Verlag OntoPrax Berlin

Weltkrise oder Westenkrise?

Heinrich A. Winkler und die Glaubwürdigkeit des Westens

Übersicht

1. „Weltkrise“ und der „militante Humanismus“
2. Der alte Kalte Krieger

Anmerkungen

„Der Teufel und nur er allein kann es ex definitionem niemals
rechtmachen, denn teuflisch ist, was immer er tut.“
(Golo Mann)

1. „Weltkrise“ und der „militante Humanismus“

Der Sphinx der deutschen Nachkriegsgeschichte hat gesprochen. In einem Handelsblatt-Interview vom 15. Dezember 2023 hat der 85 Jahre alte Historiker Heinrich August Winkler auf die Frage des Interviewers, ob er „Hoffnungen“ sehe, „dass das Jahr 2024 ein besseres Jahr wird“, geantwortet: „Ich bin Historiker und kein Prophet. Aber ich habe den Eindruck, dass wir in eine Phase kumulativer Herausforderungen eingetreten sind, die noch eine Weile anhalten wird. Wir erleben eine Weltkrise.“

Die Äußerung wäre an und für sich belanglos, hätte Winkler nicht von einer „Weltkrise“ gesprochen. Was er genau unter „Weltkrise“ versteht, bleibt freilich im Dunkeln. Was diese „Weltkrise“ ausgelöst hat, dessen ist Winkler allerdings ganz sicher. Das ist seiner Meinung nach zum einen die „wachsende Macht autoritärer Regime, gegen die die westlichen Demokratien sich nur behaupten können, wenn sie glaubwürdig mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen“.

Zum anderen ist das die Tatsache, dass der Westen den „Zenit seiner weltpolitischen Geltung … seit Langem überschritten (hat)“ und „sich in der Defensive (befindet)“. Die „wachsende Macht autoritärer Regime“ und der sinkende westliche Stern am weltpolitischen Horizont identifiziert Winkler als die die „Weltkrise“ auslösenden Ursachen.

Wann dieser krisenhafte Prozess in Gang gesetzt wurde und wer ihn ausgelöst hat, wird nicht näher erläutert. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass der Westen – sollte er sich behaupten können – mit seiner eigenen Vergangenheit „glaubwürdig“ umgehen soll. Was Winkler unter „Glaubwürdigkeit“ versteht, erläutert er ebenfalls nicht.

Immerhin stellt Winkler seine Diagnose über die „Weltkrise“ in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem Erosionsprozess der „weltpolitischen Geltung“ des Westens, der immer mehr in eine „Defensive“ gerate und seine „Glaubwürdigkeit“ auf das Spiel setze.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob hier nicht eine Begriffsverwechslung stattfindet und es nicht so sehr um eine „Weltkrise“ als vielmehr um eine Westenkrise – eine Krise der fünfhundert Jahre andauernden westlichen Vormachtstellung in der Welt – geht, deren „Zenit“, worauf Winkler ja selbst hinweist, längst überschritten ist.

Sollte eine Westenkrise stattfinden, dann würde das bedeuten, dass wir einen krisenhaften Transformationsprozess der vom Westen bis dato dominierten Weltordnung in ein anderes, noch im Entstehen begriffenes und sich vom Westen immer mehr emanzipierendes Weltordnungssystems erleben, wogegen sich der Westen mit Händen und Füssen wehrt.

Die Vehemenz, mit der der Westen sich gegen diesen Emanzipationsprozess des Nichtwestens – der Weltmehrheit – wehrt, verschärft nur noch die „Weltkrise“ als Westenkrise – als Krise der westlichen Institutionen, der „westlichen Werte“ und der westlichen Lebensstile und Weltdeutungen, die immer mehr an Anziehungskraft verlieren.

Aber genau diese dramatischen, die ganze Welt umfassenden und umwälzenden Prozesse will Winkler einfach nicht wahrhaben. Gegen Ende seines Interviews tröstet er sich damit, dass die „Anziehungskraft westlicher Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Menschenrechte … nach wie vor ungebrochen (ist). Das zeigen die Freiheitsbewegungen in Hongkong, Belarus und Iran. Die Idee der Freiheit ist stärker als die tristen Parolen aus den Hauptstädten autoritärer Staaten“, schließt Winkler pathetisch sein Interview ab.

Das ist aber nichts weiter als Selbsttäuschung und Realitätsverweigerung der transatlantischen Eliten, deren prominentester Repräsentant der Historiker Winkler auch ist. Sie möchten nicht wahrhaben, dass die sog. „Freiheitsbewegungen in Hongkong, Belarus und Iran“ nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind und den Lauf der Weltgeschichte, die auf das Ende der westlichen Weltdominanz bzw. der US-Hegemonie hindeutet, nicht mehr verändern können.

Der Abwärtstrend hat sich etabliert und verfestigt und der Grund dafür liegt nicht zuletzt in der Militarisierung der westlichen bzw. der US-amerikanischen Außenpolitik. 2007 nannte Lothar Brock diese nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stattgefundene Entwicklung eine „Enttabuisierung des Militärischen“.

Und die Fakten sprechen für sich: der Kosovokrieg (1999), der zwanzigjährige Afghanistankrieg (2001-2021), der achtjährige Irakkrieg (2003-2011), Libyenkrieg (2011) usw. Diese Kriege sind Winkler aber nicht einmal erwähnenswert. Sein Freiheitspathos klingt darum hohl. Es verschleiert nur die eben erwähnten zahlreichen westlichen bzw. US-Interventionen und Invasionen, die mit ihrer Missionierung von Demokratie und Menschenrechten mittels des „Military Humanism“ (Noam Chomsky)1 dem Nichtwesten in den vergangenen Jahrzehnten viel Elend und Zerstörung der elementaren Lebensgrundlagen gebracht haben, von den Hundertausenden Menschenleben ganz zu schweigen.

Die Getöteten und Geschundenen benötigen freilich keine Demokratie und Menschenrechte mehr, weil ihnen das elementarste Menschenrecht – das Recht auf Leben – gewaltsam versagt wurde.

Und so muss man immer wieder daran erinnern, was Ingeborg Maus bereits 1999 zutreffend diagnostizierte: „Die militärische Intervention zum Zweck der Menschenrechte kommt als militärisch nicht umhin, gleichzeitig ganz fundamentale Menschenrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu verletzen, ohne doch die Zustimmung der betroffenen Individuen als Träger dieser Rechte einholen zu können. Menschenrechte werden so von individuellen subjektiven Rechtsansprüchen zu objektiven Systemzwecken verkehrt“2 und missbraucht.

Winkler blendet zusammen mit der gesamten transatlantischen Macht- und Funktionselite diese Entwicklung einfach aus und macht damit sich und dem Publikum nur etwas vor. Die sog. „westlichen Werte“ sind in der nichtwestlichen Welt längst diskreditiert.

Die im vergangenen Vierteljahrhundert mit rabiater Gewalt stattgefundenen Interventionen und Invasionen zwecks Oktroyierung von Demokratie und Menschenrechten haben den Westen, vor allem die USA, unglaubwürdig gemacht. Deswegen spricht Winkler ja selber verschämt und verklausuliert von einer „Vergangenheit“, mit der der Westen „glaubwürdig“ umgehen soll.

Er sagt allerdings nicht, welche „Vergangenheit“ er hier eigentlich meint und wie „glaubwürdig“ der Westen mit dieser undefinierten „Vergangenheit“ „umgehen“ sollte. Es ist alles andere als müßig, sich mit den beiden aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen, weil sie die Kernfragen dessen sind, was die Westenkrise ausgelöst hat.

Der Kosovokrieg (1999) offenbarte zum ersten Mal und mit aller Deutlichkeit die Folgen des Untergangs des Sowjetreiches. Er war die Geburtsstunde einer neuen, vom US-Hegemon geführten unipolaren Weltordnung. Die ganze Tragweite des Transformationsprozesses von der Nachkriegsordnung in eine unipolare Weltordnung ging zunächst verborgen vor sich. Erst die nachfolgenden militärischen Interventionen und Invasionen haben ihn sichtbar werden lassen.

Mit dem Kosovokrieg demonstrierte die Nato einerseits eindrucksvoll ihr neues Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“; andererseits öffnete er die bellizistische „Büchse der Pandora“.

Nachdem der Geist des „militanten Humanismus“ („Military Humanism“) aus dieser „Büchse“ entwichen war, war es praktisch nicht mehr möglich, den bellizistischen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen. Die Folgen waren und sind desaströs. Die axiologische Selbstverblendung und Selbstbeweihräucherung des Westens haben Millionen Menschenleben gekostet. Nach Angaben von Costs of War Project, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des `Anti-Terror-Kriegs“ . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen. Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen sicher nachgewiesen sind, davon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt“.3

Andere Quellen geben noch viel schlimmere Zahlen an: Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“ geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“. In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“.4

Aus diesem bellizistischen Teufelskreis kommt der Westen nicht mehr raus! Er bleibt der Gefangene seiner „heilen Welt“ von Demokratie und Menschenrechten. Die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) wird deswegen unvermindert fortbestehen. Der liberale Friede in der innerwestlichen Welt wird weiterhin mit Chaos, Verwüstung, Verelendung und Zerstörung der nichtwestlichen Welt erkauft.

Diese „ruhmreiche“ Vergangenheit wird von Winkler nur verschämt erwähnt, vage angedeutet, um gleich darauf zum nächsten Thema überzugehen. Das nennt sich wohl nach Winklers Leseart ein „glaubwürdiger“ Umgang mit der „eigenen Vergangenheit“. Dieser „glaubwürdige“ Umgang hat zwar die Westenkrise nicht ausgelöst, wohl aber dramatisch beschleunigt.

Der Auslöser der Westenkrise war hingegen eine exzessive Militarisierung der Außenpolitik und nicht die „wachsende Macht autoritärer Regime“, wie Winkler beteuert. Diesen sog. „autokratischen Regimen“ sind im vergangenen Vierteljahrhundert keine Millionen von Menschen zum Opfer gefallen. Von den westlichen Missionaren der Demokratie und Menschenrechten kann man das leider nicht behaupten.

Die verwüsteten, zerstörten und geschundenen Teile des Nichtwestens (Nahe Osten, Vorderasien, Nord- und Nordost-Afrika usw.) und die durch westliche Sanktions- und Wirtschaftskriege betroffenen Länder lassen sich diese Entwicklung nicht mehr tatenlos und unbestraft gefallen. Sie formieren sich in unterschiedlicher Art und Weise und auf verschiedenen Ebenen zur Abwehr gegen die äußere westliche Übermacht, von der sie sich bedroht und erpresst fühlen.

Und so entsteht eine merkwürdige geopolitische Gemengelage, die gleichzeitig aus einer emotionalen Hassliebe-Beziehung, geo- und sicherheitspolitischen Spannungen und direkten und indirekten militärischen Konfrontationen zusammengesetzt ist.

Und diese giftige Mixtur zeigt dem Westen seine Grenzen – die Grenzen seiner ökonomischen, monetären und militärischen Omnipotenz – und stürzt ihn in eine Krise, welche seine weltpolitische Stellung aushöhlt und konterkariert. Der Nichtwesten lässt zugleich die westliche Welt nicht mehr in Ruhe und kehrt wie ein Bumerang rachedurstig immer wieder und immer öfter mit Attentaten, Terror und Zerstörung in den Westen zurück, um dessen „heile Welt“ auch leidend sehen zu können.

Und so ist eine Westenkrise entstanden, die der Westen mittels seiner militanten Außenpolitik nicht mehr in den Griff bekommt.

Je elender das Innenleben des Nichtwestens wird, umso strahlender erscheint wiederum für die nichtwestliche Unterschicht der westliche Stern am Wohlstandshimmel, umso höher ist die Anziehungskraft des Westens (allerdings nicht im demokratischen und menschenrechtlichen Sinne des Wortes, wie Winkler zu wissen glaubt), umso mehr strömen alle Geschundenen dieser Erde in das „gelobte Land“, um von den „westlichen Werten“ nicht nur zu hören, sondern diese auch hautnah miterleben zu dürfen, und umso „prominenter“ wird weiterhin die Rolle des Westens „im Gewaltgeschehen der Gegenwart“5 sein.

Damit befindet sich der Westen in einem scheinbar nie enden wollenden Teufelskreis der geopolitischen, sozialpolitischen, emigrationspolitischen, wirtschafts- und finanzpolitischen usw. Konfrontation, aus der kein Entrinnen mehr ist. Diese Selbstzermürbung des Westens und Zermürbungstaktik der nichtwestlichen Welt machen die „Weltkrise“ als Westenkrise aus.

2. Der alte Kalte Krieger

Vor diesem Hintergrund erscheint auch Winklers Kritik der russischen Invasion in der Ukraine völlig unglaubwürdig. Der Westen hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und die transatlantischen Macht- und Funktionseliten haben nichts anderes im Sinn, als das Problem dadurch ausblenden und vergessen zu lassen, indem sie stets versuchen, die Ziele, Vorhaben und Vorgehensweise des geopolitischen Rivalen zu denunzieren, diffamieren, desavouieren, destruieren und letztendlich zu delegitimieren.

Was der Westen gestern für sich als völlig legitim und gerechtfertigt in Anspruch nahm, bezeichnet er heute im Fall Russland als inakzeptabel, ja als „Kriegsverbrechen“ schlechthin. Das ist ein geopolitischer Opportunismus. Diese Geisteshaltung verfängt zwar in Westen, wird aber im Nichtwesten bzw. im sog. „Globalen Süden“ mittlerweile als „doppelzüngig“ und „scheinheilig“ angeprangert und folgerichtig zurückgewiesen.

Nach dem Motto: „Angriff sei die beste Verteidigung“ gibt auch Winkler seine noch aus den Zeiten des „Kalten Krieges“ stammende Geisteshaltung zum Besten. Mit ganzer Wucht seiner historiographischen Kompetenz macht er sich das Lieblingsthema der transatlantischen Medien seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu eigen und betreibt Russland-Bashing.

Eine historiographische Kompetenz genügt aber nicht über die komplexen geo- und sicherheitspolitischen Probleme der Gegenwart urteilen zu können. Voll im Trend der aufgeheizten antirussischen Stimmung in den Mainstream-Medien stehend, übernimmt Winkler kritiklos und unreflektiert das Credo der vorherrschenden Mainstream-Stimmung und wiederholt die üblichen Vorurteile, Vorwürfe und Klischees über die vermeintlichen russischen Ziele, Absichten und Folgewirkungen des Ukrainekonflikts.

„Russland darf nicht als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen. Sonst würde die Ukraine nicht das letzte Opfer der imperialistischen Politik Russlands bleiben. Die Folgen eines russischen Sieges wären eine ungeheure Bedrohung für Europa und den gesamten Westen.“

Eine „ungeheure Bedrohung für Europa“? Woher weiß Winkler das so genau? Sagt er ja selber nicht in seinem Interview: „Ich bin Historiker und kein Prophet“? Was er hier beteuert, hat weder mit Historiographie noch mit Prophetie etwas zu tun, wohl aber mit seiner aus dem „Kalten Krieg“ hervorgegangenen Geisteshaltung. Hier spricht weder der Historiker noch der Prophet, sondern der alte Kalte Krieger.

„Die Chloroformierung der Öffentlichkeit“ nannte Helmut Wolfgang Kahn (1922-2005) 1969 diese Geisteshaltung inmitten des „Kalten Krieges“.6

Viele Behauptungen kommen „als Glaubenssätze“ einher: die „Aggressivität der Russen“; die Furcht vor einem grenzenlosen Sowjetexpansionsdrang, der ganz Westeuropa überrennen will; die Überzeugung, dass jedes totalitäre System imperialistische Politik betreibe, die demokratisch verfassten Gesellschaften bedrohe und überhaupt nach der Weltherrschaft strebe usw.

Golo Mann merkte bereits 1964 zu der These, dass die demokratisch regierten Staaten nie mutwillig einen Krieg beginnen können, an: Es bestehe „kein automatisch wirkender Zusammenhang … zwischen Friedfertigkeit und Demokratie. … Immanuel Kant hat das geglaubt, Woodrow Wilson hat das geglaubt. Die Erfahrungen unseres Jahrhunderts sollten uns eines Besseren belehrt haben.“7

Und im Zeitalter des „militanten Humanismus“ ist die Erkenntnis vom fehlenden Zusammenhang zwischen Friedfertigkeit und Demokratie heute über jeden Zweifel erhaben. Nun beteuert Winkler antifaktisch: „Putin hat mit dem Angriffskrieg die Charta von Paris von 1990 zerrissen, also die Grundlage für die Welt nach dem Kalten Krieg.“

Man fragt sich verwundert: Wo war Winkler denn die vergangenen fünfundzwanzig Jahre, als die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen zahlreiche völkerrechtswidrigen Angriffskriege geführt haben? Oder will er behaupten, dass der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien – der Kosovokrieg genannt – kein Zerreißen der Charta von Paris von 1990 war? Zerstörte der Westen nicht bereits 1999 „die Grundlage für die Welt nach dem Kalten Krieg“?

Und hat der völkerrechtswidrige Angriffskrieg im Irak nicht die UN-Charta missachtet? Selbst ein solcher Falke wie der ehem. Neokonservative Max Boot, den die World Affairs Councils of America 2004 zu einem der „500 einflussreichsten Personen in den USA im Bereich der Außenpolitik“ ernannte und 2003 vehement den Irakkrieg befürwortete, musste zwanzig Jahre später reumütig zugeben, dass die US-Irakinvasion ein grober Fehler war.

Von einer „gefährlichen Naivität“ (dangerous naiveté) sprach Boot in diesem Zusammenhang. Die „Regime change“-Politik habe seiner Meinung nach in Afghanistan und im Irak versagt und ein regelrechtes „Fiasko“ erlebt. Aus dieser bitteren Erkenntnis ergibt sich für Boot, dass die USA beim Einsatz militärischer Gewalt (the use of military power) vorsichtiger als in den berauschenden Tagen des „unipolar moment“ nach dem Kollaps der Sowjetunion sein müssen.8

Und heute möchte Winkler uns weismachen, dass „Putin mit dem Angriffskrieg die Charta von Paris von 1990 zerrissen (hat)“? Schlimmer noch: Mit seinem Plädoyer „für die Lieferung der Marschflugkörper vom Typ Taurus“ und seiner Behauptung, dass sich Russland sicherheitspolitisch vertragswidrig verhalte, erweist Winkler sich nicht nur als ein Hardliner, für den der „Kalte Krieg“ offenbar nie zu Ende war, sondern auch als ein Ahnungsloser, der nicht einmal weiß, dass die in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges ausgebildete Friedens- und Sicherheitsordnung der eigentliche Grund für die nun schon dreißig Jahre andauernden Spannungen zwischen Russland und dem Westen ist.

Als Historiker, der von der westlichen bzw. US-Geo- und Sicherheitspolitik der vergangenen drei Dekaden offenkündig keine blanke Ahnung hat, maßt er sich an zu behaupten: „Eine Sicherheitsarchitektur mit Russland kann es nur geben, wenn es vertragswillig und vertragsfähig ist. Putins Russland ist weder das eine noch das andere. So lange muss die Sicherheit vor und gegen Russland im Vordergrund stehen.“

Offenbar ist Winkler derart unzureichend informiert, dass er nicht einmal weiß, dass „die Sicherheit vor und gegen Russland“ spätestens seit der Entscheidung der Clinton-Administration für die Nato-Osterweiterung um die Mitte der 1990er-Jahre besteht9 und mit einer erfundenen Vertragswidrigkeit Russlands nicht im Geringsten etwas zu tun.

Es ist zudem gar nicht klar, worauf Winkler seinen Vorwurf der Vertragsuntreue eigentlich bezieht. Meint er „die Charta von Paris von 1990“, so wurde dieser Vorwurf bereits entkräftet. Bezieht er seine theatrale Empörung auf das Minsker-Abkommen, das er gar nicht erwähnt hat, so hat die Ukraine dessen Umsetzung mit wohlwollender Zustimmung des Westens und insbesondere der USA im Gegensatz zu „Putins Russland“ stets torpedierte.10

Zuallerletzt meint Winkler in Beantwortung der Frage, ob „der Westen die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen“ solle: „Nichts wäre schädlicher, als der Ukraine Anweisungen geben zu wollen, wann sie zu verhandeln habe. Das muss in Kiew entschieden werden.“

Wenn man diese Passage liest, so fragt man sich, ob Winkler überhaupt weiß, wer in der Ukraine heute das Sagen hat, welche Ukrainepolitik der Westen bzw. die USA betreiben und dass die Ukraine nicht Subjekt, sondern Objekt des Verfahrens ist.

Glaubt er wirklich, dass die Entscheidungen in Kiew und nicht in Brüssel, Paris, Berlin und vor allem im Washington getroffen werden? Glaubt er wirklich, dass die Ukraine, deren Kriegsführung vom Westen bis dato mit schätzungsweise weit über 200 Milliarden Dollar finanziert wurde, irgendetwas zu sagen hat?

Und warum sollte der Westen die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen, wo er doch alles getan hat, die Ukraine im März/April 2022 vom Friedensverhandlungstisch zu zerren, damit sie gegen Russland weiterkämpft?11

All das interessiert Winkler freilich ganz und gar nicht. Im Interview tritt er eher als Ideologe des „Kalten Krieges“ denn als aufgeklärter und kenntnisreicher Historiker, eher als der alte Kalte Krieger denn als Verkünder der „Weltkrise“ auf. Putins Ukrainepolitik ist alles Mögliche, nur keine „imperialistische Politik“ zwecks Wiederherstellung des Sowjetreiches.

Darum ist auch Winklers Beteuerung völlig abwegig: Russland sei eine „ungeheure Bedrohung für Europa und den gesamten Westen“, sollte es in der Ukraine erfolgreich werden. Und so jagt Winkler einem Phantom – dem Phantom des Sowjetreiches – nach, das längst untergegangen und nicht mehr wiederherstellbar ist.

Wenn man die geo- und sicherheitspolitische Realität allein durch die ideologische Brille betrachtet, dann, ja dann redet man entweder an der Realität vorbei oder betreibt bewusst oder unbewusst Schwarzmalerei.

In den ideologischen Schutzgräben des „Kalten Krieges“ tief eingegraben, begreift Winkler – stellvertretend für die gesamte transatlantische Elite – nicht, dass eben diese ideologischen Scheuklappen der eigentliche Grund für die Westenkrise geworden sind. Was auch immer Russland tut oder unterlässt, sei alles getreu dieser Indoktrination des Teufels Werk. Und der Teufel – lehrte uns Golo Mann – „kann es ex definitionem niemals rechtmachen, denn teuflisch ist, was immer er tut.“

Anmerkungen

1. Noam Chomsky, The New Military Humanism. Lessons from Kosovo. London 1999.
2. Maus, I., Der zerstörerische Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in der aktuellen
nationalstaatlichen und internationalen Politik (1999), in: des., Über Volkssouveränität. Elemente einer
Demokratietheorie. Berlin 2011, 359-374 (361).
3. Zitiert nach „Bilanz des Anti-Terror-Kriegs“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
4. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen,
Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt
Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132, 141 f.).
5. Lothar Brock, Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: International Kontexte
der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Schattenseiten des
Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
6. Kahn, H. W., Die Russen kommen nicht. Fehlleistungen unserer Sicherheitspolitik. München/Bern/Wien
1969, 16.
7. Mann, G., Wenn der Westen will, in: Neue Rundschau 75 (1964), 592-610 (599).
8. Näheres dazu Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der „dangerous naiveté“ in der US-
Außenpolitik. 21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
10. Vgl. Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik
Erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Vgl. Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im
März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.

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