Verlag OntoPrax Berlin

Im Machtschatten des Krieges

Die US-Russlandanalyse in Kriegszeiten

Übersicht

1. Die neue Generation
2. Die Generation des „Kalten Krieges“
3. Eine sicherheitspolitische Neuordnung Europas

Anmerkungen

„Sie nennen sich >Realisten< und sind in Wahrheit Illusionisten,
die an der Wirklichkeit vorbeisehen.“
(Helmut W. Kahn)1

  1. Die neue Generation

Die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit stets und immer wieder geschürte Angst, dass Russland – sollte es die Ukraine erobern und/oder zerschlagen – Appetit auf mehr bekomme, auf eine weitere Expansion hinaus sei und in die baltischen Staaten, Finnland oder Polen einmarschieren würde, ist genau dieselbe Angstmacherei wie der längst vergessene Schlachtruf des „Kalten Krieges“: „Die Russen kommen“.

Helmut Wolfgang Kahn war einer der wenigen, der inmitten des „Kalten Krieges“ in seinem 1969 erschienenen Werk mit dem trotzigen Titel „Die Russen kommen nicht“2 der gezielt geschürten Angsthysterie eine klare Absage erteilt hat. Die Geschichte hat ihm – wie man heute weiß – recht gegeben: Die Russen kamen nie.

Heute hat man die Geschichte des „Kalten Krieges“ längst vergessen. Heute heizen die Angst- und Stimmungsmacher den Krieg bis zum ukrainischen „Endsieg“ im Namen einer ephemeren „Freiheit“ und eines „gerechten Friedens“ an und schüren erneut Angsthysterie. Sie streuen alle möglichen Gerüchte, Desinformationen, Falschbehauptungen über die Hintergründe, Ursachen und Motive des Ukrainekonflikts, um die deutsche und die europäische Öffentlichkeit von der Fortsetzung des Krieges zu überzeugen – im naiven Glauben Russland ein für alle Mal eine Lehre zu erteilen bzw. eine „strategische Niederlage“ zuzufügen.

Diese gleichzeitig geschürte Russenangst und Rachegelüste sind eine gefährliche Mixtur, die unseren Geist betäubt, unsere Sinne vernebelt, die Katastrophen der zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die Lehren des „Kalten Krieges“ vergessen lässt. Sie erzeugt nur Hass und Wut und kann uns schneller, als wir denken können, ins Steinzeitalter zurückwerfen.

Nur eine geängstigte, indoktrinierte und zugleich hassgeimpfte Bevölkerung lässt sich leicht manipulieren, gängeln und regieren. Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille; eine andere ist der Umstand, dass die Manipulierer und Angstmacher in ihrer Selbstüberschätzung und Großmannssucht selber zum Opfer ihrer eigenen Kriegspropaganda geworden sind.

Diese Angst erzeugende Stimmungslage äußert sich nicht zuletzt in den zahlreichen transatlantischen Publikationen, die insbesondere in den einflussreichen US-amerikanischen Mainstream-Medien regelmäßig erscheinen. Zwei solche Veröffentlichungen sind neuerlich in ein und derselben Zeitschrift Foreign Affairs erschienen, deren Verfasser zwar zwei verschiedene Generationen repräsentieren. Die beiden sind aber dessen ungeachtet in der Beurteilung, Bewertung und Würdigung des Ukrainekonflikts grundsätzlich einig.

Die Repräsentanten der neuen Generation der US-amerikanischen Russlandanalysten, Samuel Charap und Kaspar Pucek, haben einen Artikel „Rightsizing the Russia Threat“ am 3. Oktober 2023 veröffentlicht. Und der Veteran des „Kalten Krieges“, Robert M. Gates (ehem. CIA-Direktor (1991-1993) und US-Verteidigungsminister (2006-2011)), verfasste bereits kurz zuvor eine umfangreiche, am 29. September 2023 erschienene Studie in der gleichen Zeitschrift Foreign Affairs unter dem bezeichnenden Titel „The Dysfunctional Superpower“.

Wenden wir uns zunächst der Veröffentlichung von Charap/Pucek zu. Gleich im Untertitel des Artikels „Whatever Putin’s Intentions Are, He Is Hemmed In by Limited Capabilities“ (Was auch immer Putins Absichten sind, er ist durch begrenzte Fähigkeiten eingeschränkt) kommt zum Vorschein, was dem außenpolitischen Denken des US-Establishments heute so charakteristisch ist: Eine Unterschätzung des geopolitischen Rivalen und die eigene Selbstüberschätzung.

Man darf den Gegner – erst recht einen solchen wie Russland – nie unterschätzen. Russland ist nicht so stark, wie es vorgibt, aber auch nicht so schwach, wie man denkt. Dass Moskaus Fähigkeiten einer Kriegsführung limitiert sind, ist eine Erfindung der transatlantischen Kriegspropaganda zwecks eigener Selbstberuhigung und Irreführung der Öffentlichkeit.

Die Gründe für diese im Westen weit verbreitete, nicht desto weniger aber völlig abwegige These lieferte Charap in einer bereits im Januar 2023 erschienenen und zusammen mit Miranda Priebe verfassten Studie der RAND Corporation „Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“ (Einen langen Krieg vermeiden. US-Politik und der Verlauf des Russland-Ukraine-Konflikts).

In der RAND-Studie beteuert Charap, dass „Moskaus nichtnukleare Eskalationsoptionen begrenzt sind, da die konventionellen Fähigkeiten Russlands in der Ukraine dezimiert wurden. Sollte Russland weitere große Verluste auf dem Schlachtfeld erleiden, könnte bei den Entscheidern im Kreml Verzweiflung ausbrechen. Sobald andere konventionelle Eskalationsoptionen ausgeschöpft sind, könnte Moskau auf die Atomwaffen und insbesondere auf den Einsatz NSNW (nonstrategic nuclear weapons) zurückgreifen, um eine katastrophale Niederlage zu verhindern“ (vgl. Russia’s conventional capabilities have been decimated in Ukraine, Moscow’s nonnuclear escalatory options are limited. If Russia experiences further large-scale battlefield losses, desperation could set in among senior Kremlin decisionmakers. Once other conventional escalatory options have been exhausted, Moscow may resort to nuclear weapons, and specifically NSNW use, to prevent a catastrophic defeat).

Auf einem solchen analytischen Niveau bewegt sich nun auch die neue Studie. Die selbstgestellte Frage, was Putin will, beantworten Charap/Pucek anhand einer Untersuchung der vier Denkrichtungen:

  • Die erste Denkrichtung ist die der sog. „Maximalisten“. Putins Invasion in der Ukraine sei ihrer Meinung nach „nur der erste Schritt in einem viel größeren Versuch der Vorherrschaft, der sich über die Ukraine hinaus erstrecken wird. Putin ist aus dieser Sicht ein Maximalist“ (Putin, in this view, is a maximalist).

Putins Ansprüche gehen über die Ukraine hinaus nach Europa und Eurasien“, zitieren Charap/Pucek die Anhängerinnen dieser Denkrichtung, Angela Stent und Fiona Hill. „Das Baltikum könnte auf seiner kolonialen Agenda stehen, ebenso wie Polen.“

Getreu dem unterstellten neokolonialen Expansionsdrang werde Putin „nicht aufhören, bis er eine Version des Russischen Reiches oder zumindest eine Einflusssphäre wiederhergestellt hat, die über die Ukraine hinausgeht.“ Und sollte Putin im Ukrainekonflikt obsiegen, würde sein „Expansionslust nicht an der ukrainischen Grenze enden. Die baltischen Staaten, Finnland, Polen und viele andere Länder, die einst Teil des russischen Imperiums waren, könnten von Angriffen oder einer Subversion bedroht sein,“ zitieren sie erneut Stent/Fiona.

Diese zitierte Pseudoanalyse, welche Putins Kriegsziele als neokolonialistisch, neoimperialistisch und expansionistisch denunziert, bezweckt entweder die westliche Mitverantwortung für den Ukrainekrieg zu verschleiern oder ignoriert aus Unkenntnis die Vorgeschichte des Konflikts und schürt gezielt – was noch schlimmer ist – Angst, um die öffentliche Meinung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen.

Und so kommentieren Charap/Pucek diese Angst schürende Denkrichtung mit den Worten: „Sollte Putin in Osteuropa solche imperialistischen Ambitionen hegen, würden seine Absichten teilweise denen Hitlers und Stalins ähneln.“ Die Gleichsetzung Putins mit Hitler und Stalin ist heute zum guten Ton der westlichen Kriegspropaganda geworden.

  • Eine zweite Denkrichtung sieht in Putin einen „Völkermörder“. Mit Verweis auf den Historiker David Marples, die Schriftstellerin Anne Applebaum und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die allesamt behaupten, dass Putin „nicht nur einen Krieg um das Territorium, sondern auch eine Kampagne mit völkermörderischer Absicht“ (Applebaum) bzw. „eine offensichtliche Politik des Völkermords“ (Selenskyj) führt, zitieren Charap/Pucek kritiklos die gesamte Palette der ukrainischen und westlichen Kriegspropaganda: „die Massentötung von Zivilisten, die Folter und Vergewaltigung von Gefangenen, die vorsätzliche Bombardierung von Wohnvierteln und die Entführung und Deportation ukrainischer Kinder nach Russland“ usw.

„Die Parlamente Kanadas, der Tschechischen Republik, Estlands, Irlands, Lettlands, Litauens und Polens haben sich der Ukraine angeschlossen und die russische Aggression in der Ukraine offiziell zum Völkermord (Genozid) erklärt,“ fügen Charap/Pucek hinzu. Freilich haben unsere Autoren vergessen zu erwähnen, dass ca. vier Millionen Ukrainerinnen seit dem Kriegsausbruch nach Russland geflüchtet sind, ohne dass sie dort verfolgt, gefoltert, diskriminiert, in die Konzentrationslager gesteckt oder gar systematisch ermordet werden.

Zwar distanzieren sich unsere Autoren von dieser antirussischen Hetze – aber nur deswegen, weil Putin ihrer Meinung nach „nicht über die (ausreichenden) Ressourcen verfügt, um die maximalen oder völkermörderische Ziele zu erreichen, abgesehen vom Einsatz von Atomwaffen“ (Putin does not have the resources – short of using nuclear weapons – to fulfill maximalist or genocidal objectives).

  • Eine dritte Denkrichtung repräsentiert laut Charap/Pucek der bekannte Vertreter der realistischen Denkschule John Mearsheimer. Es gäbe nach Mearsheimer „keine Beweise dafür, dass Putin erwog, geschweige denn beabsichtigte, die Ukraine als einen unabhängigen Staat auszulöschen und sie zu einem Teil Großrusslands zu machen, als er seine Truppen in die Ukraine schickte.“

Mit Verweis auf die Geheimdienste ziehen Charap/Pucek Mearsheimers Beurteilung der Vorgeschichte des Konflikts in Zweifel. Denn „alle britischen, ukrainischen und US-amerikanischen Geheimdienste vertraten die Auffassung, dass der Kreml versucht hat, verschiedene ukrainische Galionsfiguren darauf vorzubereiten, ein russisches Marionettenregime in Kiew zu installieren und das Land zurück in den Orbit Moskaus zu führen.“

Nun ja, dem Westen wäre es natürlich lieber, dass das Kiewer Marionettenregime im westlichen Orbit verbleibt. Und was die Geheimdienste betrifft, so können sie eine wissenschaftliche Analyse nicht ersetzen. Hier zeigt sich freilich in geradezu paradigmatischer Weise ein Qualitätsunterschied in der Bildung zwischen der neuen und der älteren Generation der Russlandforscher.

Es war nämlich derselbe John Mearsheimer, der bereits kurz vor dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums einen aufsehenerregenden Aufsatz „Why We Will Soon Miss The Cold War“ (The Atlantic 90, Nr. 8, August 1990, 35-50) veröffentlichte. Darin vertrat er die Auffassung, dass wir eines Tages bedauern werden, die Ordnung, welche dank dem „Kalten Krieg“ an die Stelle des Chaos in den internationalen Beziehungen getreten sei, verloren zu haben.

„Ich werde den Beweis erbringen“ – verkündete Mearsheimer selbstbewusst und aus heutiger Sicht geradezu prophetisch -, dass „die Gefahr der großen Krisen und sogar Kriegen in Europa tendenziell wachsen werden, nachdem der Kalte Krieg (längst) der Geschichte angehört hat. Die nachfolgenden fünfundvierzig Jahre werden womöglich viel aggressiver sein, als die fünfundvierzigjährige Epoche, die wir vermutlich irgendwann statt einer Periode des >Kalten Krieges< einen – wie John Lewis Gaddis es nannte – >langen Frieden< nennen würden.“

Diese erstaunliche Voraussage aus dem Jahr 1990 ist längst zur brutalen geopolitischen Realität geworden und hebt den Scharfsinn und das Bildungsniveau der Gelehrtengeneration des „Kalten Krieges“ hervor. Heute erleben wir hingegen einen dramatischen Niveauverlust in der Russlandforschung.

  • Schließlich präsentieren Charap/Pucek ihre eigene Deutung von Putins Intentionen im Ukrainekonflikt. „Der beste Weg, Putin zu verstehen“, bedeute ihn „weder als einen offensiven Maximalisten noch als einen Völkermörder oder als einen defensiven Akteur, sondern als einen Taktiker“ (not as an offensive maximalist, a génocidaire, or a wholly defensive actor, but rather as a tactician) zu begreifen, „der seine Ambitionen an die Realitäten anpasst, unter denen er operiert. Die Analyse der Bedrohung durch Russland sollte sich weniger darauf konzentrieren, was er anstreben könnte, sondern mehr darauf, was er mit der Macht, die er hat, plausibel erreichen kann.“

Selbst als „Taktiker“ sei Putin – betonen Charap/Pucek anschließend – eine Bedrohung für den Westen, weil Putins „Ambitionen in der Zukunft größer werden könnten“. Und „wenn Russlands Machtpotential diese Expansion ermöglichen kann“ (if Russia’s power can enable that expansion), dann würde sich natürlich das Bedrohungsszenario ändern.

Momentan sei Russland aber – beruhigen Charap/Pucek – noch zu schwach und stelle keine akute Gefahr für die Nachbarn dar. „Selbst mit seinen derzeitigen Fähigkeiten und der Denkweise eines Taktikers könnte Putin dennoch eine unüberwindbare Bedrohung für Georgien, Kasachstan, Moldawien und die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken darstellen. Die Nato-Verbündeten mögen zwar sicher sein; das ist aber ein schwacher Trost für die Menschen in diesen Ländern.“

Als Taktiker agiere Putin „unter erheblichen Einschränkungen“, seine Ziele seien aber flexibel und müssen darum genauesten beobachtet werden. „Davon unabhängig, muss die von Russland ausgehende Bedrohung mit einer genauen Einschätzung der russischen Macht beginnen. Putin könnte (schließlich) Welteroberungsfantasien hegen (Putin might harbor fantasies of world conquest). Sein Militär kann aber momentan nicht einmal eine der vier ukrainischen Provinzen vollständig erobern, die er im vergangenen Jahr annektiert haben will.“

Putin hege also die „Welteroberungsfantasien“ und sei darum – wenn man ihn lässt – eine Bedrohung für den Westen. Diese Schlussfolgerung dürfte wohl die Quintessenz der von Charap/Pucek angestellten Überlegungen über die Ziele und Intentionen der russischen Führung im Ukrainekonflikt sein.

Losgelöst von der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts sowie der russischen und US-amerikanischen Außen- und Geopolitik, die eigentlich für die Erforschung des Ukrainekonflikts unentbehrlich sein sollten, sinnieren Charap/Pucek über „Putins Welteroberungsfantasien“ und dessen potenzielle Bedrohung für den Westen. Sieht man von der realistischen Denkschule ab, so macht die von Charap/Pucek präsentierte Deutung des Kriegsgeschehens kaum einen Unterschied zu den anderen skizzierten Denkrichtungen. Der Unterschied ist bestenfalls einer graduellen Natur.

Das ist freilich keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine auf eine Kriegspropaganda zurückgehende Übung in „freien Assoziationen“. Wenn man sich aber von einem durch die Kriegspropaganda geprägten Russlandbild3 leiten lässt, statt sich mit einem außen- und geopolitischen Gesamtbild auseinanderzusetzen, dann bekommt man an Stelle einer fundierten Russlandanalyse eine Verunglimpfung und Denunzierung des geopolitischen Rivalen. Dieser Weg führt allerdings direkt in eine erkenntnistheoretische und geopolitische Sackgasse.

    2. Die Generation des „Kalten Krieges“

Die zweite erwähnte Studie „The Dysfunctional Superpower“ stammt vom Veteranen des „Kalten Krieges“, ehem. CIA-Direktor und US-Verteidigungsminister Robert M. Gates (geb. 1943). In seiner Studie schlägt Gates Alarm. Er diagnostiziert eine akute Bedrohung der US-Sicherheit, die so nie zuvor gab.

Zutreffend stellt er fest: „Nie zuvor“ stand Washington „vier alliierten Gegnern gleichzeitig gegenüber – Russland, China, Nordkorea und dem Iran –, deren kollektives Atomwaffenarsenal innerhalb weniger Jahre fast doppelt so groß wie das unsere sein könnte. … Und niemand kann sich an eine Zeit erinnern, in der ein Gegner über derart große ökonomische, wissenschaftliche, technologische und militärische Macht verfügte wie China heute.“

Gates´ Eingeständnis bestätigt nur die alte Weisheit der alten Griechen, dass alles, was entsteht, vergeht. Keine Hegemonie – und selbst eine so mächtige wie die US-Hegemonie – kann ewig existieren.

Und was macht Gates aus seiner Erkenntnis? Er beklagt nicht etwa das Versagen der US-Außenpolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“. Nein, er wirft vielmehr gleich am Anfang seiner Studie den beiden mächtigsten geopolitischen Rivalen der USA – dem Chinesen Xi Jinping und dem Russen Wladimir Putin – „die großen Fehleinschätzungen“ (major miscalculations) vor, die sie im In- und Ausland bereits gemacht haben und in der Zukunft womöglich noch mehr machen würden.

War es nicht etwa die US-Außenpolitik, die mit ihren Interventionen und Invasionen im vergangenen Vierteljahrhundert schwerwiegende Fehler bzw. „Fehleinschätzungen“ begangen hat? Nein, ganz im Gegenteil: Nach Gates´ fester Überzeugung waren es vielmehr „Chinas und Russlands militärische Stärke und Aggressivität“ (China’s and Russia’s military strength and aggressiveness“. „Ihre Dezisionen könnten (zudem) katastrophale Folgen für sich selbst und die USA haben“ (vgl. Their decisions could well lead to catastrophic consequences for themselves – and for the United States).

Von welchen „Dezisionen“ und „Fehleinschätzungen“ spricht Gates hier überhaupt? Gates unterstellt zunächst den beiden „risikofreudigen Autokraten“ (risk-prone autocrats) – Xi und Putin – das Streben nach einer Wiederherstellung „der glorreichen imperialen Vergangenheit“. Für Xi bedeutet es eine Zurückgewinnung „der einst dominierenden Rolle des imperialen Chinas in Asien“ bei gleichzeitigen Ambitionen auf einen globalen Einfluss, wohingegen Putin nach der „Wiederbelebung des Russischen Reiches“ trachte.

All das deute auf „eine gefährliche Zeit“ hin, die den USA bevorstehe, warnt Gates. Die USA befinden sich dabei in einer verzwickten Lage: Sie stehen aggressiven Rivalen gegenüber, die zu Fehleinschätzungen neigen, seien aber gleichzeitig nicht in der Lage, die nötige Einigkeit und Stärke im eigenen Land herzustellen, um die Rivalen von weiteren unüberlegten Handlungen abzubringen.

Statt aus seiner an und für sich zutreffenden Diagnose eines stattfindenden Erosionsprozesses der US-Hegemonie entsprechende Schlüsse zu ziehen, wirft er lieber der chinesischen und russischen Führung alle „Sünde“ dieser Welt vor und zählt unter der bombastischen Überschrift „Putins Glücksspiel“ (Putins Gamble) die aus seiner Sicht stattgefundenen „katastrophalen Fehleinschätzungen“ Putins auf:

  • Der Einmarsch in die Ukraine: Mit Verweis auf den bekannten Spruch von Zbigniew Brzezinski: „Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr“ (Without Ukraine, Russia ceases to be an empire) unterstellt Gates Putin diese Meinung zu teilen und behauptet: „Auf der Suche nach einem für Russland verlorenen Imperium marschierte er 2014 und erneut 2022 in die Ukraine ein“. Dieses „Abenteuer“ (adventure) stellte sich als Putins „katastrophale Fehleinschätzung“ (a catastrophic miscalculation) mit verheerenden langfristigen Folgen für sein Land heraus.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine habe Putin die Zukunft seines Landes verspielt, beteuert Gates. Woher er das alles weiß bzw. zu wissen glaubt, verrät er freilich nicht. Und der erwähnte Spruch Brzezinskis wird auch nicht dadurch wahrer, dass er immer wieder zitiert und wiederholt wird, zumal Brzezinskis Äußerung auf den aktuellen Ukrainekonflikt gar nicht anwendbar ist.

Das Putin stets unterstellte Streben nach einer territorialen Erweiterung des „Imperiums“ wegen seiner „imperialen Ambitionen“ greift hier zu kurz und verkennt vollkommen die eigentlichen Intentionen der russischen Außenpolitik im Allgemeinen und der russischen Ukrainepolitik im Besonderen.

Moskau geht es in diesem Konflikt im Wesentlichen um zweierlei: den Stopp einer Nato-Expansion in der Ukraine und die Zerschlagung der Ukraine als ein Anti-Russland-Projekt. Alle anderen vermeintlichen Ziele und unterstellten Intentionen der russischen Ukrainepolitik sind entweder haltlose Behauptungen oder gehören in den Bereich der westlichen Mythenbildung, um die eigene Mitverantwortung für den Ukrainekrieg zu vernebeln.

  • Nicht weniger, sondern mehr Nato an der Grenze Russlands: Anstatt die Nato zu spalten und zu schwächen, habe Russland dem Bündnis mit Finnland und bald auch Schweden neue Mitglieder beschert. „Strategisch geht es Russland heute weitaus schlechter als vor der Invasion“ (Strategically, Russia is far worse off now than it was before the invasion), behauptet Gates. Damit wiederholt er im Grunde nur Stoltenbergs Äußerung vom 7. September 2023, dass Putin mit dem Krieg „noch mehr Nato in der Nähe seiner Grenze“ bekommen habe.4

Ob es Russland besser oder schlechter geht, wird erst die Zukunft zeigen. Unabhängig davon, zeigt Gates´ Äußerung, wie wenig er die Vorgeschichte des Konflikts kennt und wie sehr er die geopolitische Bedeutung der Ukraine für beide Seiten verkennt.

  • Der Krieg habe Moskaus „konventionellen Streitkräfte erheblich geschwächt“. Diese im Westen mantraartig wiederholte Behauptung verwundert, produziert Russland doch momentan beispielsweise mehr Munition als alle Nato-Staaten zusammen. Die russische Führung kann auf das sowjetische (zum Teil stillgelegte und jetzt reaktivierte) Erbe der Rüstungsinfrastruktur zurückgreifen. Der sowjetische Rüstungsaufwand war schon immer von herausragender Bedeutung für die sowjetische Vormachtstellung in Europa, Eurasien und in der Welt.

Die Rüstungsindustrie stellte eine industriell-organisatorische Spitzen- und Kernleistung in der sowjetischen Volkswirtschaft dar. Die Waffenforschung und -entwicklung, die Rüstungstechnologie und -produktion hatten für das Sowjetsystem einen alles überragenden Wert5, von dem Russland bis heute profitiert.

Das hatte der Westen nicht auf seinem Schirm, als er glaubte, Russland mit dem brachialen Sanktionskrieg sowie einer militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine in die Knie zwingen zu können. Das war eine fatale strategische Fehleinschätzung der transatlantischen Machteliten. Infolge ihrer Ignoranz, Arroganz, Inkompetenz und Unkenntnis der tatsächlichen Sachlage steckt der Westen heute tief im Schlamassel des Ukrainekrieges. Über schätzungsweise mehr als 200 Milliarden Dollar für die militärische und sonstige Hilfe an die Ukraine wurde vom Westen im Ukrainekrieg pulverisiert.

  • Putin habe sich mit einer „schnellen Eroberung der Ukraine“ verkalkuliert. Seine Hoffnungen richten sich nunmehr darauf, „dass eine schwere militärische Pattsituation die Ukraine erschöpfen wird“. „Als vorübergehende Alternative zu einer eroberten Ukraine könnte er bereit sein, eine verkrüppelte Ukraine in Betracht zu ziehen – einen Rumpfstaat, der in Trümmern liegt, dessen Exporte gekürzt und dessen Entwicklungshilfe drastisch reduziert wurde. Putin wollte die Ukraine als Teil eines wiederhergestellten Russischen Reiches. Er fürchtete auch eine demokratische, moderne und wohlhabende Ukraine als ein Alternativmodell für die Russen.“

All das sind derart wilde Spekulationen, dass man sich fragen muss, ob Gates (und nicht nur er) überhaupt weiß, was an der Front und in der Ukraine selbst geschieht. Von „einer militärischen Pattsituation“ kann beim besten Willen keine Rede sein. Von einer „demokratischen, modernen und wohlhabenden Ukraine als ein Alternativmodell“ zu Russland zu reden, ist ebenso völlig abwegig, wie die Behauptung: Putin wolle eine Wiederherstellung des Russischen Reiches. Diese abstrusen, auf Zbigniew Brzezinski zurückgehenden Denkvoraussetzungen des US-Establishments über die Ziele der russischen Führung im Ukrainekonflikt entbehren jeder Grundlage und Kenntnis der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts und der russischen Ukrainepolitik seit dem Untergang der Sowjetunion.

Putin hatte zu keiner Zeit von einer „schnellen Eroberung der Ukraine“ gesprochen. Es waren vielmehr die US-Militärexperten selbst, die im Vorfeld des Kriegsausbruchs diesen Eindruck erweckt und auf einen raschen russischen Sieg spekuliert haben. Und jetzt versuchen sie ihre eigene Fehleinschätzung der russischen Führung in die Schuhe zu schieben. Die kurz nach dem Kriegsausbruch stattgefundenen Friedensverhandlungen im März/April 2022 haben darüber hinaus gezeigt,6 dass die russische Führung ganz andere strategische Ziele verfolgte, als die Transatlantiker der Weltöffentlichkeit suggerieren.

  • Solange Putin an der Macht ist, werde Russland ein Gegner der USA und der Nato bleiben.“ Mit einer solchen Äußerung kann man wenig bis gar nichts anfangen. Man fragt sich verwundert: Wird etwa die Nato ohne Putin kein Gegner Russlands sein? Und haben die USA in den 1990er-Jahren, als eine prowestlich orientierte russische Führung an der Macht war, nicht alles getan, damit die Nato gegen einen erbitterten, aber ohnmächtigen Widerstand Moskaus nach Osten expandiert und sich so Russland zum Gegner gemacht haben?7
  • Putin werde weiterhin alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Spaltungen in den USA und Europa zu säen und den US-Einfluss im „Globalen Süden“ zu untergraben. Das mag sein! Gates verschweigt nur die Ursachen dieser russischen Europsapolitik.

Es ist doch erstaunlich, immer wieder zu sehen, wie die US-Repräsentanten ihr eigenes feindseliges Handeln gegenüber den geopolitischen Rivalen Russland und China ausblenden und sich stets und penetrant über deren Gegenreaktionen empören. Das physikalische Gesetz, dass Druck Gegendruck erzeugt, scheint ihnen unbekannt zu sein.

Summa summarum kann man feststellen, dass Gates´ ganze Argumentation auf bloßen Unterstellungen, Behauptungen und Mutmaßungen beruht. Nun diagnostiziert er einen „epischen Wettstreit“ (epic contest), der zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen und China, Russland und ihren Mitstreitern auf der anderen Seite in vollem Gange sei und warnt zugleich vor weiteren „strategischen Fehleinschätzungen“ (strategic miscalculations) der Rivalen.

Als hätte sich die geopolitische Realität nicht geändert, beharrt Gates wie zu „glorreichen“ Zeiten der US-Hegemonie auf „eine globale US-Führungsrolle“ (U.S. global leadership) zwecks Unterbindung eben dieser „strategic miscalculations“.

Die globale US-Führungsrolle sei erforderlich, um China von einer Invasion in Taiwan abzuhalten, da die chinesische Vorherrschaft im Westpazifik die Interessen der USA gefährde. Sie sei aber auch erforderlich, um einen chinesischen und russischen Einfluss im „Globalen Süden“ zu unterbinden.

Gates plädiert, anders formuliert, für die Aufrechterhaltung der US-Rolle als Weltgendarmen, als wäre die Welt in den 1990er-Jahren stehen geblieben. Als CIA-Direktor (1991-1993) war Gates allerdings mit seiner realistischen Würdigung der geopolitischen Entwicklungen viel weiter als heute, warnte er doch eindringlich davor, die Nato-Expansion nach Osten voranzutreiben.8 Die Zeiten ändern sich nun mal und mit ihnen auch die Menschen.

Heute beteuert Gates voller Ernst: „Eine Welt ohne eine zuverlässige US-Führung wäre eine Welt autoritärer Raubtiere, in der alle anderen Länder potenzielle Beute wären (A world without reliable U.S. leadership would be a world of authoritarian predators, with all other countries potential prey). Eine erstaunliche Äußerung, wenn man bedenkt, welche brutale Interventions- und Invasionskriege die USA in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgeführt haben.

Das Bemerkenswerte an dieser Studie von Robert Gates ist, dass er zwar alle möglichen Fehleistungen und Fehleinschätzungen der geopolitischen Rivalen kritisiert und die inneramerikanische Zwietracht der Machteliten scharf attackiert. Die Fehleinschätzungen der US-Außenpolitik im Allgemeinen und das strategische Versagen der US-Geopolitik im Besonderen blendet er aber komplett aus.

Diese Ausblendung des außen- und geopolitischen Versagens seitens des außenpolitischen US-Establishments verstellt den Blick auf die künftigen geopolitischen Entwicklungen und hat zufolge, dass auch die weltweiten hier und heute stattfindenden tektonischen Verschiebungen in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik falsch eingeschätzt werden können.

„China und Russland glauben, dass die Zukunft ihnen gehört“ (China and Russia think the future belongs to them), stellt Gates vorwurfsvoll fest und ruft daraufhin die USA dazu auf, eine Abwehrstrategie zur Beeinflussung der ausländischen Führungskräfte und der Öffentlichkeiten im „Globalen Süden“ zu entwickeln, als würde das nicht bereits seit Jahr und Tag stattfinden.

In Anbetracht einer chinesisch-russischen Allianz müssen die USA darüber hinaus auch ihre Nuklearstrategie überdenken, fordert Gates. Denn die militärische Zusammenarbeit zwischen Russland, China, Nordkorea und Iran stelle die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckungsstrategie der USA auf die Probe. Die chinesische und die russische Marine üben zunehmend gemeinsam, und es wäre nicht überraschend, wenn sie nicht auch ihre eingesetzten strategischen Nuklearstreitkräfte stärker koordinieren würden.

Zwar haben Xi und Putin bereits schwerwiegende Fehler begangen. Sie bleiben aber auf absehbare Zeit eine Gefahr, mit der sich die USA auseinandersetzen müssen. Selbst zu besten Zeiten der US- Hegemonie, in denen die US-Administration über eine wohlwollende Öffentlichkeit, tatkräftige Führung und eine kohärente Strategie verfügte, selbst dann wären diese Gegner eine gewaltige Herausforderung.

Heute ist aber – stellt Gates ernüchternd fest – die prekäre innenpolitische Lage alles andere als geordnet: Die amerikanische Öffentlichkeit hat sich nach innen gekehrt; der Kongress hat sich in Streitigkeiten verstrickt und die letzten US-Präsidenten haben Amerikas globale Führungsrolle desavouiert.

Um mit derart mächtigen und risikofreudigen geopolitischen Rivalen fertig zu werden, müssen die USA ihr außenpolitisches Engagement verstärken. Nur dann kann man hoffen, Xi und Putin davon abzuhalten, weitere schlechte Wetten einzugehen. Dieses ohnmächtige Verzweiflungsappell eines alten Mannes spricht für sich und sagt alles über den Zustand der US-Hegemonie und ihrer Führungseliten.

    3. Eine sicherheitspolitische Neuordnung Europas

Wenn man nun den Ukrainekonflikt als einen vorläufigen Höhepunkt der nie enden wollenden geopolitischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen oder gar als „eine existenzielle Gefahr für Europa“ – wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, beim EU-Außenministertreffen in Kiew am 2. Oktober beteuerte – betrachtet, muss man nach den Folgen einer solchen dauerhaften Eskalation fragen und vor allem die Frage nach einer sicherheitspolitischen Neuordnung Europas stellen.

Diese Neuordnung Europas setzt aus Sicht von Borrell und seinen EU-Außerministerkollegen nach eigener Selbstbekundung einen ukrainischen Sieg über Russland voraus. Dieser Sieg ist allerdings weit und breit nicht zu sehen und bleibt ungeachtet der großspurig angekündigten erfolgversprechenden und nunmehr gescheiterten ukrainischen „Gegenoffensive“ bis auf Weiteres aus.

Es war im Übrigen auch von Anfang an völlig vermessen zu glauben, Russland besiegen zu können. Die EU-Europäer haben entweder die zweihundertjährige Geschichte der europäischen Kriege vergessen oder wir haben in Europa verantwortungslose Hasardeure an der Macht, die ganz Europa in Flammen aufgehen lassen möchten.

Bereits der vom Westen erhoffte (ökonomische) Blitzkrieg, der infolge der kurz nach dem Kriegsausbruch eingeleiteten Sanktionen gegen Russland kläglich gescheitert ist, sollte eigentlich ein Warnsignal sein, den Krieg nicht weiter zu eskalieren. Doch weit gefehlt! Man setzt(e) weiterhin auf den Sieg – den „Endsieg“ – und merkt nicht einmal, dass der Siegeszug längst abgefahren ist.

Das desillusionierte Ergebnis der Kriegshandlungen ist die gescheiterte ukrainische „Gegenoffensive“. Die Illusionen der EU-Europäer bleiben dessen ungeachtet bestehen. Der Blitzkrieg ist gescheitert, die sog. Gegenoffensive blieb erfolglos, die Illusionen sind aber geblieben.

Wie geht es nun weiter? Eine nackte Machtpolitik ohne eine konsistente Friedensstrategie stößt offenbar an ihre Grenzen. Eine Friedensstrategie ist aber mit der Frage nach einer sicherheitspolitischen Neuordnung Europas untrennbar verbunden. Das europäische Sicherheitsproblem ist spätestens seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in seinem wirklichen Ausmaß zum Vorschein gekommen, nachdem die sicherheitspolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen unter den Teppich gekehrt wurden.

Es stellt sich zum einen als Problem der europäischen geo- und sicherheitspolitischen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom US-Schutzpatron und zum anderen als Problem eines sicherheitspolitischen Ordnungsprinzips dar, wonach die Beziehungen zwischen der EU, den USA und Russland geordnet werden könnten.

Solange diese doppelte Aufgabe nicht gelöst wird, hängt auch der Ukrainekonflikt in der Schwebe. Betrachtet man die EU, die USA und Russland als eigenständige geopolitische Entitäten und sieht man zunächst einmal von der Blocklogik der Nato-Allianz ab, so hat das Dreiergespann an und für sich unterschiedliche und widerstreitende Macht- und Sicherheitsinteressen.

Die USA sind eine auf permanente Expansion angelegte und global agierende Weltmacht, deren extensiv definiertes Macht- und Sicherheitsbedürfnis getreu dem Motto: „Expansion is everything. …I would annex the planets if I could“ (Cecil Rhodes)9 alle übrigen Staaten im globalen Raum begrenzt und zu beherrschen sucht, sodass Europa für die USA nur insofern von Bedeutung ist und bleibt, solange es ihren globalen Macht- und Sicherheitsinteressen entspricht.

Die EU ist ihrerseits eine auf ihre Macht- und Sicherheitsinteressen innerhalb des europäischen Kontinents bedachte Regionalmacht, deren Sicherheitsvorstellungen sich zwar von der Blocklogik der Nato-Allianz leiten lassen. Weil aber das EU-Sicherheitsbedürfnis nicht globaler Natur ist und darum nicht immer mit der Blocklogik übereinstimmt, besteht gelegentlich auch einen unüberwindbaren Spagat zwischen den vom US-Schutzpatron definierten, global orientierten Sicherheitsvorstellungen und dem auf den europäischen Kontinent beschränkten Sicherheitsbedürfnis.

Im Gegensatz zu der EU und den USA ist Russland seinerseits eine global agierende eurasische Kontinentalmacht10, deren Sicherheitsbedürfnis auf eine Revision der nach dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandenen extremen Dysbalance der Kräfte in Europa zu Lasten Russlands hinausläuft.

In einem solchen geo- und sicherheitspolitisch komplexen Machtumfeld ist es kaum möglich einen Modus Vivendi zu finden. Das Problem verkompliziert sich noch dadurch, dass die globale US-Hegemonie immer mehr und immer schneller zurückgedrängt und eine unangefochtene US-Dominanz wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ im Wesentlichen auf den Westen beschränkt wird, der nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung ausmacht.

Eine Neuordnung Europas muss dennoch ein geo- und sicherheitspolitisches Arrangement der rivalisierenden Parteien trotz ihrer gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen, Machtstrukturen und ideologischen Denkvoraussetzungen finden, falls sie nicht nur einen ewigen Krieg führen wollen, sondern auch irgendwann friedlich miteinander leben wollen. Das bedarf aber eines irgendwie gearteten sicherheitspolitischen Konsensus.

Da ein gegenseitiges Misstrauen tief verwurzelt ist, ist es nicht damit getan, allgemeine Prinzipien wie etwa die der „souveränen Gleichheit“ aller Staaten, der „Achtung nationaler Souveränität und territorialer Integrität“, der „Nichteinmischung“ und des „Nichteingreifens“ in die „innere Angelegenheiten“ anderer Länder in einer vereinbarten Resolution, Deklaration oder sonst wie zu bekräftigen. Erforderlich wäre vielmehr eine real- und geopolitisch tragbare Machtbalance zwischen den rivalisierenden Parteien, sprich eine neue bzw. erneuerte Variante des „Gleichgewichts des Schreckens“.

Das setzt wiederum eine Wiederherstellung der europäischen Machtbalance voraus, die mindesten vier sicherheitspolitischen Maxime impliziert:

  • die Überwindung der Blocklogik der Konfrontation,
  • der Verzicht der USA auf ihre expansionistische „Open Door“-Politik,
  • die EU-Schließung des oben genannten sicherheitspolitischen Spagats und
  • Russlands Anerkennung einer europäischen Machtbalance an den Pforten des hergebrachten ostslawischen Raumes.

Ohne eine Beachtung dieser vier Maximen ist jeder Versuch einer sicherheitspolitischen Neuordnung Europas zum Scheitern verurteilt. Sicherheitspolitisch wird die Neuordnung Europas von mehreren Faktoren bestimmt:

  • von der Geographie, welche die Kontrahenten zwingt, ihre gegensätzlichen Machtinteressen und Sicherheitsbedürfnisse zu harmonisieren. Mangelt es der EU an einer räumlichen Tiefe und Weite für eine günstige Verteidigung und sucht sie darum nicht zuletzt mittels der Nato-Expansionspolitik diesem Mangel entgegenzuwirken, so wehrt sich Russlands vehement eben gegen diese geo- und sicherheitspolitische Einengung seiner strategischen Tiefe. Dazwischen stehen die USA, die zwar gar keine geographischen Probleme in Europa haben. Sie nützen aber das Bedrohungsszenario dergestalt aus, dass sie sich für die EU-Europäer sicherheitspolitisch unentbehrlich zu machen vorgeben.
  • vom strategischen und taktischen Nuklearwaffenpotenzial der Weltmächte und vom Mangel der EU-Europäer an Rüstungspotential. Dieser Mangel bringt das EU-Sicherheitsbedürfnis in eine geo- und sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Sicherheitsvorstellungen der USA und schließlich
  • von der ideologisch geleiteten Blocklogik der transatlantischen Macht- und Funktionseliten, welche eine sicherheitspolitische Neuordnung Europa mit und nicht gegen Russland beinahe unmöglich macht.

Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts bleibt diese Neuordnung Europas bis auf Weiteres Wunschdenken. Im besten Falle ist der bewaffnete Unfriede wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts denkbar. Im schlimmsten Falle rutschen wir immer weiter und immer tiefer in eine aus dem Ruder geratene Eskalation. Ein Ausweg ist (noch) nicht in Sicht.

Anmerkungen

1. Kahn, H. W., Die Russen kommen nicht. Fehlleistungen unserer Sicherheitspolitik. München Bern
Wien 1969, 14.
2. Kahn (wie Anm. 1).
3. Vgl. Silnizki, M., Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart. Vom biologischen zum geopolitischen
Rassismus? 5. Oktober 2022.
4. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
5. Vgl. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 315.
6. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
7. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 3).
8. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 3).
9. Zitiert nach Arendt, H., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1967, 218.
10. Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25. Juli 2022,
www.ontopraxiologie.de.

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