Die Kriegspartei und die Militarisierung des öffentlichen Diskurses
Übersicht
1. Gefangen in der Logik des Krieges
2. Ist die SPD eine Kriegspartei?
3. Friedlosigkeit aus Ahnungslosigkeit?
Anmerkungen
Wer in der Logik des Krieges gefangen ist, für den
ist jedwede Diplomatie ein Dorn im Auge.
1. Gefangen in der Logik des Krieges
In der gegenwärtig aufgeheizten Stimmung spielt die Militarisierung der Außenpolitik und des öffentlichen Diskurses zunehmend eine beherrschende Rolle. Fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem beinahe endgültigen Ableben der Kriegsgeneration kehren wir erneut zur Sprache und Logik des Krieges zurück – im trügerischen Glauben, Russland nun endlich eine „strategische Niederlage“ zufügen zu können.
Vergessen sind zwei verheerende Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Vergessen sind die kolossalen Zerstörungen und Opfer, die Deutschland und Europa im Zweiten Weltkrieg infolge des Rassenwahns des Nationalsozialismus erlitten hat. Vergessen ist das jahrzehntelang mantraartig wiederholte Leitmotiv der deutschen Außenpolitik der Nachkriegszeit: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“!
Davon möchten wir heute nichts mehr wissen und hören. Heute streiten wir lediglich darüber, wie viel Waffen und welche Art von Waffen an eine der Kriegsparteien in der Ukraine geliefert werden dürfen. Um so viele Russen wie nur möglich zu töten? Um die Revanche an der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und an der jahrzehntelangen Besetzung von Teilen Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu nehmen?
Nein, nein, sagt uns die Kriegspartei. Wir müssen unsere „Freiheit“ und „Demokratie“ gegen Putins „Neoimperialismus“ und „Revanchismus“ verteidigen. Die Ukraine sei unser Vorposten im Kampf gegen den russischen „Militarismus“ zur Verteidigung unserer Lebensweise. Um den Krieg zu beenden, müssen wir den Krieg im Namen des Friedens führen und getreu Orwells Formel handeln: „Krieg ist Frieden!“
Deswegen finanziert die EU den Ukrainekrieg aus dem am 22. März 2021 eingerichteten Fond namens „Europäische Friedensfazilität“. Friedensfazilität zur Finanzierung des Krieges!? Hoch lebe der Krieg im Namen des Friedens, will die Kriegspartei uns damit sagen.
Ohne den Krieg gebe es keinen Frieden! Denn „der Krieg ist der Vater aller Dinge“ (Heraklit)! Die Diplomatie habe ausgedient! Der Krieg habe endlich das Ruder übernommen, freut sich die Kriegspartei. Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind wir vom Frieden müde geworden.
Wir lechzen nach Rache und Bestrafung des „Friedensstörers“ Russland, das unsere Friedens- und Sicherheitsordnung verletzte, unsere „regelbasierte Ordnung“ in Frage zu stellen wagte usw. usf.
Dieser auf Revanche, Hochmut, Selbstüberschätzung und Selbstgerechtigkeit fixierte öffentliche Diskurs in Deutschland und Europa hat die Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges längst vergessen und ignoriert auch heute die grausamen Realien des Krieges in der Ukraine und das sinnlose Gemetzel an der ukrainischen Front. Das interessiert unsere Kriegspartei freilich ganz und gar nicht.
Sie will endlich ihren Traum vom Sieg über Russland erleben dürfen. Seit zwei Jahren träumt sie davon. Und nun ist sie verunsichert. „Verliert die Ukraine den Krieg?“, fragte Wolfang Ischinger kürzlich in seinem Handelsblatt-Artikel vom 12. Februar 2024, um gleich darauf beschwörend zu antworten und seinen Kriegsgenossen Mut zu machen: „Die Ukraine darf und wird nicht verlieren, sondern sich weiter erfolgreich durchsetzen.“
Wie die afrikanischen Voodoo-Priester ihre Geister beschwören, so beschwören Ischinger und die Befürworter der Fortsetzung des Krieges den Sieg über die Russen. Aus der Geschichte haben er und seine Mitstreiter offenbar nichts gelernt.
Welche „Russen“ will Ischinger aber besiegen: „Russen“ aus der Ukraine oder Putins „Russen“?
In einem dem bekannten US-Moderator Tucker Carlson gegebenen und am 9. Februar 2024 ausgestrahlten Interview hat Putin ganz am Schluss des zweistündigen Gesprächs eine Geschichte von der Front erzählt: „Es gibt einen Zusammenstoß auf dem Schlachtfeld. Ein konkretes Beispiel: Ukrainische Soldaten sind umzingelt … Unsere Soldaten rufen Ihnen zu: >Es gibt keine Chancen, kapituliert! Komm raus, ihr werdet am Leben bleiben, gib auf!< (Шансов нет, сдавайтесь! Выходите, будете живы, сдавайтесь!). Und plötzlich rufen sie von dort auf Russisch: >Russen ergeben sich nicht!< (Русские не сдаются!) – und alle starben.“
Die Erzählung schließt Putin mit den Worten ab: „Sie fühlen sich bis heute als Russen (Они до сих пор русскими себя ощущают). So gesehen, ist das, was geschieht, gewissermaßen ein Bürgerkrieg.“
Welche „Russen“ möchte die Kriegspartei nun in diesem Bürgerkrieg mehr getötet sehen: diejenigen, die für die Kiewer Zentralregierung kämpfen, oder Putins „Russen“? Nach >glaubhaften< Berichten sprechen die sog. „informierten Quellen“ von 500.000 bis 600.000 getöteten und verwundeten ukrainischen Militärangehörigen. Was die russische Seite betrifft, so steht die Opferzahl nach Angaben der russischen Führung im Verhältnis von 1 zu 7 bzw. 1 zu 8.
Wie auch immer man zu diesen Zahlen stehen mag, auf ukrainischem Boden tobt ein Bürgerkrieg unter den Ostslawen unabhängig davon, wie sie heißen. Im Glauben damit Russland schwächen zu können, begreift die Kriegspartei nicht, dass sie genau das Gegenteil bewirkt. Russland wird von Kriegsjahr zu Kriegsjahr immer kriegserprobter, kriegserfahrener und lernt im Gegensatz zur Nato, die einen solchen Krieg noch nie geführt hat, einen Krieg des 21. Jahrhunderts zu führen.
Es steigt schon jetzt selbst im konventionellen Bereich zu der stärksten Militärmacht der Welt auf, vom Nuklearmachtpotential ganz zu schweigen. Deswegen konnte Putin auch in seinem eben erwähnten Interview selbstbewusst und selbstsicher betonen: Der Westen wolle eine „strategische Niederlage“ Russland. Das werde per definitionem nie passieren. Das sei völlig ausgeschlossen.
Putins Selbstsicherheit wird indirekt auch von manchen westlichen Militärexperten geteilt. In seiner umfangreichen Studie „Russia’s Adaptation Advantage“ für Foreign Affairs vom 5. Februar 2024 weist Mick Ryan (Militärstratege u. Generalmajor der australischen Armee) „Russlands Überlegenheit bei der strategischen Adaptation“ (vgl.: Russia is superior at strategic adaptation) nach und fügt anschließend hinzu:
„Je länger dieser Krieg dauert, desto besser wird Russland sich darin anzupassen lernen und eine effektivere, moderne Kampftruppe aufbauen. … Wenn Russlands Vorsprung bei der strategischen Adaptation ohne eine angemessene Reaktion des Westens anhält, dann ist das Schlimmste, was in diesem Krieg passieren kann, nicht so sehr eine Pattsituation als vielmehr eine ukrainische Niederlage“ (The longer this war lasts, the better Russia will get at learning, adapting, and building a more effective, modern fighting force. … if Russia’s edge in strategic adaptation persists without an appropriate Western response, the worst that can happen in this war is not stalemate. It is a Ukrainian defeat).
Eine beispielslose Militarisierung des öffentlichen Diskurses hat die Logik des Krieges in den vergangenen zwei Jahren in unserem Bewusstsein fest verankert und alles über Bord geworfen, was auf eine diplomatische Lösung des Konflikts hindeuten könnte. Schlimmer noch: Manch einer muss sich heute sogar dafür rechtfertigen, dass er von einem Frieden und nicht vom „Endsieg“ über das „bolschewistische“, pardon: „Putins Russland“ spricht. Was macht das schon für einen Unterschied, ob Russland heute „rot“ und „totalitär“ oder „weiß“ und „autoritär“ ist? Russland bleibe für die Kriegspartei in welcher Gestalt auch immer die existentielle Bedrohung des Westens?
Statt „Visionen von einem globalen Frieden“ (visions of global peace) erleben wir gut dreißig Jahre nach dem Ende des „Kalten Krieges“ „die wachsende Gefahr eines globalen Krieges“ beklagt sich Hal Brands in seinem jüngsten, für Foreign Affairs am 26. Januar 2024 verfassten Beitrag „The Next Global War“. Und er erinnert seine Landsleute daran, dass dem letzten globalen Krieg (the last global war) genauso wie heute zahlreiche Konflikte vorausgegangen sind.
Gefangen in der Logik des Krieges, merken wir heute nicht mehr, wie sehr wir unsere Sprache und unser Denken militarisiert haben und wie wenig wir begreifen, wie tief wir in diesem Krieg bereits verstrickt sind, aus dem kein Entrinnen mehr ist. Diese als längst überwunden geglaubte Kriegsrhetorik verspricht nichts Gutes und alles deutet auf deren Verschärfung und eine weitere Eskalation und Konfrontation hin.
2. Ist die SPD eine Kriegspartei?
Kehren wir also wieder in die Zeiten des „Kalten Krieges“ oder gar zu den „glorreichen“ Zeiten des „tausendjährigen Reiches“ zurück, um unsere „deutsche Freiheit“ und unsere „deutsche Lebensart“ gegen die „russische Bestie“ zu verteidigen? Dass diese „Bestie“ nukleare Zähne hat, möchten wir gar nicht wissen. Wir lassen uns weder einschüchtern noch Angst einjagen. Furchtlos bereitet die Kriegspartei die deutsche Bevölkerung erneut auf einen Krieg vor.
In „fünf bis acht Jahren“ könnte es möglich sein, dass Russland ein Nato-Land angreife, phantasiert der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Und der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, eifert ihm pflichtbewusst nach: Es sei erforderlich, dass die Bundeswehr binnen fünf Jahren „kriegstüchtig“ werde.
„Das heißt nicht, dass es dann Krieg geben wird. Aber er ist möglich“, sagte Breuer neuerlich der „Welt am Sonntag“ beschwichtigend. Und die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, fordert gar eine nukleare Aufrüstung.
Sie teile die Meinung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, es sei klar im US-Interesse, der EU auch weiterhin nukleare Abschreckung „maßgeblich bereitzustellen“, erklärte sie. Doch müsse man mit Blick auf Donald Trumps Äußerungen davon ausgehen, dass „darauf kein Verlass mehr“ sei. Auf die nukleare Aufrüstung der EU angesprochen, meinte Barley: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann das … auch ein Thema werden“ (zdf.de 13.02.2024).
Man fragt sich verwundert: Warum soll Russland ein Nato-Land erst in „fünf bis acht Jahren“ und nicht gleich morgen oder übermorgen angreifen? Und wieso wird die Bundeswehr erst binnen fünf Jahren „kriegstüchtig“? Sind wir heute noch nicht „kriegstüchtig“? Heißt das etwa, dass wir heute auf Putins imaginären Angriff noch nicht vorbereitet sind? Warum soll er uns dann nicht gleich angreifen?
Dieses sinnentleerte Gerede von der „russischen Gefahr“ ist verantwortungslos, schürt es doch in unverantwortlicher Weise die Angst vor einer imaginären Bedrohung. Das Gerede dient nur einem einzigen Zweck: die deutsche Wiederaufrüstung zu legitimieren, eine weitere Kriegsfinanzierung der Ukraine zu rechtfertigen und in ihrem Kampf gegen Russland militärisch zu unterstützen.
Es waren Zeiten, als die SPD noch eine Friedenspartei war. Nachdem die Kriegsgeneration von Willy Brandt und Helmut Schmidt das Zeitliche gesegnet hat, mutiert die SPD immer mehr zu einer Kriegspartei. Und diese Tendenz hat sich lange vor dem Ukrainekrieg angebahnt.
Wir schreiben das Jahr 1999, als die Bundesregierung unter Führung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte einen Tabubruch begangen hat: die Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien.
Bereits kurz nach dem Beginn des Kosovo-Krieges behauptete Schröder: „Wir haben eine Entscheidung getroffen, die nach unserer Auffassung ohne Alternative war“ (Der Spiegel 15 (1999), 32). Und der grüne Vizekanzler Joschka Fischer pflichtete dem Kanzler nach dem Kriegsende bei: „Es gab nie wirklich eine Alternative, selbst für die nicht, die diesen Krieg heftig kritisiert haben“ (Der Spiegel 25 (1999), 34).
Die historischen Forschungsergebnisse widersprechen entschieden dieser Auffassung.1 Man fragt sich zudem irritiert: Wie kann man das „internationale Recht“ bzw. die „Herrschaft des Rechts“ durchsetzen, indem man es gleichzeitig bricht? Der Einsatz der militärischen Gewalt erfolgte ohne die Zustimmung des Weltsicherheitsrates.
Die mittlerweile zur Kriegspartei mutierte SPD soll sich heute zu Willy Brandts Ostpolitik bekennen und statt „kriegstüchtig“ wieder friedenstüchtig werden, zumal die sog. „Kriegstüchtigkeit“ im nuklearen Zeitalter ein Unding, ein unverantwortliches Gerede ist und zwecks Mobilisierung und Manipulierung der Massen propagiert wird.
Wenn Pistorius und seine Kriegspartei SPD glauben, dass ein imaginärer Krieg zwischen Russland und der Nato mit dem in der Ukraine vergleichbar sein würde, dann unterliegen sie einer lebensgefährlichen und darum unverzeihlichen Illusion. Der Krieg zwischen Russland und der Nato wird sofort in einen nuklearen Schlagabtausch ausarten.
Pistorius´ Parole: Kriegstüchtigkeit zwecks Abschreckung hat Helmut Schmidt bereits 1965 als Unfug zurückgewiesen: „Ich habe leider noch immer den Eindruck, dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“2
Im Jahr 2024 haben wir nicht mehr den Erkenntnisstand des Jahres 1965! Die Sicherheitspolitik des „Kalten Krieges“ zeigt dabei einen klaren Zusammenhang von Abschreckungsstrategie und Aufrüstung, insbes. Nuklearaufrüstung. Eine der Konsequenzen dieses sicherheitspolitischen Zusammenhangs wurde nach Beobachtung von Dieter Senghaas „in sich auffächernden Rüstungspotentialen gesehen. Ihr Wachstum wurde als Ausfluss vielfältiger Impulse und (in der Tendenz) eigendynamischer Rüstungsprozesse, als Rüstungsdynamik, begriffen. Diese Beobachtung führte zur These >autistischer< Verursachung von Rüstungen.“3
Heute beobachten wir etwas ganz anderes – eine Entwicklung zu einem geopolitischen Autismus4, der in Verbindung mit einer in Rede stehenden Ankurbelung der Rüstungsindustrie und vor dem Hintergrund des tobenden Krieges in Europa einen neuen Aufrüstungswettlauf und daran gekoppelt eine Rüstungs- und Eskalationsdynamik auslösen könnte, ohne damit die Einhegung des Krieges erreichen zu können.
Sich zu Tode rüsten und hoffen, dass das Totrüsten auf den geopolitischen Rivalen abschreckend wirkt, wie der alte Kalte Krieger, Ischinger, in seinem oben erwähnten Artikel erneut propagiert, ist eine Strategie, die genau das Gegenteil bewirken kann.
Abgesehen davon, dass für einen Aufrüstungswettlauf wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ eine ideologische Mobilisierung der Massen und die Zurverfügungstellung gigantischer monetärer Ressourcen erforderlich sind, deutet eine solche Strategie auf ein unausrottbares „Autismus-Model“5 hin, das letztlich auf Abschreckung um Abschreckung willen hinausläuft, dessen Wirkung gleich null ist, weil Russland sich von den Drohgebärden der verzwergten EU-Europäer gar nicht abschrecken lässt.
Statt „Kriegstüchtigkeit“ und Abschreckung zu propagieren, soll die SPD die Kriegstreiber dieser Republik nicht von links überholen, sondern sich auf ihre Tradition als Friedenspartei besinnen und zur Friedenspolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt zurückkehren, bevor es zu spät wird.
3. Friedlosigkeit aus Ahnungslosigkeit?
Die Verschärfung der Kriegsrhetorik ist nur, oberflächlich gesehen, dem Krieg in der Ukraine geschuldet. Tatsächlich liegen die Gründe in einer seit Jahren zu beobachtende Destabilisierung der unipolaren Weltordnung, die ihrerseits auf einen unaufhaltsamen Erosionsprozess der US-Hegemonie, einen fulminanten ökonomischen Aufstieg Chinas und der Wiedererstarkung Russlands als einer militärischen Großmacht zurückzuführen ist.
Diese Entwicklung führt zu einem beispielslosen geopolitischen Konflikt der Großmächte, die ihren Zielen, Intentionen und Vorhaben nach nicht unterschiedlicher sein können. Der US-Hegemon führt an mehreren Fronten mittlerweile einen aussichtslosen geoökonomischen, geopolitischen und globalen Kampf gegen die Gegner, die immer zahlreicher werden.
Wie ein steter Tropfen den Stein höhlt, so wird auch die US-Hegemonie von allen Seiten bedrängt und ausgehöhlt. Die USA verlieren allmählich und unaufhaltsam an ihrer weltpolitischen Gestaltungskraft. In dieser prekären Lage suchen sie den Druck weiterzugeben und die nicht mehr zu stemmenden Lasten vor allem auf ihren engsten Verbündeten in Europa abzuwälzen.
Die erneut in Rede stehende Abschreckungsstrategie ist darum primär auf die geopolitischen und geoökonomischen Schwierigkeiten der USA zurückzuführen, im globalen Raum Herr der Lage zu werden. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind, wie gesagt, vor allem die EU-Europäer, die offenbar bereit und willig sind, die Bürde des Ukrainekrieges auf sich zu nehmen, um den US-Patron zu entlasten.
Das wäre auch kein Problem, wäre Europa dem Ukrainekonflikt ökonomisch, finanziell und militärisch gewachsen. Dem ist aber bei weitem nicht so. Deswegen versuchen die EU-Europäer mit der Kriegsrhetorik ihre eigene von Anfang des Krieges an fehlgeleitete Strategie zur Schwächung Russlands zu überspielen und geraten dadurch immer tiefer in den Morast des Krieges, ohne eine gangbare Alternative zu finden, um daraus gesichtswahrend herauszukommen.
Nach der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive 2023 ist die Anti-Russland-Koalition ratlos. Kurzfristig kann sie aus den bekannten Gründen der begonnenen russischen Offensive außer Mutmacher-Sprüchen kaum etwas entgegensetzen. Langfristig setzt sie auf die aus der Mottenkiste des „Kalten Krieges“ geholte Abschreckungsstrategie, die außer Drohgebärden nach Ischingers Art de facto keine Wirkung entfalten kann.
Denn was Ischinger empfiehlt, ist geradezu haarsträubend. Er will „einfach den Spieß“ umdrehen und an Moskau die Botschaft richten: Die Ukraine erhalte „weiter reichende Systeme wie etwa Taurus“, falls „ein weiterer Beschuss ziviler Objekte in der Ukraine“ stattfinde. „Dann wäre es an Russland, westliche rote Linien zu überschreiten oder eben nicht,“ schreibt Ischinger kaltschnäuzig in dem oben zitierten Artikel.
„Westliche rote Linien“? Droht der Westen im Namen von Ischinger etwa der nuklearen Supermacht Russland? Will Ischinger einen Krieg gegen Russland provozieren? Ist er sich darüber überhaupt im Klaren, dass Russland in der Lage wäre, Deutschland in wenigen Stunden in Schutt und Asche zu legen?
Und was wäre, wenn Russland tatsächlich „westliche rote Linien“ als Reaktion auf Taurus-Lieferungen überschreitet und z. B. eine ballistische Rakete Richtung Deutschland abfeuert? Welche Empfehlungen würde der alte Kalte Krieger dann abgeben? Will Ischinger den Dritten Weltkrieg auslösen? Oder glaubt er: Die Russen würden sich nicht trauen, entsprechend zu reagieren? Darauf sollte er lieber nicht wetten!
Nein, diese Kriegsrhetorik ist völlig deplatziert. Die Fixierung der europäischen bzw. US-Geo- und Sicherheitspolitik allein auf die Logik des Krieges und der Abschreckung ist zwar vor dem Hintergrund des tobenden Krieges in Europa verständlich. Sie führt aber in eine sicherheitspolitische Sackgasse und nicht zum Abbau der Spannungen zwischen Russland und dem Westen und zum Nachdenken nach einer neuen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa.
Zu einem solchen Abbau der Spannungen gibt es mittel- bis langfristig keine friedenspolitisch sinnvolle Alternative. Diese beinahe pathologische Fixierung auf die vermeintliche „russische Gefahr“6 steht gleichzeitig in einem direkten Zusammenhang zur beharrlichen Ausblendung der Entstehung und Ausbildung einer (noch) informellen Allianz zwischen Russland, China, Nordkorea und den Iran als eine mächtige Gegenmacht gegen das westliche Militärbündnis.
Mit anderen Worten, man darf Russlands Militärpotential nicht isoliert von der im Entstehen begriffenen Allianz betrachten. Im Gegensatz zur Sowjetunion ist Russland zwar keine militärische Weltmacht mit weltweiten Ambitionen, wohl aber eine eurasische Großmacht mit einem militärisch begründeten weltpolitischen Status.
Dieser weltpolitische Status der eurasischen Großmacht wird vom Westen aus Machtarroganz ignoriert und dadurch die weltpolitische Bedeutung Russlands im globalen Mächtekonzert unterschätzt, was freilich die friedensgefährdende Kriegslogik fördert und den europäischen und weltweiten Frieden gefährdet.
Anmerkungen
1. Vgl. Silnizki, M., Ist „das Zeitalter des humanitären Interventionismus“ zu Ende? Stellungnahme zu Jürgen
Trittins These. 13. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
2. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1965, 24.
3. Senghaas, D., Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung. Frankfurt 1986, 10 f.
4. Silnizki, M., Geopolitischer Autismus. Zwischen Selbstgerechtigkeit und Bildungslosigkeit. 20 November
2023, www.ontopraxiologie.de.
5. Senghaas (wie Anm. 3), 12.
6. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022,
www.ontopraxiologie.de.