Zwischen Ausblendung und Verblendung
Übersicht
- Im Spannungsfeld zwischen Ignoranz, Ahnungslosigkeit und Indoktrination
- In einer propagandistischen Sackgasse
Anmerkungen
Über das, was wahr oder falsch ist, entscheiden im
Zeitalter des Postfaktischen nicht die Evidenz,
sondern die Meinungsmacher, die alles als
Propaganda denunzieren, was mit ihrer
eigenen Propaganda nicht übereinstimmt.
- Im Spannungsfeld zwischen Ignoranz, Ahnungslosigkeit und Indoktrination
Unter einer marktschreierischen Überschrift „Die Welt zerfällt“ veröffentlichte eine Autorengruppe des Handelsblatts, D. Heide, M. Koch, A. Meiritz, J. Münchrath, M. Murphy, M. Müller und M. Peer, einen sechs Seiten starken Essay am 20./22. Oktober 2023. Am Ende ihres Schriftstücks ziehen sie ein Fazit, überschrieben mit den Worten: „das Ende westlicher Dominanz“ und schildern den Empfang des russischen Außenministers Sergej Lawrow auf dem Flugfeld in Pjöngjang (Nordkorea): Dutzende Blumenkinder jubeln dem russischen Gast zu. Eine Kapelle spiele staatstragende Musik, Helfer eilen mit Regenschirmen herbei usw. usf.
Den Empfang kommentierend, schreiben die Autoren: „Der Außenminister eines kriegstreibenden Regimes bedankt sich beim jahrzehntelangen Paria der internationalen Politik für wertvolle Hilfe – was vor wenigen Monaten noch einer Erzählung aus Absurdistan geglichen hätte, ist heute ein Puzzleteil der neuen Weltordnung. Selbst lange gemiedene Herrscher wie Nordkoreas Kim finden im Windschatten der neuen Achse der Autokraten wieder Anschluss. Der umstrittene Führer der autokratischen Allianz, Xi Jinping, versucht derweil geschickt, den Eindruck zu erwecken, als habe er kein Interesse an einer Rivalität mit der demokratischen Welt …“.
Diese sarkastische Berichtserstattung über die geopolitischen Rivalen des Westens ist im Zeitalter der ausgebrochenen Großmächterivalität charakteristisch für die Kriegspropaganda der transatlantischen Meinungs- und Stimmungsmacher. Mehr Denunziation, Diffamierung und Verunglimpfung geht es kaum: Der Russe werde als „Kriegstreiber“ diffamiert, der Nordkoreaner als „Paria“ stigmatisiert und der Chinese als „der umstrittene Führer der autokratischen Allianz“ denunziert, der „die neue Achse der Autokraten“ anführe.
An Stelle der „Achse des Bösen“, von der George W. Bush jr. nach 9/11 sprach und worunter er Irak, Iran und Nordkorea subsumierte, tritt nunmehr die „neue Achse der Autokraten“, zu der neben Nordkorea nunmehr die Groß- und Nuklearmächte Russland und China hinzugezählt werden.
Dass ausgerechnet der (chinesische und nordkoreanische) Kommunismus sinnentleert mit einem mehrdeutigen Begriff Autokratie gleichgesetzt wird, ist zweifelsohne eine geistreiche „Innovation“, auf die man in Zeiten des „Kalten Krieges“ gar nicht gekommen wäre. Man lässt sich immer wieder überraschen. Diese auf Joe Bidens Kampfschrift „Why America Must Lead Again“ (Foreign Affairs, 23. Januar 2020) zurückgehende „Innovation“ hält freilich keiner Kritik stand. Eine derartige Gleichsetzung gleicht jener „Erzählung aus Absurdistan“, die gerade auf die Erzähler zurückfällt.
Dass Russland ebenfalls autokratisch regiert haben soll, gleicht nicht nur einem Märchen aus Tausend und einer Nacht, sondern bezeugt auch die Unkenntnis dessen, was Autokratie in Russland einst bedeutete.1
Diese einem interessierten Leser angebotene geopolitische Persiflage stimmt voll und ganz mit dem Untertitel des Essays überein: „Eine neue Achse des Autoritären prägt zunehmend die Geschicke der Welt – der Westen wird vom Gestalter zum Getriebenen“. Das einzig Zutreffende an dem Untertitel ist, dass „der Westen“ in der Tat „vom Gestalter zum Getriebenen wird“.
Statt aber aufzuklären, warum „der Westen vom Gestalter zum Getriebenen“ werde, wird der sich von der westlichen Bevormundung emanzipierende Nichtwesten stigmatisiert und dessen Außenpolitik ins Lächerliche gezogen. Statt die Hintergründe dieser wahrlich welthistorischen Entwicklung zu ergründen, wird die dem Westen nicht wohlgewogene Außenwelt mit Schimpftiraden überzogen. Statt selbstkritisch das Versagen des Westens zu untersuchen, wird mangels Kenntnisse der westlichen Außen- und Geopolitik, die der „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) zum Opfer gefallen ist, die Reaktion des geopolitischen Rivalen auf eben diese westliche Militarisierung der Außenpolitik als „Kriegstreiberei“ diffamiert.
„Mea culpa“ wäre aber an der Stelle angemessener und aufrichtiger als eine nie enden wollende Kriegspropaganda. Vergessen sind offenbar längst die zahlreichen völkerrechtswidrigen Angriffskriege der USA und ihrer Nato-Verbündeten in den Jahren 1999 bis 2021, die als „humanitäre Interventionen“ verklärt wurden.
Zur Erinnerung: Mit dem Kosovo-Krieg etablierte der US-Hegemon eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, ging dabei auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte unipolare Weltordnung über.
Die Folgen dieser Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ sind zahlreiche militärische Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 wurden zwar offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Manche Untersuchungen beziffern sie aber auf mehrere Millionen.
Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“2 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.
Und wenn die Meinungsmacher des Handelsblatts den russischen Außenminister als Repräsentanten „eines kriegstreibenden Regimes“ stigmatisieren, wie würden sie dann die eben erwähnten Untaten der USA und ihrer Bündnisgenossen qualifizieren? Gar nicht! Denn sie werden schlicht totgeschwiegen.
Schlimmer noch: Unseren Meinungsmachern fehlt es offenbar an den elementarsten Kenntnissen der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts, sonst würden sie nicht ohne weiteres von „Putins Kriegstreiberei in der Ukraine“ sprechen.
Der gesamte Minsker Friedensprozess in den Jahren 2014/15 – 2021 war ein gigantisches Täuschungsmanöver des Westens, das in erster Linie dazu diente, der Ukraine mehr Zeit zu verschaffen, um sie militärisch aufzurüsten, die Nato-Infrastruktur aufzubauen und letztendlich gegen Russland in Stellung zu bringen. Zahlreiche Äußerungen der Repräsentanten des EU-Establishments bestätigen diese Erkenntnis.
So sagte Angela Merkel am 7. Dezember 2022 in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit: „Auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen.“ Und das Minsker Friedensabkommen von 2014 nannte sie einen „Versuch, der Ukraine Zeit zu geben“, berichtet Die Zeit.
Bereits vor dieser Äußerung Merkels gab der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko (2014-2019), der an den Minsker Verhandlungen unmittelbar beteiligt war, unumwunden zu, dass die Ukraine zu keiner Zeit daran dachte, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen. Vielmehr hat sie für sich Zeit gewonnen, um die ukrainische Armee zu stärken und mit Hilfe der Nato aufzubauen. Wörtlich sagte er am 17. November 2022: „Мне нужны были эти Минские соглашения чтобы получить как минимум четыре года, чтобы сформировать украинские вооруженные силы, строить украинскую экономику и обучать украинских военных вместе с НАТО“ (Ich brauchte diese Minsker Vereinbarungen zumindest für vier Jahre, um die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainische Wirtschaft aufzubauen sowie das ukrainische Militär mit Hilfe der Nato auszubilden).
Poroschenkos Äußerung bestätigte kein geringerer als der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, als er am 15. Oktober 2022 der Tagesschau ein Interview gab. Auf die ARD-Frage: „Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?“ antwortete Stoltenberg: „Der Mut und die Entschlossenheit der Ukrainer ist viel höher als bei den russischen Streitkräften. Deren Moral ist niedriger. Hinzu kommt, dass die Ukrainer erfahrener sind. Denn seit 2014 haben Nato-Verbündete die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte und die Krim illegal annektierte.“
Und selbst nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine stand Washington dem Frieden im Wege. Neuerlich gab der Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder am 23. Oktober 2023 ein Interview der Berliner Zeitung, in dem er behauptete, dass die ukrainischen Verhandlungspartner bei den Friedensgesprächen in Istanbul März/April 2022 den Frieden nicht besiegeln konnten, weil sie von Seiten der USA „nicht durften“. Damit hat Schröder freilich nur noch das Altbekannte bestätigt.3
Kurzum: Die Ukraine wurde vom Westen auf einen Krieg vorbereitet, wenn nicht gar gedrillt. Die Minsker Vereinbarungen dienten nämlich lediglich als Feigenblatt zur Vorbereitung auf einen Krieg zur „Befreiung“ (die ukrainische Lesart) bzw. „Wiederbesetzung“ (die Lesart der Aufständischen) von Donezk und Luhansk.
Als Blaupause für eine militärische Aktion der Ukraine diente dabei ein siegreicher Krieg des Aserbaidschans um Bergkarabach im Sept./Nov. 2020. Eine militärische Aktion plante die Ukraine bereits im Sommer 2021 durchzuführen. Allein der großangelegte Truppenaufmarsch Russlands im Frühjahr 2021 an der Grenze zur Ukraine, die vier Wochen dauerte, hat sie davon abgehalten.
Nach dem Motto: „Aufgeschoben heißt nicht aufgehoben“ begann bald darauf etwa ab Herbst 2021 ein massiver ukrainischer Truppenaufmarsch an der Demarkationslinie zwischen dem ukrainischen Kernland und den von Aufständischen kontrollierten Gebieten, was ein klarer Verstoß gegen die Minsker Vereinbarungen war.
Die Gefahr einer dramatischen militärischen Zuspitzung des seit 2014 schwelenden Konflikts war also bereits zu dieser Zeit absehbar. Was dann passierte, ist bekannt: die russische Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022. Der Westen wertet dieses Datum als den Beginn einer völkerrechtswidrigen Aggression gegen einen souveränen Staat. Die russische Führung spricht hingegen von einer Prävention, welche das Überrollen der Gebiete Donezk und Luhansk und damit den eklatanten Verstoß gegen das Minsker Abkommen verhindern sollte.
Die Russen könnten sich dabei getrost auf die „Bush-Doktrin“ berufen, die am 17. September 2002 vom US-Präsident George W. Bush jr. dem Kongress in Washington und der amerikanischen Öffentlichkeit vorgelegt wurde und die Notwendigkeit präventiver Militärschläge vorsah. Die Folge dieser „National Security Strategy“ der Bush-Administration war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen Irak 2003.
Der von der Bush-Administration am 20. März 2003 entfesselte Irakkrieg war ein brutal geführter völkerrechtswidriger Angriffskrieg mit Hundertausenden Menschenopfer. Schlimmer noch: Der Sturz Saddam Husseins und die Besetzung des Iraks wurden bereits fünf Jahre zuvor in amerikanischen Denkfabriken konzipiert. Ein 1997 gegründetes „Project for the New American Century“ (PNAC), das laut Statut für „Amerikas globale Führerschaft“ stritt, forderte bereits am 26. Januar 1998 „in einem Brief an >Mr. William J. Clinton<, den damaligen US-Präsidenten, zum Sturz Saddam Husseins auf – und zu einer radikalen Umkehr im Umgang mit der Uno“.4
Als „Kriegstreiber“ befinden sich Putin und Lawrow – wie man sieht – in „guter“ Gesellschaft. Und wenn die Meinungsmacher des Handelsblatts die eine Seite des Ukrainekonflikts als „Kriegstreiber“ denunzieren, so dürfen sie die andere Seite nicht unerwähnt lassen. Die USA sind auch neben den zahlreichen im vergangenen Vierteljahrhundert durgeführten Angriffskriegen wie dem erwähnten Irakkrieg mitverantwortlich für den Kriegsausbruch in der Ukraine.
Der eigentliche Spielmacher und Spielführer, der am Minsker Verhandlungstisch gar nicht anwesend war, nicht desto weniger aber das Minsker Abkommen erfolgreich torpedierte, waren die US-Geostrategen und sonst niemand. Und die USA haben alles dafür getan, damit die Ukraine das Minsker Abkommen nicht erfüllt.
Dass die Autoren des Handelsblatts das gar nicht wissen, wundert nicht, blenden die transatlantischen Meinungs- und Stimmungsmacher doch seit dem Kriegsausbruch die Hintergründe und Vorgeschichte des Konflikts konsequent aus und erwecken immer wieder den Eindruck: Der Krieg würde „unprovoziert“ vom Zaun gebrochen.
Die Biden-Administration folgt heute genauso, wie die vorangegangenen US-Administrationen, immer noch Brzezinskis „imperialer Geostrategie“,5 die sie in der Ukraine endlich verwirklicht sehen will. In seinem 1997 veröffentlichten und aufsehenerregenden Werk „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“ behauptete Brzezinski: „Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. … Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. …Unter geopolitischem Aspekt stellte der Ausfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“
Was 1997 vor dem Hintergrund des am Boden liegenden postsowjetischen Russlands der 1990er-Jahre noch plausibel klang, ist heute überholt. Putin hat Russland in den vergangenen zwanzig Jahren militärisch modernisiert, massiv aufgerüstet und die geostrategisch bedeutende Halbinsel Krim in die Russländische Föderation eingegliedert. Die postsowjetische Periode der russischen Geschichte ist mit der Krim-Übernahme und erst recht mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 unwiederbringlich zu Ende gegangen.
Brzezinskis Postulate gehören heute der Vergangenheit an. Das Russland der 1990er-Jahre existiert nicht mehr und ist nicht mehr reanimierbar. Diese Binsenwahrheit haben die US-Geostrategen noch nicht ganz begriffen. Sie glauben immer noch daran, dass sie Russland belehren, maßregeln, bestrafen und in die Knie zwingen können. Diese Zeiten sind vorbei. Je schneller die Biden-Administration samt der transatlantischen Macht- und Funktionselite das versteht, umso ruhiger können die USA und die Welt schlafen.
Russland geht es heute nicht so sehr darum, die Unabhängigkeit der Ukraine in Frage zu stellen, als vielmehr darum, die vom Westen aus russischer Sicht als „Anti-Russland“ aufgebaute Ukraine – die Ukraine als Feindesland – zu verhindern bzw. zu zerstören.
Russlands Versuch, dieses Ziel auf einem friedlichen Wege mittels des Minsker Abkommens zu erreichen, ist nicht zuletzt deswegen gescheitert, weil die EU-Europäer – allen voran Deutschland und Frankreich – sich als unfähig und ohnmächtig erwiesen haben, dem US-Schutzpatron mit seiner Torpedierung der getroffenen und vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Minsker Vereinbarungen standzuhalten. Die EU-Europäer sind von den USA auf dem eigenen Kontinent vorgeführt und entmachtet worden und bleiben bis auf weiteres nur die Zuschauer und Mitläufer in diesem von Russland und den USA inszenierten blutigen geopolitischen Schauspiel. Deutschland und Frankreich und mit ihnen die gesamte EU stehen heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Ukraine- und Russlandpolitik und die Leidtragende ist vor allem die Ukraine selbst.
Und so bewahrheitet sich erneut Kissingers Bonmot: „Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Amerikas Freund zu sein, ist tödlich.“ Heute müssen wir mit Bedauern konstatieren: Alle Versuche der EU-Europäer ohne die Zustimmung der USA auf dem europäischen Kontinent geo- und sicherheitspolitisch irgendetwas eigenständig gestalten bzw. durchsetzen zu können, haben nach wie vor keine Aussicht auf Erfolg.
Die geo- und sicherheitspolitische Ohnmacht der EU-Europäer war darum auch eine der Mitursachen für den Kriegsausbruch in der Ukraine.
Diese Hintergründe des Ukrainekonflikts bleiben unseren Meinungsmachern bis auf Weiteres verborgen. Das Problem liegt dabei nicht einmal in einer gezielten Irreführung der Öffentlichkeit, sondern oft in einem uninformierten und indoktrinierten Journalismus selbst, die – im Glauben nach bestem Wissen und Gewissen informiert zu haben – desinformieren.
Denn „in Zeiten von sich zuspitzenden internationalen Konflikten (steigt) der Bedarf an schnellen und umfangreichen Informationen und die Notwendigkeit, schneller und umfangreicher zu informieren als die Konkurrenz, deutlich, so dass kaum Raum bleibt für eine Überprüfung der zugespielten Informationen … Wenn diese dann auch noch aus einer Quelle kommen, die allgemein als glaubwürdig gilt oder als solche eingestuft wird, entfällt die Notwendigkeit zur Hinterfragung meist völlig.“6
Wenn dann noch eine indoktrinierte Geisteshaltung hinzukommt, die alles als Propaganda denunzieren, was mit ihrer eigenen Propaganda nicht übereinstimmt, dann, ja dann bleibt die Aufklärung ganz auf der Strecke.
2. In einer propagandistischen Sackgasse
Getreu George Orwells Verdikt: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke“ (1984) legen die transatlantischen Meinungs- und Stimmungsmacher unterschiedliche Maßstäbe an und messen die eigene Außen- und Geopolitik und die der Außenwelt mit zweierlei Maß. Werden die westlichen Interventions- und Invasionskriege als „friedensschaffend“ und „friedensfördernd“ bzw. als „Friedensmission“ überhöht, jede Gewaltanwendung des Westens als Befreiung gegen Unterwerfung hochstilisiert und die eigene militärische Vorgehensweise als Förderung von Demokratie und Menschenrechten verklärt, so wird jedes außen- und sicherheitspolitische Handeln der geopolitischen Rivalen und/oder der (feindseligen) Außenwelt tendenziell, prinzipiell und potenziell als aggressiv, kriegstreibend, friedensgefährdend und freiheitsberaubend verdammt.
Dieser Denkakrobatik der transatlantischen Meinungsmacher liegt eine Geisteshaltung zugrunde, die auf zweierlei hinausläuft: (1) eine Verklärung und Ausblendung der Folgen der westlichen Außen- und Geopolitik und (2) eine moralische Überhöhung und Selbstverblendung.
- Die Ausblendung des eigenen außenpolitischen Handelns führt gleichzeitig zur Be- und Verurteilung der als „feindselig“ qualifizierten und axiologisch desqualifizierten Außenpolitik der geopolitischen Rivalen, ohne dabei wahrhaben zu wollen, dass sie oft nichts anders tun, als sich gegen eine expansive, offensive und nicht zuletzt aggressive US-Außen- und Geopolitik zu wehren und sich als Reaktion darauf in Stellung zu bringen. Die Ausblendung des eigenen Handelns erklärt sich meistens mit einer fehlenden Reflexion und Würdigung der Folgewirkungen der eigenen Außenpolitik auf die Außenwelt.
- Die moralische Überhöhung hängt wiederum mit einer nicht hinterfragbaren, weil indoktrinierten Selbstwahrnehmung des eigenen Tuns und Wirkens zusammen. Diese Selbstwahrnehmung führt zur Selbstverblendung, weil sie das eigene Tun weder selbstkritisch reflektiert noch in Frage stellt und glaubt, im Besitz einer „höherwertigen“ Moral zu sein.
Das ist aber nichts anderes als ein verklausulierter Rassismus. Nur tritt dieser Rassismus nicht in einem rassenbiologischen Gewand auf.7 An Stelle der Unterscheidung zwischen den „zivilisierten“, „halbzivilisierten“ und „unzivilisierten“ Völkern tritt heute eine „zivilisatorischen Differenz … zwischen liberalen Gesellschaften, >ordentlichen Mitgliedern einer vernünftigen Gemeinschaft wohlgeordneter Völker< und >outlaw-Staaten<“ (Lothar Brock).8
Oder in der Terminologie der amerikanischen Neocons formuliert: Die unzivilisierten „Rogue States“ benötigen Zwangsmaßnahmen seitens der „liberalen Demokratien“ zur Durchsetzung der von ihnen festgeschnürten, universalen Standards. Im Zeitalter der vom US-Hegemon geführten unipolaren Weltordnung dürfen allein die USA die völkerrechtswidrigen Interventions- und Angriffskriege und keine andere Großmacht führen, was nichts anderes als ein geopolitischer Rassismus ist.
„Quod licet Iovi, non licet bovi“ (Was Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht), ist das Credo dieses geopolitischen Rassismus. Was die „westliche Zivilisation“ jenseits ihrer „Zivilisationsgrenze“ mit einer exzessiven ungehemmten Gewaltanwendung in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren praktizieren durfte, darf der russische „Kriegstreiber“ noch lange nicht und muss darum mit (fast) allen zur Verfügung stehenden Mitteln geächtet, verurteilt, zur Rechenschaft gebracht und schließlich vor einem Kriegstribunal gestellt werden.
Diese „heile“ Welt der US-Hegemonialordnung bejahte der Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007) bereits vor zwanzig Jahren und nannte sie eine „Weltgewaltordnung“.9 Die westliche Frohbotschaft von Demokratie und Menschenrechten entpuppt sich vor diesem Hintergrund eher als Fluch denn als Segen.
Denn die Loslösung der Menschenrechte von der Geschichte und ihre Bindung an die geopolitische Opportunität bestätigen nur noch Edmund Burkes Argumentation, dass nämlich die „Menschenrechte nichts sind als eine sinnlose >Abstraktion<“. Es sei „politisch sinnlos …, seine eigenen Rechte als unveräußerliche Menschenrechte zu reklamieren, da sie konkret niemals etwas anderes sein können als die Rechte eines Engländers oder eines Deutschen … Die einzige Rechtsquelle, die bleibt, … scheint in der Tat die Nation zu sein; >aus der Nation< also, und nirgendwo sonst entspringen die Rechte, sicher nicht aus Robespierres >Menschheit, dem Souverän der Erde<“10 und schon gar nicht aus den Hauptstädten der sogenannten „Freien Welt“.
Abstrakte Leitbegriffe wie Demokratie und Menschenrechte sind, da sie in einer konkreten, rechtshistorischen und verfassungspolitischen Entwicklung ihre spezifische Bedeutung erhielten und darum eine spezifisch westliche Lebensrealität wiederspiegeln, kaum geeignet, ihre Authentizität den anderen historisch-gewachsenen Kultur- und Machträumen zu oktroyieren, welche die Willensbildungsprozesse hochkomplexer, politischer und gesellschaftlicher Institutionen auf traditionell andere Art und Weise sanktionieren und nicht nur die Mentalität einer Vielzahl von Individuen als solchen, sondern auch zahlreiche, traditionsgebundene Lebensstrukturen, Organisationen und Suborganisationen präformieren. Sie können von außen unmöglich umprogrammiert werden.
Die Folge der westlichen Oktroyierungspolitik ist die Entstehung einer von der „Weltgewaltordnung“ geprägte Chaoswelt und nicht die Weltordnung „einer vernünftigen Gemeinschaft wohlgeordneter Völker“. Um der entstandenen Chaoswelt einen Schein der Legalität zu verpassen, beanspruchen die USA wie selbstverständlich eine moralische und vor allem völkerrechtliche Deutungshoheit für sich, die zwar ihrem hegemonialen Selbstverständnis entspricht, nichtsdestoweniger aber im eklatanten Widerspruch zum Gewaltverbot der UN-Charta steht.
Die eigenmächtige normative Umdeutung des UN-Rechts sucht der Westen unter Führung des US-Hegemonen gleichzeitig derart flexibel zu handhaben, dass er nicht einmal die Selbstbindung an die eigene Rechtsauslegung zu akzeptieren gewillt ist. Die US-Hegemonialordnung beansprucht schlicht ein freies Ermessen selbst zur Rechtsauslegung der eigenen Selbstermächtigung. Das ist gelinde gesagt eine pure Machtwillkür der sich selbst legitimierenden „Weltgewaltordnung“.
Die Selbstlegitimation führt wiederum dazu, dass die vom US-Hegemon vorangetriebene Entwicklung neuer Verhaltensnormen und Spielregeln in den internationalen Beziehungen eine universale Geltung beansprucht, „ohne sich jedoch in gleicher Weise auf die Schaffung von Verfahrensregeln für die Umsetzung dieser Normen im Rahmen des UN-Systems einzulassen“11, was nichts anderes als die typische Vorgehensweise einer Hegemonialmacht ist, welche die anderen Staaten und Nationen dazu verpflichtet, sich an Verträge und Vereinbarungen genauso, wie an Verhaltensnormen und Spielregeln zu halten, ohne sich selbst daran binden zu lassen.
Nur vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die transatlantischen Meinungsmacher – der Hegemoniallogik unreflektiert folgend – alles ausblenden, was ihrer axiologisch geleiteten Selbstverblendung in Wege steht. Das wäre nur dann kein Problem, wenn die US-Welthegemonie fest im Sattel säße. Dem ist aber heute nicht mehr so.
Die vom US-Hegemon angeführte unipolare Weltordnung durchlebt einen Erosionsprozess, dem kein Entrinnen mehr ist. Hätten die Autoren des Handelsblatts die ganze Dramatik dieser Entwicklung reflektieren können, hätten sie längst verstanden, wie wenig ihre indoktrinierte Geisteshaltung mit dem Zeitgeist Schritt hält und wie weit sie von der Kenntnis des immer mächtiger werdenden Nichtwestens entfernt sind.
Anmerkungen
1. Silnizki, M., Autokratie in Russland? Zur Sinnentleerung eines Begriffs. 7. August 2023,
www.ontopraxiologie.de.
2. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen,
Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt
Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
3. Siehe auch Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29 August 2023, www.ontopraxiologie.de.
4. Bölsche, J., Die Macht der Märchen, in: Spiegel, 8. Dezember 2003.
5. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Becker, J./Beham, M., Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006, 18 f.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart. Vom biologischen zum
geopolitischen Rassismus? 5. Oktober 2022, www.ontoptraxiologie.de.
8. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der
Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des
Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
9. Hondrich, K. O., Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung, NZZ 22.03.2003, S. 50; des., Die ordnende
Gewalt, Der Spiegel 25/2003.
10. Zitiert nach Arendt, H., Elemente totaler Herrschaft. Frankreich 1958, 47 f.
11. Brock (wie Anm. 8).