen, da allein schon in Europa seit dem Ende der bipolaren Weltordnung eine Macht-Dysbalance herrscht.17
Vor dem Hintergrund der (noch) bestehenden unipolaren Weltordnung könnte man vermuten, dass der globale Raum nur von einem einzigen Machtzentrum geleitet wird und „alle Einheiten außer einer ihre Autonomie als Zentren politischer Entscheidungen“ verlieren. Dem ist aber nicht (mehr) so. Man muss nicht bis auf den Wahlsieg von Donald Trump warten, um mit Münkler davor zu warnen, dass sich „die USA sich als Hüter der Weltordnung“ zurückziehen.
Zum einen zieht der US-Hegemon seine globale Führungsrolle nicht freiwillig zurück. Zu viel steht für ihn auf dem Spiel. Zum anderen ist der Erosionsprozess der US-Hegemonie voll im Gange und es bestehen bereits mehrere Machtzentren, welche jede Diskussion über das Fortbestehen der US- Hegemonialordnung als Phantomdebatte erscheinen lassen.
Der Ukrainekrieg zeigt, dass die USA als die Ordnungsmacht in Europa ihre Hegemonialstellung verloren hat. Die unbestreitbare militärische, ökonomische und monetäre Überlegenheit der USA und des konsolidierten Westens war offenbar nicht so groß, als dass Russland sich nicht getraut hätte, den Status quo in Europa in Frage zu stellen.
Erst recht kann von einem „imperialen Staat“, der sich „das Monopol der legitimen Gewalt“ vorbehält, keine Rede mehr sein. In welchem „historisch gegebenen Raum“ befindet sich nun die Welt von heute? Und welchen „Typ des Friedens“ können wir in naher Zukunft erwarten und/oder erhoffen?
Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Wir befinden uns in einer Übergangszeit, in der die Großmächterivalität mit einem ungewissen Ausgang tobt. Und dieser Ausgang wird über das Schicksal der künftigen Weltordnung entscheiden.
Die zweite Frage ist hingegen schwer zu beantworten. Münkler spekuliert, wie gesehen, auf eine „Art Pentarchie, in der fünf Mächte – die USA, Europa, China, Russland und Indien – die Dinge wechselseitig beeinflussen. Das wäre das Optimum dessen, was herauskommen kann. Wenn diese fünf sich miteinander ins Benehmen setzen, dann werden die Kriege auch wieder weniger oder kürzer werden.“
Das ist, gelinde gesagt, eine völlige Verkennung der geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart. Eine Pentarchie kann es gar nicht geben, da die EU ein Objekt und kein Subjekt der Geopolitik ist, solange die EU-Staaten ein untrennbarer Bestandteil des Nato-Bündnisses bleiben.
Europa ist zu einer geopolitischen Provinz verkommen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befindet es sich in einer sicherheitspolitischen Abhängigkeit vom US-Hegemonen, ist geopolitisch nicht handlungsfähig und wird von den anderen Großmächten Russland und China nicht ernstgenommen.
Was Indien angeht, so ist es geopolitisch (noch) zu schwach, um eigenständig mitspielen zu können. All das ist aber trotzdem nicht das Wesentliche bei einer Neuordnung der Welt.
Das Hauptproblem besteht nämlich darin, dass wir mit zwei konträren geopolitischen Philosophien zu tun haben, die unversöhnlich einander gegenüberstehen und eine konsensuelle Friedens- und Sicherheitsordnung praktisch verunmöglichen. Es findet im gewissen Sinne die Wiederkehr der bereits oben geschilderten Ereignisse im Vorfeld der Gründung der UN-Weltorganisation, die letztendlich den „Kalten Krieg“ präjudiziert haben, statt.
Es gibt jedoch einen markanten Unterschied. Die USA waren 1945 mit ihrer geoökonomischen und geopolitischen Gestaltungskraft alternativlos, sieht man von der ideologischen Konfrontation ab. Heute sieht die geopolitische Realität ganz anderes aus. Es gibt zum Westen unter Führung des US-Hegemonen mit den BRICS-Staaten eine ernstzunehmende Alternative.
Der Westen und die BRICS verkörpern zwei sich selbst ausschließende geopolitische Konzepte, denen zwei diametral entgegengesetzte Ordnungsvorstellungen zugrunde liegen. Die eine beruht auf der Blocklogik und Bündnisbildung und das ist das Relikt des „Kalten Krieges“, wohingegen die andere, sich ohne dessen bewusst zu sein, Roosevelts ursprüngliche Idee von einer ideologie- und bündnisfreien Weltorganisation zu eigen macht.
Die BRICS-Staaten treten heute in Erscheinung als eine Staatenwelt, die einer UN-Weltorganisation im verkleinerten Format von immerhin ca. 3,5 Milliarden Bevölkerung ohne ein „Weltdirektorium“, sprich: einen Weltsicherheitsrat, ähnelt.
Dieser BRICS-Staatenwelt möchten sich immer mehr Staaten anschließen und es stellt sich die Frage: Wieso hat diese neue Staatenformation für den Nichtwesten bzw. den sog. „Globalen Süden“ eine solche Anziehungskraft? Das hat etwas mit der geopolitischen Philosophie der BRICS zu tun.
Im Gegensatz zum Westen, dem die Grundprinzipien der „ideologischen Homogenität“, Blocklogik und Weltdominanz zugrunde liegt, orientiert sich die BRICS-Staatenwelt an einer axiologischen Heterogenität, Anti-Blocklogik und einer anti-hegemonialen Machtpolitik.
Dem westlichen Block steht nicht etwa ein feindseliger Gegenblock gegenüber. Neben dem Westen entsteht vielmehr eine Parallelwelt mit dem Ziel, außen- und sicherheitspolitisch, aber auch ökonomisch, monetär und axiologisch derart unabhängig und eigenständig existieren zu können, dass sie sich jedem Diktat und allen Sanktionen und Erpressungen des Westens zu widersetzen vermag.
Das ist die Quintessenz der geopolitischen Konzeption der BRICS-Staaten, die in ihrer letzten Konsequenz auf die Formierung, Entwicklung und Ausbildung eines globalen Machtgleichgewichts hinauslaufen könnte.18
Weil aber eine auf einem Machtgleichgewicht gegründete geopolitische Philosophie tendenziell und potenziell dem US-Hegemonialanspruch bzw. der unipolaren Weltordnung zuwiderläuft, gefährdet sie zwangsläufig die westliche Weltdominanz, auf die die transatlantischen Eliten selbstverständlich nicht verzichten wollen und können.
Die Zukunft wendet sich vom Westen ab. Ob die Zukunft der BRICS-Staatenwelt gehört, steht noch in den Sternen.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Aron, R., Die imperiale Republik. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die übrige Welt
seit 1945. Stuttgart/Zürich 1975, 68.
2. Specht, F., Irrglaube an die Wunderwaffe Taurus, Handelsblatt, 12. März 2024, 13.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Die militärische Revolution. Der Ukrainekrieg aus Sicht eines russischen
Militärexperten. 18 Februar 2024, www.ontopraxiologie.de.
4. Heinemann-Grüder, A., Kein Ende des Ukrainekrieges? In: Ukraine-Analysen, Nr. 295, 23.02.24, 7-9.
5. Zur russisch-chinesischen Beziehungen siehe meine zwei Studien: Zwei geopolitische Philosophien. Folgen
des BRICS-Gipfels. 11. September 2023, www.ontopraxiologie.de; Außenpolitisches Denken in Russland
vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges. Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten.
19. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 99.
7. Ruehl (wie Anm. 6), 100 f.
8. Ebd., 102.
9. Matthias, L. L., Die Kehrseite der USA. Rowohlt 1964, 108.
10. Zu Dulles´ Außenpolitik siehe statt vieler Drummond, R./Coblentz, G., Duell am Abgrund. John Foster
Dulles und die amerikanische Außenpolitik. 1953-1959. Berlin 1961; Craig, G., John Foster Dulles und die
amerikanische Staatskunst, in: ders., Krieg, Politik und Diplomatie. Hamburg 1968, 335-359; Horowitz, D.,
Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam. Berlin 1976.
11. Näheres dazu Matthias (wie Anm. 9), 108 f.
12. Matthias (wie Anm. 9), 110.
13. Ebd., 111.
14. Ebd., 112.
15. Link, W., Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert.
Stuttgart 1980, 208.
16. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1963, 183.
17. Vgl. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022,
www.ontopraxiologie.de.
18. Näheres dazu Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels. 11. September
2023, www.ontopraxiologie.de.