Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts
Übersicht
- Stoltenbergs Eingeständnis
- Gorbačev und die Nato-Expansion
- Jelzin und die Nato-Expansion
- Clintons Außenpolitikpolitik: Im Zangengriff zwischen Innenpolitik und Expansionsideologie
- Die „Open Door-Politik“ versus die Monroe-Doktrin
Anmerkungen
„Es lohnt sich, entweder fair mit den Russen zu spielen
oder gar nicht zu spielen.“
(Otto von Bismarck)
- Stoltenbergs Eingeständnis
Am 7. September 2023 hat der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor dem Außenausschuss des Europaparlaments gesprochen und ungewollt eingeräumt, dass die Nato-Expansionspolitik den Ukrainekrieg mitverschuldet hat. Mit Verweis auf das historische Ereignis, „dass Finnland nun Mitglied des Bündnisses“ sei und Schwedens Mitgliedschaft kurz bevorstünde, ruft Stoltenberg die Hintergründe dieser Nato-Erweiterung in Erinnerung.
Wörtlich sagte er: „The background was that President Putin declared in the autumn of 2021, and actually sent a draft treaty that they wanted NATO to sign, to promise no more NATO enlargement. That was what he sent us. And was a pre-condition for not invade Ukraine. Of course we didn’t sign that“ (Der Hintergrund war eine Deklaration von Präsident Putin im Herbst 2021 und die Zusendung eines Vertragsentwurfs, den er von der Nato unterzeichnen lassen wollte, keine weitere Nato-Erweiterung zu versprechen. Das hat er uns geschickt. Und die Voraussetzung dafür war, nicht in die Ukraine einzumarschieren. Das haben wir natürlich nicht unterzeichnet).
„Es geschah genau das Gegenteil,“ verkündete Stoltenberg voller Stolz und berichtete Folgendes wie über ein Husarenstück: Putin „wollte, dass wir dieses Versprechen unterzeichnen und die Nato niemals erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur bei all den Verbündeten entfernen, die seit 1997 der Nato beigetreten sind, also bei der Hälfte der Nato, in ganz Mittel- und Osteuropa. Wir sollten die Nato aus diesem Teil unseres Bündnisses entfernen und eine … Mitgliedschaft zweiter Klasse einführen. Das haben wir (natürlich) abgelehnt.“
„Also zog er in den Krieg, um die Nato – noch mehr Nato – in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht. Er hat für mehr Nato-Präsenz im östlichen Teil des Bündnisses gesorgt und hat auch gesehen, dass Finnland dem Bündnis bereits beigetreten ist und Schweden bald Vollmitglied sein wird.“
Ohne dessen bewusst zu sein, was er da aufgeregt und triumphierend zugleich sagt, hat Stoltenberg die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine immer wieder geäußerten Behauptungen, dass nämlich Putin den Krieg „unprovoziert“ von Zaun gebrochen habe und mit seinem Streben nach einer Wiederherstellung der Sowjetunion einen „Neoimperialismus“ betreibe, konterkariert.
Zugleich hat er erneut bestätigt, dass der Krieg nicht erst „im Februar letzten Jahres, sondern bereits im Jahr 2014 begann. Die umfassende Invasion fand letztes Jahr statt, die illegale Annexion der Krim und Russlands Krieg im östlichen Donbass gehen jedoch bereits auf das Jahr 2014 zurück.“ Stoltenberg hat nur vergessen zu erwähnen, dass der „illegalen Annexion der Krim“ der vom Westen unterstützte und als „Majdan-Revolution“ verklärte illegale Staatstreich in der Ukraine vorausgegangen ist.
Nun hat Stoltenberg eigentlich nichts Neues und Altbekanntes gesagt. Neu war lediglich, dass er es so unverblümt öffentlich kundgetan hat. Die Reaktion der Europaabgeordneten auf Stoltenbergs Äußerungen war erstaunlich. Es gab keine.
Heißt das etwa, dass die EU-Volksvertreter mit überwältigender Mehrheit einen ukrainischen Widerstand gegen „die russischen Invasoren“ ohne Wenn und Aber selbst dann unterstützen, wenn sie nicht einmal die Hintergründe des Konflikts kennen bzw. sich dafür gar nicht interessieren?
Sie sollten sich aber dafür interessieren, um zu verstehen, was sie da überhaupt unterstützen und zu welchen Konsequenzen ihre Unterstützung führen kann. Offenbar wissen sie nicht, was in den vergangenen dreißig Jahren passiert ist, um die ganze Tragweite dessen zu begreifen, was in der Ukraine heute stattfindet.
Die transatlantischen Machteliten haben einen erstaunlichen Gesinnungswandel vollzogen. Versuchten sie Anfang der 1990er-Jahre noch zaghaft und verschämt der russischen prowestlich orientierten Führung die Nato-Osterweiterung schmackhaft und für Russland als sicherheitspolitisch unbedenklich zu verkaufen, so empört sich Stoltenberg heute darüber offenbar in Unkenntnis der Vorgeschichte und Hintergründe der spannungsgeladenen Nato-Expansionspolitik, dass Putin sich überhaupt „erdreiste“, die Nato-Expansion in Frage zu stellen.
Was für eine Geschichtsvergessenheit! Als hätte Russland erst im Dezember 2021, als Putin seine Forderungen stellte, die Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 vollumfänglich zu erfüllen, die Nato-Expansion problematisiert.
2. Gorbačev und die Nato-Expansion
Liest man die von National Security Archive veröffentlichten Dokumente über die „NATO Expansion: What Gorbachev Heard“ (12. Dezember 2017) und „NATO Expansion: What Yeltsin Heard“ (16. März 2018), so zeichnen sie ein klares unzweideutiges Bild.
Aus den freigegebenen US-amerikanischen, sowjetischen, deutschen, britischen und französischen Dokumenten, die vom National Security Archive der George Washington University veröffentlicht wurden, geht hervor, dass mehrere Staats- und Regierungschefs 1990/91 eine Mitgliedschaft Mittel- und Osteuropas in der Nato erwogen und abgelehnt haben und dass sich die Diskussionen über die Nato im Rahmen der deutschen Einigungsverhandlungen im Jahr 1990 keineswegs allein auf das deutsche Territorium beschränkten.
Die Dokumente untermauern die Kritik des ehemaligen CIA-Direktors Robert Gates (1991-1993), die Ausweitung der Nato nach Osten in den 1990er-Jahren voranzutreiben, wo doch Gorbačev im Glauben gelassen wurde, „dass dies nicht passieren würde.“1 Die Schlüsselphrase, die in den Dokumenten immer wieder vorkommt, lautet „led to believe“ (zum Glauben verführt).
Der US-Präsident George W. Bush Sr. hatte Gorbačev während des Malta-Gipfels (Dezember 1989) versichert, dass die USA die Revolutionen in Osteuropa nicht ausnutzen würden, um die sowjetischen Interessen zu tangieren, auch wenn weder Bush noch Gorbačev oder Helmut Kohl zu dem Zeitpunkt mit der deutschen Wiedervereinigung gerechnet haben.
Die ersten konkreten Zusicherungen der westlichen Politiker begannen bereits am 31. Januar 1990, als Hans-Dietrich Genscher in seiner Rede (im bayerischen Tutzing) über die deutsche Wiedervereinigung sprach. Die US-Botschaft (noch in Bonn) teilte Washington mit, dass Genscher klargestellt habe, „dass die Veränderungen in Osteuropa und der deutsche Einigungsprozess nicht zu einer >Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen< führen dürfen. Die Nato sollte darum eine >Ausweitung ihres Territoriums nach Osten bzw. eine Annäherung an die sowjetischen Grenzen< ausschließen.“2
Das Bonner Telegramm nahm auch Genschers Vorschlag zur Kenntnis, das ostdeutsche Territorium auch im vereinten Deutschland aus den militärischen Strukturen der Nato herauszunehmen. Die letztgenannte Idee eines Sonderstatus für das DDR-Gebiet wurde bekanntlich im deutschen Einigungsvertrag festgeschrieben, der am 12. September 1990 unterzeichnet wurde, wohingegen es zwar keine vertragliche Verpflichtungen, wohl aber Zusicherungen in zahlreichen Gesprächen zwischen den Sowjets und den westlichen Gesprächspartnern (Genscher, Kohl, Baker, Gates, Bush, Mitterrand, Thatcher, Major, Wörner u. a.) 1990/91 hinsichtlich der Beachtung sowjetischer Sicherheitsinteressen und der Einbindung der UdSSR in die neuen, (noch) zu schaffenden europäischen Sicherheitsstrukturen gab.
Als sich Genscher am 6. Februar 1990 mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd traf, sagte er: „Die Russen müssen die Gewissheit haben, dass, wenn beispielsweise die polnische Regierung eines Tages den Warschauer Pakt verlässt, sie im nächsten Jahr nicht der Nato beitreten würde.“3
Nicht nur einmal, sondern dreimal benutzte der US-Außenminister James Baker (1989-1992) beim Treffen mit Gorbačev am 9. Februar 1990 die Formel „keinen Zentimeter nach Osten“. Er stimmte Gorbačevs Aussage zu, dass „die Nato-Erweiterung inakzeptabel sei“. Baker versicherte Gorbačev, dass „weder der Präsident noch ich beabsichtigen, einseitige Vorteile aus den stattfindenden Prozessen zu ziehen.“4
Aus den Dokumenten geht hervor, dass Gorbačev der deutschen Vereinigung innerhalb der Nato als Ergebnis dieser Kaskade von Zusicherungen und auf der Grundlage seiner eigenen Analyse auch deswegen zustimmte, weil er die Sowjetunion als Teil eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ sah, in dem Deutschland ein entscheidender Akteur sein würde.
Er glaubte, dass eine Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“ möglich sei und im Zuge der Transformation der Nato verwirklicht werden könnte, um zu einem umfassenderen und integrierten europäischen Raum zu kommen, und dass die sowjetischen Sicherheitsinteressen nach dem Ende des „Kalten Krieges“ berücksichtigt würden.
In der US-Regierung selbst gab es freilich auch eine andere Diskussion, nämlich eine Debatte über die Beziehungen zwischen der Nato und Osteuropa. Die Meinungen gingen dabei weit auseinander. Ein Vorschlag des US-Verteidigungsministeriums vom 25. Oktober 1990 bestand darin, „die Tür offen zu lassen“ für die Mitgliedschaft Osteuropas in der Nato (But inside the U.S. government, a different discussion continued, a debate about relations between NATO and Eastern Europe. Opinions differed, but the suggestion from the Defense Department as of October 25, 1990 was to leave „the door ajar“ for East European membership in NATO).5
Dass diese Debatte bereits im Jahr 1990 stattgefunden hat, ist an sich schon bemerkenswert. Die interne Debatte fand in der Bush-Administration zwischen dem Verteidigungsministerium bzw. dem Büro des Verteidigungsministers Dick Cheney und dem Außenministerium statt. In der Frage der Nato-Osterweiterung möchte OSD (= Office of the Secretary of Defense) „die Tür offenlassen“ (to leave the door ajar), wohingegen the State Department „einfach darauf hinweisen wollte, dass die Diskussion über eine Erweiterung der Mitgliedschaft nicht auf der Tagesordnung steht.“
Die Bush-Administration übernahm in ihren öffentlichen Verlautbarungen de facto die Sichtweise des Außenministeriums. Wie wir heute wissen: Aufgeschoben heißt nicht aufgehoben. Denn bereits die nächste US-Administration – die Clinton-Administration – übernahm die Sichtweise des Verteidigungsministeriums.
Noch im März 1991 versicherte der britische Premierminister John Major laut dem Tagebuch des britischen Botschafters in Moskau Gorbačev persönlich: „Wir reden nicht über die Stärkung der Nato.“ Als der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Dmitri Jasow John Major anschließend nach dem Interesse der osteuropäischen Staats- und Regierungschefs an einer Nato-Mitgliedschaft fragte, antwortete der britische Premier: „Nichts dergleichen wird passieren.“6
Wirklich nicht? Die Russen wurden später, wie man weiß, eines Besseren belehrt. Als die Abgeordneten des Obersten Sowjets im Juli 1991 nach Brüssel kamen, um sich mit dem deutschen Nato-Generalsekretär Manfred Wörner zu treffen, sagte er den Russen: „Wir sollten nicht zulassen, dass … die UdSSR von der europäischen Gemeinschaft isoliert wird.“ In einer russischen Gesprächsnotiz heißt es: „Wörner betonte, dass der Nato-Rat und er gegen die Erweiterung der Nato seien (13 von 16 Nato-Mitgliedern unterstützen diesen Standpunkt).“7
So ging Gorbačev bis zum Ende der Sowjetunion davon aus, dass der Westen deren Sicherheit nicht bedrohen und die Nato sich nicht erweitern würde. Nun ist das Sowjetimperium im Dezember 1991 untergegangen und auch der „Kalte Krieg“ ist längst Geschichte. Die Diskussion über die Nato-Osterweiterung ging aber dessen ungeachtet in der Ära Jelzins umso heftiger und unvermindert weiter.
3. Jelzin und die Nato-Expansion
Die am 16. März 2018 freigegebenen Dokumente aus US-amerikanischen und russischen Archiven zeigen, dass die US-Beamten Boris Jelzin 1993 glauben ließen, dass „the Partnership for Peace“ (PFP) eine Alternative zur Nato-Erweiterung und nicht ihr Vorläufer sei und dass das künftige europäische Sicherheitssystem Russland ein- und nicht ausschließen würde.
In einem Gespräch zwischen dem US-Außenminister Warren Christopher und Jelzin in Moskau versicherte der Amerikaner am 22. Oktober 1993, dass es bei der PFP darum gehe, Russland zusammen mit allen anderen europäischen Ländern einzubeziehen, und nicht darum, eine neue Liste für die Nato-Mitgliedschaft zu erstellen. Überliefert ist auch Jelzins Antwort darauf: „Das ist genial!“
Christopher behauptete allerdings später in seinen Memoiren, dass Jelzin die eigentliche Botschaft missverstanden habe und dass die PFP tatsächlich „zu einer schrittweisen Erweiterung der Nato führen sollte.“ Das in Amerika verfasste Telegramm, das über das Gespräch berichtet, stützt aber die späteren russischen Beschwerden über die Irreführung.8
Christopher hatte zudem laut dem Telegramm dem russischen Außenminister Andrej Kozyrev am gleichen Tag gesagt, dass es „keine vorher festgelegten neuen Mitglieder“ in der Nato geben würde und dass „die Partnerschaft für den Frieden“ (PFP) „für alle offen“ sei.9
Der Bericht von Clintons Sonderberater für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und US-Vizeaußenminister, Strobe Talbott, über dasselbe Treffen mit Jelzin am 22. Oktober 1993 hinterlässt hingegen den Eindruck, dass Jelzin nur das hörte, was er hören wollte, und dass die eigentliche Botschaft der Amerikaner vielmehr lautete: „PFP heute, Erweiterung morgen“ (PFP today, enlargement tomorrow).10
Dass die Russen und Amerikaner aneinander vorbeiredeten, wundert nicht, war doch Clintons Außenpolitik spätestens seit 1993 auf die Nato-Expansion ausgerichtet, wohingegen die Russen aller politischen Couleur entschieden gegen jedwede Nato-Osterweiterung waren.
So warnte der US-Geschäftsträger in Moskau, James Collins, den US-Außenminister Christopher im Vorfeld seines Moskauer Besuchs im Oktober 1993 vor einer Anti-Nato-Stimmung in Moskau: Die Nato-Frage sei „für die Russen neuralgisch. Sie gehen davon aus, dass sie bei einer schnellen Entscheidung auf der falschen Seite einer neuen Teilung Europas landen würden, wenn die Nato eine Politik verfolgt, die eine Expansion nach Mittel- und Osteuropa vorsieht, ohne Russland die Tür offen zu halten.“
Jelzin selbst hatte freilich mit seiner unüberlegten Äußerung im August 1993 in Warschau eine breite Debatte über eine mögliche Nato-Erweiterung ausgelöst, in der er das Recht der Länder in der Schlussakte von Helsinki anerkannte, ihre Bündnisse zu wählen, und „offenbar >grünes Licht< für die Nato-Expansion zu geben schien.“
In dem „grünen Licht“-Dokument der USA heißt es allerdings, dass Moskau fast sofort damit begonnen hat, „seine Position zu >verfeinern<“. Jelzins Brief an Clinton vom 15. September 1993 brachte seine „Beunruhigung“ über eine „quantitative Expansion“-Diskussion zum Ausdruck und befürwortete nachdrücklich statt Nato „ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem“ (a pan-European security system instead of NATO).
Jelzin warnte: „Nicht nur die Opposition, sondern auch die gemäßigten Kreise in Russland würden dies zweifellos als eine Art Neoisolationismus unseres Landes wahrnehmen, der im diametralen Widerspruch zu seiner natürlichen Aufnahme in den euroatlantischen Raum (into Euro-Atlantic space) steht.“ Zugleich wies er darauf hin, dass „der Geist“ des deutschen Einigungsvertrags „die Option einer Ausweitung der Nato-Zone nach Osten ausschließt.“
Das russische außenpolitische Establishment war in der Tat mehr als irritiert. So kommen die russischen außen- und sicherheitspolitischen Experten beispielsweise in einem Thesenpapier aus dem Jahr 1995 zum Ergebnis, dass die Nato – sollte nichts passieren – ziellos dahinvegetieren würde, überflüssig und letztlich im Sterbebett landen würde. Nach dem Motto „Erweiterung oder Tod“ plädierten darum vor allem die US-Amerikaner für eine Nato-Expansion nicht zuletzt aus geopolitischen Erwägungen. Denn die sich aus dem Nordatlantik-Vertrag ergebenden Verpflichtungen dienten als Grundlage der militärischen und politischen Präsenz der USA in Europa und damit als wichtiges Vehikel zur Domestizierung Europas durch die USA sowie als Stärkung des amerikanischen Einflusses auf dem Kontinent.11
Resigniert und ernüchtert stellten die Russen sodann fest: „Die Hoffnung einer absoluten Minderheit westlicher Politiker, einen neuen, ja sogar absurden Kalten Krieg zu provozieren, um zumindest zeitweise das >Hauptorganisationsprinzip< der Nato, d. h. die Prämisse der >Bedrohung aus dem Osten<, zu neuem Leben zu erwecken, sollten nicht von der Hand gewiesen sein.“12
Jelzins Befürchtungen waren also alles andere als unbegründet. Auch die freigegebenen US-Dokumente sprechen für sich. So offenbart ein Dokument des US-Außenministeriums „einen gewissen Expansionskalender“ (a specific calendar for expansion) von Anfang September 1993, in dem die Länderaufnahme in die Nato bis auf die Ukraine, Weißrussland und Russland bis zum Jahr 2005 aufgelistet wird, nachdem die Mittel- und Osteuropäer und das Baltikum bereits aufgenommen wurden.13
Jelzins Schreiben vom 15. September 1993 trug sodann zu intensiven US-Debatten bei, in deren Folge der „Expansionskalender“ des US-Außenministeriums vom US-Verteidigungsministerium abgelehnt wurde, was im Herbst 1993 wiederum zur Idee einer „Partnership for Peace“ (PFP) und nicht zu einer expliziten Nato-Erweiterung geführt hat. Bei seinem Besuch in Moskau (Januar 1994) sagte Clinton zu Jelzin, dass die PFP „jetzt das Richtige“ sei.
Clinton verfolgte eine Doppelstrategie. Zum einen spielte er auf Zeit. Auf dem Weg nach Moskau hielt Clinton in Prag kurz zuvor seine berühmte „Nicht ob, sondern wann“-Rede („not whether but when“ speech),14 die von den Nato-Erweiterungsbefürwortern in der Clinton-Administration genutzt wurde, um die intern geführte Debatte dementsprechend zu beeinflussen.
Die freigegebenen Memos von Clintons Prager Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der Tschechischen Republik, Polens, Ungarns und der Slowakei zeigen, dass der US-Präsident für die „Partnerschaft für den Frieden“ als „einen Weg“ plädiere, „der zur Nato-Mitgliedschaft führt“. Clinton gab dabei gegenüber Vaclav Havel offen zu, dass „es derzeit unter den Nato-Verbündeten keinen Konsens über die Ausweitung formeller Sicherheitsgarantien gibt“, weil „Russlands Reaktion das Gegenteil von dem sein könnte, was wir wollen.“
Zum anderen verfolgte Clinton eine Beschwichtigungsstrategie. So legte er am 27. September 1994 in einem persönlichen Gespräch mit Jelzin im Weißen Haus Wert darauf, im russisch-amerikanischen Beziehungen „Inklusion und nicht Exklusion zu betonen“ (emphasizing inclusion, not exclusion). Die Nato-Expansion sei weder antirussisch noch sei beabsichtigt, Russland auszuschließen, und es gäbe keinen unmittelbaren Zeitplan (NATO expansion is not anti-Russian; it’s not intended to be exclusive of Russia, and there is no imminent timetable),15 beschwichtigte Clinton.
Ungeachtet von Clintons Beschwichtigungen sprach Richard Holbrooke (new Assistant Secretary of State for Europe) zu gleicher Zeit von einer Beschleunigung der Nato-Expansion und initiierte im November 1994 gar eine Nato-Studie über die „Wie und Warum“-Aufnahme der neuen Mitglieder, was Jelzin veranlasste, mit einem Schreiben an Clinton vom 29. November 1994 vehement dagegen zu protestieren. Offenbar wurde Clintons Hinhaltetaktik von der eigenen Mannschaft sabotiert.
Holbrookes entscheidendes Argument für eine rasche Nato-Osterweiterung lautete: Eine „andauernde Instabilität in Osteuropa bedrohe die Kohäsion auch des westlichen Teils des Kontinents.“16
Am 1. Dezember 1994 weigerte sich der russische Außenminister Andrej Kozyrev zur Überraschung der Amerikaner der „Partnerschaft für den Frieden“ beizutreten und kurz darauf wetterte Jelzin am 5. Dezember 1994 auf dem Budapester KSZE-Gipfel vor dem überraschten Clinton gegen die Nato: „Warum sähen Sie die Saat des Misstrauens? … Europa droht in einen kalten Frieden zu fallen …. Die Geschichte zeigt, dass es eine gefährliche Illusion ist anzunehmen, dass die Geschicke der Kontinente und der Weltgemeinschaft überhaupt von einer einzigen Hauptstadt aus gesteuert werden könnten.“17
Als die Clinton-Administration verstand, dass ihre Beschwichtigungspolitik nicht aufgeht, weil die Russen zu dem Ergebnis kamen, dass die USA „die Integration (Russlands) der Nato-Expansion unterordnen, wenn nicht sogar aufgeben“ würden, entsandte Washington den Vizepräsidenten Al Gore nach Moskau, um die Dinge in Ordnung zu bringen.18
Bei seinen Gesprächen versicherte Al Gore, dass die Nato-Expansion nur ein schrittweiser Prozess sein würde, der mit einer „größtmöglichen Verständigung“ zwischen den USA und Russland einhergehen würde, und dass keine neuen Nato-Mitglieder im Jahr 1995 – einem Jahr vor den russischen Parlamentswahlen – aufgenommen werden.
Später sagte Al Gore dem belgischen Premierminister, dass „Jelzin bereit sei, sich der grundlegenden Wahrheit zu fügen, dass die Nato expandieren würde.“ Als Clinton im Mai 1995 anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg nach Moskau kam, zeigte Jelzin allerdings nur eine begrenzte Zustimmungsbereitschaft.
Jelzins Einwände waren freilich aus der Sicht einer ehem. Supermacht nachvollziehbar: „Ich sehe nichts anderes als eine Demütigung Russlands, wenn Sie so weitermachen,“ sagte er Clinton und fuhr weiter fort: „Warum willst Du das tun? Wir brauchen eine neue Struktur für die gesamteuropäische Sicherheit und keine alte … Wenn ich aber der Nato-Expansion bis an die Grenzen Russlands zustimmen würde, wäre das ein Verrat von mir am russischen Volk.“
Clinton bestand dessen ungeachtet darauf, dass die Nato-Expansion „schrittweise, stetig und maßvoll“ erfolgen müsste: „Sie können sagen, Sie wollen keine Beschleunigung – ich habe Ihnen gesagt, dass wir das nicht tun werden … Bitten Sie uns, langsamer zu werden, sonst müssen wir einfach weiterhin Nein sagen.“ Clinton beteuerte zugleich: „Ich werde keine Veränderung unterstützen, die die Sicherheit Russlands untergräbt oder Europa neu spaltet.“
Und er forderte Jelzin auf, der „Partnerschaft für den Frieden“ beizutreten. Am Ende einigten sich die beiden darauf, dass die Nato-Expansion bis nach den Präsidentschaftswahlen 1996 (in den beiden Ländern) verschoben werden sollte.
Für Russland war auch nicht mehr drin. Das postsowjetische Russland der 1990er-Jahre war zu schwach, um der einzig verbliebenen Supermacht irgendwelche Bedingungen zu diktieren. Das Russland der 1990er-Jahre war viel zu schwach, orientierungslos, politisch und ökonomisch desorganisiert, um der sicherheitspolitischen Weichenstellung der US-amerikanischen Ordnungsmacht in Europa irgendetwas entgegensetzen zu können.
Und so ist es gekommen, wie es kommen musste. Beim Clinton-Jelzin-Treffen im Juni 1995 in Halifax (Nova Scotia) begrüßte Clinton Russlands Zustimmung, endlich der PFP beizutreten, und empfahl mehr militärische Zusammenarbeit und Dialog zwischen Russland und der Nato.
Jelzin blieb nichts anderes übrig, als eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen, indem er lediglich seine altbekannte Position wiederholte: „Wir müssen an unserer Position festhalten, die darin besteht, dass es keine schnelle Nato-Expansion geben sollte.“ Und er fügte gleich hinzu: „Es ist wichtig, dass die OSZE der Hauptmechanismus für die Entwicklung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa (developing a new security order in Europe) ist. Natürlich ist auch die Nato ein Faktor, aber die Nato sollte sich zu einer politischen Organisation entwickeln.“
Das war aber nur ein frommer Wunsch einer ehemaligen, jetzt daniederliegenden Supermacht. Der „Kalte Krieg“ wurde verloren, die Schlacht wurde geschlagen und Russland musste sich der neuen geopolitischen Realität fügen. Die Nato-Osterweiterung war spätestens seit 1995 eine beschlossene Sache und nur noch eine Frage der Zeit.
Russland war damit geopolitisch ausgespielt und sicherheitspolitisch bis zum 15. Dezember 2021, als die russische Führung ihre sicherheitspolitischen Forderungen an den Westen gestellt hat, ein Vierteljahrhundert lang – wie ein defekter Eisenbahnwaggon – auf ein geo- und sicherheitspolitisches Abstellgleis abgestellt. Die USA und die Nato reagierten auf Russlands Forderungen deswegen so gereizt und ablehnend, weil sie nicht ohne Recht eine Revision der nach dem Dayton-Abkommen entstandenen Sicherheitsarchitektur in Europa witterten. Diese Ablehnung der sicherheitspolitischen Forderungen Russlands war eine der Mitursachen für den Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022.
4. Clintons Außenpolitik: Im Zangengriff zwischen Innenpolitik und Expansionsideologie
Clintons Außen- und Sicherheitspolitik wirft die Frage auf: Warum beharrte die Clinton-Administration so kompromisslos auf die Nato-Expansion, statt Jelzins Forderung nachzukommen, „eine neue Sicherheitsordnung in Europa“ (a new security order in Europe) zu schaffen?
Die meisten Beobachter erklären die überraschende Abwendung der Clinton-Administration von einer anfänglichen Zurückhaltung gegenüber den osteuropäischen Aufnahmewünschen und der Hinwendung zur Nato-Erweiterungspolitik mit innenpolitischen Entwicklungen. „Der Vorschlag der Nato-Öffnung war von führenden Republikanern aufgegriffen worden, die hofften, mit einer Kritik der >Russia-First<-Politik Talbotts indirekt Clintons Außenpolitik treffen zu können.“19
Auch Jutta Koch sieht eher innenpolitische Gründe für die überraschende Entwicklung. „Während das im Rahmen der Nato erfolgte militärische Eingreifen der USA auf dem Boden des früheren Jugoslawiens im Kongress stark umstritten war, traf die Öffnung der Nato dort auf breite Zustimmung, ja der Kongress war zeitweilig treibende Kraft. In dem mit Blick auf die Kongresswahlen 1994 formulierten republikanischen Contract with America spielte die Osterweiterung eine prominente Rolle.“20
Die „Russia-First-Politik“ von Strobe Talbott war freilich, wie oben gesehen, alles andere als prorussisch, sondern vielmehr rein taktisch motiviert, zumal Clinton vom Kongress gar nicht getrieben werden musste.
Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion blieben die USA in den 1990er-Jahren eine „Weltmacht ohne Gegner“. Die US-Außen-, Geo- und Weltpolitik musste sich nicht mehr den Zwängen der bipolaren Weltordnung unterwerfen, womit sich die Chance öffnete, die Welt(ordnungs)politik nach Belieben von Grund aus zu gestalten.
Die vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung durch die Sowjetunion entfiel, die amerikanische Gesellschaft blickte nach innen und wandte sich den eigenen innenpolitischen Problemen zu. So sah es zumindest auf den ersten Blick aus.
Die Außenpolitik rückte in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund, was Clinton „im Präsidentschaftswahlkampf 1992 mit seinem Rekurs auf die Innenpolitik, zugespitzt auf den Wahlkampfslogan >It’s the economy, stupid!<, (genau) erkannt und seinen Wahlkampf konsequent darauf ausgerichtet“ habe.21
„Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Clinton sich zu Beginn seiner Präsidentschaft innenpolitischen Problemlagen wie der Reform des Gesundheitssystems zuwendete und in der Außenpolitik die Strategie der Multilateralisierung und Demokratisierung (Engagement and Enlargement) propagierte. … Die Zone demokratischer Staaten sollte erweitert und die internationale Führungsrolle der USA im Sinne eines nachdrücklichen Multilateralismus neu definiert werden.“22
Das Zauberwort für diese neue Außenpolitik lautete „assertive multilateralism.“ Diese Außenpolitik des „assertive multilateralism“ stieß freilich innenpolitisch auf Kritik, indem sie sich dem Vorwurf der Führungsschwäche aussetzte, da sie „auf unilaterale Vorgehensweisen verzichtete“ (ebd., 199).
War der Vorwurf überhaupt berechtigt? „Laut wurde dieser Vorwurf bereits in Clintons erstem Amtsjahr, als die Kommandostrukturen der Vereinten Nationen (VN) im inneramerikanischen Diskurs für das Scheitern der humanitären Intervention in Somalia verantwortlich gemacht wurden und sich die Politik des Präsidenten den Vorwurf der >foreign policy as social work< einhandelte. …
Clintons Strategie des >assertive multilateralism< erwies sich im Aushandlungsprozess zwischen Präsident, Kongress, Medien und Öffentlichkeit als nicht konsensfähig … Der Präsident reagierte prompt und bereits zur Jahreshälfte 1994 gehörte die Strategie der Vergangenheit an. Zu tief schien die ambivalente Haltung gegenüber internationalen Organisationen in der politischen Kultur und in den politischen Institutionen der Vereinigten Staaten verankert …
Nach dem Erdrutschsieg der Republikaner in den Kongresswahlen 1994, der sogenannten >Konservativen Revolution<, war Clinton dann endgültig zu umfassenden Kurskorrekturen in seiner Außenpolitik gezwungen. Den republikanischen Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses ging jede Multilateralisierung amerikanischer Außenpolitik in die falsche Richtung. Die USA sollten unilateral führen, getreu dem Motto: >Act alone, or do nothing<. Ziel war es, zu einem größtmöglichen Maß an Handlungsfreiheit in der Außenpolitik zurückzufinden …
Clinton musste schnell erkennen, dass seine ursprüngliche Programmatik mit ihrer Betonung des Multilateralismus im Kapitol nicht mehrheitsfähig war.“23 Soweit die Analyse von „Clintons gescheiterter Strategie des sog. „assertive multilateralism“ von Jochen Hils und Jürgen Wilzewski.
Folgt man dieser These, so führt die gescheiterte Strategie direkt zur „Open-Door“-Politik der Nato. „Sicher, der Weg zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz wurde nicht nur aus wahltaktischen Motiven beschritten“, schwächten Hils/Wilzewski ihre These etwas ab und schreiben weiter: „Idealistische Ambitionen, wie die Schaffung einer >demokratischen Sicherheitsgemeinschaft<, mischten sich mit Worst Case-Überlegungen, die ein sicherheitspolitisches Vakuum in Mitteleuropa befürchten ließen und von den Beitrittskandidaten genährt wurden. Innenpolitische Kalküle vermengten sich mit dem allianzpolitischen Interesse an der Bewahrung der amerikanischen Führungsrolle, und das just zu dem Zeitpunkt, als die Zweifel an der Bedeutung der Nato für die Konfliktbewältigung vor dem Hintergrund des Krieges in Bosnien gewachsen waren … Der republikanische Kongress spielte dabei eine zentrale Rolle. Die Republikaner drängten mit dem NATO Expansion Act und dem NATO Revitalization Act auf die zügige Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz. Dahinter stand ein offen artikuliertes Interesse am Neo-Containment Russlands und eine vehemente Kritik an der sogenannten Russia-First-Politik der Clinton-Administration.“24
Diese Deutung der Ereignisse ist zwar nicht von der Hand zu weisen, sie gibt aber bei weitem nicht die ausschlaggebenden Gründe für die Nato-Expansionspolitik der Clinton-Administration wieder. Die freigegebenen Dokumente zeigen, dass Clinton und seine Mannschaft – wie oben gesehen – lange vor der sog. „Konservativen Revolution“ 1994 auf die Nato-Expansionspolitik setzten und nur auf Zeit spielten.
Bereits kurz nach dem Mauerfall 1989 spielte das US-Verteidigungsministerium mit den Gedanken über die Nato-Erweiterung und sprach davon, wie der Bericht von 25. Oktober 1990 zeigt, „die Tür offen zu lassen“ (leave „the door ajar“). Dieser „Drang nach Osten“ war im Washingtoner Establishment von Anfang an da, auch wenn er (noch) nicht vorherrschend war.
Bereits ein von der „New York Times“ 1992 veröffentlichtes Strategiepapier „Defense Planning Guidance“ bestätigt diese Vermutung. Die unter der Leitung von Paul D. Wolfowitz zustande gekommenen, der Zeitung zugespielten und nicht für die Öffentlichkeit bestimmten US-amerikanischen geostrategischen Überlegungen für die Zeit nach dem „Kalten Krieg“ sorgten weltweit für Aufsehen. Die konzipierte Präventivstrategie der nunmehr zum weltweiten Hegemonen aufgestiegenen Supermacht erklärte zum Ziel der US-Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern …, die Washington feindlich gesinnt“ sein könnten.25
Die Nato-Expansion wäre demzufolge nur noch eine folgerichtige Konsequenz dieser US-Geostrategie. Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Eine andere und bei weitem wichtigere Seite war allerdings etwas ganz anderes, nämlich die Zusammensetzung von Clintons außenpolitischem Team.
Zu diesem Team gehörten u. a. die Veteranen der Carter-Regierung – der Außenminister Warren Christopher und der Nationale Sicherheitsberater Anthony Lake. Die beiden vertraten zum einen einvernehmlich mit Clinton und seinem engsten Freund, Vizeaußenminister Strobe Talbott, Carters Menschenrechtspolitik. Sie blieben aber zum zweiten immer noch die eingefleischten „Kalten Krieger“ und wurden zum dritten von Zivilisationstheorien beeinflusst, die die militärische Macht für weniger bedeutsam als die wirtschaftliche hielten.
Das letztere war wohl der ausschlaggebende Grund, warum ausgerechnet Bill Clinton es war, der nicht so sehr aus den innenpolitischen Zwängen, als vielmehr aus eigenem Antrieb für eine Nato-Expansion plädierte.
Clinton war ein gelehriger Schüler eines US-amerikanischen Zivilisationstheoretikers, Carroll Quigley (1910-1977). In seiner Rede zur Annahme der Präsidentschaftskandidatur nannte Clinton „Quigley neben John F. Kennedy jenen Menschen, der seinen politischen Idealismus am tiefsten beeinflusst hat. Clinton war Mitte der sechziger Jahre Student bei Quigley in Georgetown (Washington D. C.), zu einer Zeit, als Quigley gerade an seinem Hauptwerk Tragedy and Hope … arbeitete.“26
In seinem umfangreichen, knapp 1000 Seiten umfassenden Werk „Tragödie und Hoffnung“ vertritt Quigley die kühne These, dass die Fähigkeit der westlichen Zivilisation, „die anderen Kulturen zu zerstören“, auf einer dauerhaften Expansion beruhe. Die westliche Zivilisation habe „drei Perioden der Expansion“ durchlaufen und wäre „drei Mal in eine Konfliktphase“ geraten. In der Konfliktphase bildete sich immer wieder „eine neue Organisation der Gesellschaft, die aus ihrer eigenen organisatorischen Kraft heraus expandieren konnte.“27
Die Geschichte der westlichen Zivilisation sei nach Quigley ein ständiger Wechsel zwischen Expansions- und Konfliktphase, die sich gegenseitig ablösen und bedingen. Die vier Etappen der Konfliktphase (Abnahme der Expansionsdynamik, Klassenkonflikte, imperialistische Kriege, Irrationalität) würden nach und nach und immer wieder durch die vier für die Expansionsphase typischen Phänomene (demographische und geographische Ausdehnung, Steigerung von Produktion und Wissen) substituiert.
Der Übergang von einer Konflikt- in eine Expansionsphase führe genauso zu einer erneuten Investition und Kapitalakkumulation, wie der Übergang von einer Expansions- in eine Konfliktphase den Rückgang der Investitionen und die Abnahme der Kapitalakkumulation mit sich bringe.28 Folgt man dieser Zivilisationstheorie von Carroll Quigley, so erscheint die fortschreitende Entwicklung des „Westens“ als eine ökonomische Veranstaltung, die den ökonomischen Gesetzen von Aufschwung und Abschwung, Boom and Bust, folgt.
Quigleys Zivilisationstheorie nimmt nicht nur den berühmt gewordenen Slogan der Wahlkampagne Clintons: „It´s the economy, stupid!“ bereits vorweg, sondern prägt im Wesentlichen auch seine Russland- bzw. Außenpolitik im postsowjetischen Raum, in deren Zentrum die Nato-Expansionspolitik steht. Nach der „Konfliktphase“ des „Kalten Krieges“ tritt „die westliche Zivilisation“ – folgt man Quigleys Lehre – erneut in das „Zeitalter der Expansion“ ein. Diese neue Expansionsphase, die zur demographischen und geographischen Ausdehnung der „westlichen Zivilisation“ und damit zum Wohlstand und Prosperität aller Nationen führen sollte, löste die Konfliktphase der bipolaren Weltordnung ab und verwandelte diese in die Expansionsphase der unipolaren Weltordnung.
In dieser erneuten Expansionsphase muss der postsowjetische Raum als eine „außenstehende Zivilisation“ (Quigley, ebd., 21) vom Westen „zivilisiert“ und das heißt: kolonisiert werden, um so seine ökonomische Rückständigkeit im Sinne der Errungenschaften der „westlichen Zivilisation“ überwinden zu können. Zur Abfederung dieses Zivilisierungs- bzw. Demokratisierungsprozesses bedürfe es zwingend einer Nato-Erweiterung.
Kurzum: Clinton kann durchaus als der Architekt der neuen US-Außenpolitik nach dem Ende des „Kalten Krieges“ gelten, und zwar aus eigenem Antrieb und nicht allein aus den innenpolitischen Zwängen.
5. Die „Open Door-Politik“ versus die Monroe-Doktrin
Am 15. Dezember 2021 übergab die russische Führung den USA einen Vertragsentwurf über die Sicherheitsgarantien und die Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit Russlands und der Nato-Staaten. Zwei Tage später, am 17. Dezember 2021, veröffentlichte das russische Außenministerium ihn auf seiner offiziellen Website.
Sie enthielt insbesondere die Forderung nach dem Stopp der Nato-Expansion gen Osten, einschließlich der Ukraine, und die Rückkehr der militärischen Infrastruktur des Bündnisses in den Zustand, der zum Zeitpunkt der ersten Runde der Bündniserweiterung von 1997 bestand. Die Nato-Weigerung, die russischen Forderungen zu erfüllen, war einer der Gründe für den bis heute andauernden Ukrainekrieg.
Am 17. Dezember 2022 – genau ein Jahr nach der Veröffentlichung des Vertragsentwurfs – berichtete eine TASS-Quelle aus der russischen Führung, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen „eine konzeptionelle Rückkehr zu Russlands Initiativen für die Sicherheitsgarantien nicht zu erwarten ist“ (концептуального возврата к инициативам России по гарантиям безопасности ожидать не приходится).
Die Diskussion über die Moskauer Vorschläge endete kurz vor der russischen Invasion „mit einem schwachen und unverbindlichen US-Vorschlag nach dem Motto: Mal sehen, welche Beschränkungen für die Angriffswaffen eingeführt werden können.“ Dahinter steckte – wie im Übrigen nicht anderes zu erwarten war – ein und dasselbe Verhaltensmuster, das der Westen bereits seit dreißig Jahren stets praktiziert hat: Man ignorierte en passant die russischen Sicherheitsinteressen und die Nato verbat sich im Falle der Ukraine jede Einschränkung ihrer und Kiews Handlungsfreiheit. Diese Machtarroganz verunmöglichte von vornherein jede weitere Diskussion.
Seit Anfang 2022 diskutierten die Kontrahenten folgerichtig erfolglos über die von Moskau vorgelegten Vorschläge. Am 10. Januar 2022 fanden in Genf Konsultationen statt, bei denen die russische Delegation durch den stellvertretenden Außenminister Russlands Sergej Rjabkov und die amerikanische durch die erste stellvertretende Außenministerin Wendy Sherman vertreten wurden. Schon damals betonte Sherman, dass Washington „keine Entscheidungen über die Ukraine ohne die Ukraine treffen“ und nicht zulassen werde, dass den anderen Staaten die Tür zur Nato verschlossen bleibe. So blieb alles beim Alten!
Diese Position wurde am 12. Januar 2022 auf der Tagung des Russland-Nato-Rates wiederholt und bekräftigt. Die Nato-Länder machten zudem deutlich, dass sie mit der Forderung, die militärische Infrastruktur wieder auf das Niveau von 1997 zurückzuführen, nicht einverstanden sind. Die letzte persönliche Konsultationsrunde zwischen den beiden Seiten fand am 21. Januar 2022 unter Leitung von Lawrow und Blinken ergebnislos statt.
Am 2. Februar veröffentlichte die spanische Zeitung El País den vollständigen Text der Antworten der USA und der Nato. Das Leck wurde später vom Pentagon zugegeben. Das Hauptproblem bestand bei den Verhandlungen darin, dass Washington zwar bereit war, das Prinzip der unteilbaren Sicherheit zu diskutieren, weil laut Moskau im Falle eines möglichen Beitritts der Ukraine die vitalen russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigt würden. Gleichzeitig betonte Washington aber, dass es mit dieser Auslegung des Prinzips der unteilbaren Sicherheit nicht einverstanden sei.
Mit anderen Worten, die USA und die Nato praktizierten wie in den vergangen drei Jahrzehnten wieder eine Hinhaltetaktik und spielten erneut auf Zeit im Glauben, auch diesmal damit durchkommen zu können, weil alles letztendlich im Sand verlaufen würde.
Nach dem Motto: Angriff sei die beste Verteidigung warfen die USA und die Nato ihrerseits Russland vor, „die Grundprinzipien der globalen und euroatlantischen Sicherheitsarchitektur in Frage zu stellen“, und forderten den Abzug der russischen Truppen aus der Krim, Transnistrien, Südossetien und Abchasien. Zugleich wurde die „Open Door“-Politik der Nato bekräftigt.
Moskaus Forderung, den Nato-Vormarsch nach Osten zu stoppen und „jegliche militärische Aktivität auf dem Territorium der Ukraine sowie anderen Staaten Osteuropas, Transkaukasiens und Zentralasiens“ einzustellen, wurde wie immer arrogant und kompromisslos zurückgewiesen.
Putin erklärte in einem Gespräch mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron am 28. Januar 2022, dass Washington und Brüssel die grundlegenden Sicherheitsbedenken Moskaus ignoriert hätten. Genau eine Woche vor der Invasion wurde am 17. Februar 2022 dem US-Botschafter John Sullivan im russischen Außenministerium klar gemacht, dass Washington alles ignorierte, was für Russlands Sicherheitsinteressen von entscheidender Bedeutung war.
Höchstwahrscheinlich glaubte Russland, mit seinen Forderungen dem Westen zu verstehen zu geben, „dass es diesmal sehr ernst ist“, vermutete Fjodor Lukjanov (Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in Global Affairs“).
Das Hauptproblem war, dass die USA und die Nato sich kategorisch weigerten, über Nato-Erweiterung nicht einmal im Ansatz zu diskutieren, geschweige irgendwelche Kompromisse einzugehen, stellte Lukjanov fest. „Darüber hinaus gibt es im Westen gar keine Reflexion über die Vorgeschichte des Konflikts. Und die Meinung, dass Russland kein politisches, wirtschaftliches und moralisches Recht habe, (überhaupt) irgendetwas zu fordern, ist zum Selbstverständnis der (Russland)Politik geworden“ (Кроме того, на Западе отсутствует рефлексия относительно предыстории событий, а мнение, что Россия не имеет политического, экономического и морального права чего-то требовать, превратилось в основу политики), fügte Lukjanov hinzu.29
Das Ergebnis ist bekannt: Der Krieg in der Ukraine. Dass die Nato-Expansionspolitik und die Weigerung, sie zu stoppen, den Ukrainekrieg mitverschuldet hat, gestand, wie gesehen, der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 7. September 2023 ein.
Liest man den vom russischen Außenministerium am 17.12.21 veröffentlichten Vertragsentwurf mit der Überschrift „Договор между Российской Федерацией и Соединенными Штатами Америки о гарантиях безопасности“ (Vertrag zwischen der Russländischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Sicherheitsgarantien), so wird deutlich, worum es der russischen Seite im Wesentlichen ging.
Es ging nicht nur und nicht allein um einen seit dreißig Jahren immer und immer wieder geforderten Stopp der Nato-Expansion, sondern auch und vor allem um die bereits seit 2014 allmählich und unaufhaltsam stattfindende Nato-Expansion in der Ukraine. Das war die eigentliche „rote Linie“, die die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen nicht überschreiten dürften.
Dass diese „rote Linie“ überschritten wurde, war der russischen Führung vollkommen klar, da die USA längst begonnen haben, die Nato-Infrastruktur in der Ukraine de facto bzw. informell und klammheimlich aufzubauen. Darauf deuten Artikel 3 und 4 des von Russland veröffentlichten Vertragsentwurfs:
Artikel 3
„Die Vertragsparteien nutzen das Hoheitsgebiet anderer Staaten nicht zur Vorbereitung oder Durchführung eines bewaffneten Angriffs gegen die andere Vertragspartei oder für andere Handlungen, die die grundlegenden Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei beeinträchtigen.“
Artikel 4
„Die USA verpflichten sich, eine weitere Ausdehnung der Nato-Allianz nach Osten auszuschließen und die Aufnahme von Staaten in das Bündnis zu verweigern, die zuvor Mitglieder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken waren.
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden weder Militärstützpunkte auf dem Territorium von Staaten errichten, die früher Mitglieder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und nicht Mitglieder der Nato-Allianz waren, noch deren Infrastruktur für die Durchführung militärischer Aktivitäten nutzen oder die bilateralen Streitkräfte in Zusammenarbeit mit ihnen entwickeln.“
Diese bereits de facto stattfindende klammheimliche Expansion der Nato-Infrastruktur hat die russische Führung am meisten beunruhigt und seit Jahren Sorge bereitet. Die Ignoranz der vitalen Sicherheitsinteressen Russlands hat zu dem geführt, was heute in der Ukraine zu besichtigen ist.
Und wenn Stoltenberg davon spricht, dass Russland angeblich genau das Gegenteil erreicht hat, weil die Nato mit Finnland und demnächst Schweden noch näher an die russischen Grenzen heranrückt, dann hat er entweder nichts verstanden oder führt die europäische Öffentlichkeit bewusst in die Irre.
Dass Stoltenberg die Ukraine auf eine Stufe mit Finnland und Schweden stellt und damit sie als ein x-beliebiges Land betrachtet, zeigt, wie wenig er offenbar die Bedeutung der Ukraine für Russland verstanden hat und wie sehr er und die gesamte transatlantische Macht- und Funktionselite die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung mit ihrer „open door policy“ in eine Sackgasse manövriert haben.
Denn diese „Open Door-Politik“ der Nato steht im schroffen Gegensatz zu den vitalen Sicherheitsinteressen Russlands, welche alle roten Linien des russischen geo- und sicherheitspolitischen Selbstverständnisses sprengen. Hier prallen zwei sich selbst aufhebende geopolitische Doktrinen auf- und gegeneinander.
Die Nato-Politik der „offenen Tür“ ist bei näherem Hinsehen nichts anderes als dasjenige, was Doug Bandow (Senior Fellow der Denkfabrik Cato Institute) „eine umgekehrte Monroe-Doktrin“ (a reverse Monroe Doctrine) nennt. Diese „umgekehrte Monroe-Doktrin“ zielt darauf, die US-Vorherrschaft bis an die russische Grenze (vgl. „domination, the desire to impose a reverse Monroe Doctrine up to Russia’s border“)30 und – möchte man hinzufügen – auch darüber hinaus auszudehnen.
Postuliert die vom US-Präsident James Monroe (1817-1825) 1823 verkündete Doktrin drei unverrückbaren Prinzipien der US-Außenpolitik: „Unabhängigkeit aller amerikanischen Staaten; Nichtkolonisation in diesem Raum; Nichtintervention außeramerikanischer Mächte in diesem Raum“,31
so verfolgt die Nato mit ihrer „Open Door-Politik“ in der Tat „eine umgekehrte Monroe-Doktrin“.
Russland beharrt demgegenüber auf eine russische „Monroe-Doktrin“, indem es sich vehement gegen die Kolonisation des ostslawischen Raumes wehrt und für das – um Carl Schmitts Terminologie zu benutzen – „Interventionsverbot raumfremder Mächte“ in diesem Raum ausspricht.
Da die Ukraine ein Teil des ostslawischen Raumes, in dem Russen, Ukrainer, Weißrussen und die anderen zahlreichen Völker und Völkerschaften jahrhundertelang friedlich miteinander lebten, sei, verbietet sich Russland von selbst jede Einmischung der raumfremden Mächte in die innerslawischen Angelegenheiten.
Kurzum: Russland geht es im Ukrainekonflikt nicht so sehr um die Frage nach einer Unabhängigkeit bzw. Souveränität der Ukraine und/oder eine territoriale Besitznahme, als vielmehr um die Nichtkolonisation des ostslawischen Raumes und Nichtintervention außerostslawischer Mächte.
Als Anti-Monroe-Doktrin negiert die „open door policy“ hingegen bereits seit dreißig Jahren – bewusst oder unbewusst, sei dahin gestellt – diese Grundprinzipien der russischen Geo- und Sicherheitspolitik und ignoriert damit die vitalen russischen Sicherheitsinteressen.
Mit Putin erlebte die geopolitische Tradition Russlands eine Renaissance. Und wer im Westen heute immer noch vom Sieg der Ukraine träumt, im Glauben das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen und zu den Irrungen und Wirrungen der 1990er-Jahre zurückzukehren, der befindet sich auf dem geostrategischen Holzweg und versteht nicht die Zeichen der Zeit.
Die 1990er-Jahre waren eine absolute Anomalie der russischen Geschichte und sind nicht mehr reanimierbar. Ein Konflikt zwischen den beiden Doktrinen war vorprogrammiert und unausweichlich. Als der Hüter der geopolitischen Tradition der Ostslawen hätte Russland diesen westlichen Affront der Nato-Expansion in der Ukraine nie zulassen können und wird – wie man heute sieht – auch nicht zulassen, was auch immer das kostet.
Das zu verstehen, bedeutet das eigene geostrategische Versagen sich selbst einzugestehen. Denn die Beziehungen zwischen Russland und den USA hätte man nach dem Ende des „Kalten Krieges“ auch anderes gestalten können, als die Clinton-Administration es getan hat. Sie setzte – wie gesehen – getreu der Zivilisationstheorie von Carroll Quigley und immer noch dem Denken des „Kalten Krieges“ verhaftet auf Expansion und Dominanz zunächst in Ostmitteleuropa und dann im postsowjetischen Raum, statt Jelzins Wunsch von „einer neuen Sicherheitsordnung in Europa“ (a new security order in Europe bzw. a pan-European security system) nachzukommen und den eurasischen „Mastodon“ an sich zu binden.
Die Clinton-Administration und die nachfolgenden US-Administrationen machten Russland erneut zu einem gefährlichen geostrategischen Rivalen, hätten sie nur Bismarcks Warnung gekannt. „Russland“ – warnte Bismarck einst – „ist mehr eine elementare Kraft als ein Kabinett, mehr Mastodon als Diplomat, und muss behandelt werden wie schlechtes Wetter, bis man es ändern kann, – nicht wie denkende Politiker.“32
Der kurzlebige Triumphalismus der 1990-Jahre rächt sich umso mehr, als es sich heute herausstellt, dass Russland mit dem Aufstieg Chinas zur geoökonomischen Supermacht und einer zunehmenden Emanzipation des sog. „Globalen Südens“ eine ganz andere und womöglich viel bessere geostrategische Alternative zum Westen bekommen hat.
Heute rächt sich auch die Ignoranz der transatlantischen Macht- und Funktionseliten dessen, wovor Brzezinski immer schon gewarnt hat. In seinem berühmten, 1997 erschienenen Werk „The Grand Chessboard“ schrieb der einflussreiche US-Geostratege: „Das Schlechteste, was den USA widerfahren könnte, ist das Auftreten einer strategischen Allianz zwischen Moskau und Peking, der sich noch Iran anschließen würde.“
Und genau das ist eingetreten, wovor Brzezinski gewarnt hat: das Entstehen der Achse Russland-China. Iran und mittlerweile Nordkorea kommen als Teil einer vertieften Partnerschaft noch hinzu und es entsteht womöglich ein gigantischer eurasisch-indopazifischer Koloss als Gegengewicht zum Westen. Und so steht der Westen vor einer kaum lösbaren geostrategischen Alternative, die da lautet: Entweder er geht mit der Zeit oder er geht mit der Zeit.
Anmerkungen
1. See Robert Gates, University of Virginia, Miller Center Oral History, George H.W. Bush Presidency, July 24, 2000, p. 101.
2. Siehe U.S. Embassy Bonn Confidential Cable to Secretary of State on the speech of the German ForeignMinister: Genscher Outlines His Vision of a New European Architecture. Februar 1, 1990.
3. Documents on British Policy Overseas, series III, volume VII: German Unification, 1989-1990. (Foreign and Commonwealth Office. Documents on British Policy Overseas, edited by Patrick Salmon, Keith Hamilton, and Stephen Twigge, Oxford and New York, Routledge 2010). pp. 261-264.
4. Siehe Record of conversation between Mikhail Gorbachev and James Baker in Moscow. (Excerpts) Feb 9, 1990. Source: Gorbachev Foundation Archive, Fond 1, Opis 1.
5. Siehe George HW Bush Presidential Library: NSC Philip Zelikow Files, Box CF01468, Ordner „File 148 NATO Strategy Review No. 1 [3].“
6. Ambassador Rodric Braithwaite diary, 05 March 1991. Source: Rodric Braithwaite personal diary (used by permission from the author).
7. Siehe State Archive of the Russian Federation (GARF), Fond 10026, Opis 1.
8. Vgl. Warren Christopher, Chances of a Lifetime: A Memoir, p. 280, describes Yeltsin as „stiff, almost robotic“ and „emanating heavy alcohol fumes.“ James Goldgeier was the first to point out the contradiction between what Yeltsin heard and what the Americans actually had in mind, in his authoritative account of the U.S. decision to expand NATO, Not Whether But When, p. 59.
9. Secretary Christopher’s meeting with Foreign Minister Kozyrev: NATO, Elections, Regional Issues Oct 25, 1993, in: U.S. Department of State. Date/Case ID: 11 MAR 2003 200001030.
10. Vgl. Strobe Talbott, The Russia Hand, p. 101.
11. Russland und die NATO. Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik der Russischen Föderation, in: Pradetto, A. (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Russland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit. Darmstadt 1997, 161-177 (165).
12. Russland und die NATO (wie Anm. 11), 166.
13. Strategy for NATO’s Expansion and Transformation Sep 7, 1993. Source:U.S. Department of State. Date/Case ID: 07 JUL 2004 199904515.
14. Näheres dazu James Goldgeier, Not Ob But When, 1999, 57 f., 62 ff.; ferner Ronald D. Asmus, Opening NATO’s Door: How the Alliance Remade Itself for a New Era. Columbia University Press, 2002. 15. Vgl. Strobe Talbott, The Russia Hand. A Memoir of Presidential Diplomacy. 2003, 136.
16. Zitiert nach Kubbig, B. W./Dembinski, M./Kelle, A., Unilateralismus als alleinige außenpolitische Strategie? HSFK-Report 3/2000 (Mai 2000), 32.
17. Vgl. Elaine Sciolino, “Yeltsin Says NATO Is Trying to Split Continent Again,” The New York Times, 6. December 1994.
18. December 21 NAC: Guidance for Discussion of the Vice President’s Visit to Russia. Dec 21, 1994. Source: U.S. Department of State. Date/Case ID: 01 SEP 2010 201002312.
19. Kubbig (wie Anm. 16), 33.
20. Koch, J., Erweiterung und Führung. Die Nato-Politik der USA, in: Rudolf, P. u. a. (Hrsg), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000, 109-124 (112).
21. Hils, J./Wilzewski, J., Zwischen Republik und Imperium: Die Außenpolitik der USA von Clinton zu Bush, in: Puhle, H.-J. u. a. (Hg.), Supermacht im Wandel. Die USA von Clinton zu Bush. Frankfurt/New York 2004, 193-221 (197).
22. Hils/Wilzewski (wie Anm. 21.), 198.
23. Hils/Wilzewski (wie Anm. 21.), 199 ff.
24. Hils/Wilzewski (wie Anm. 21), 201 f.
25. Zitiert nach Kubbig, B. W., Wolfowitz’ Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
26. Bracher, A., „Das anglophile Netzwerk“ – Carroll Quigleys Enthüllungen zur anglo-amerikanischen Politik, in: ders., Europa im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Basel 2001, 19-47 (19).
27. Quigley, C., Tragödie und Hoffnung. Eine Geschichte der Welt in unserer Zeit. Rottenburg 2016, 19 f.
28. Vgl. Quigley (wie Anm. 27), 20.
29. Zitiert nach Владимир Кулагин, Российские предложения по безопасности сохраняют актуальность. Выдвинутые год назад Москвой инициативы не были восприняты всерьез США, что привело к началу СBO. Ведомости, 9 декабря 2022.
30. Bandow, D., Ukraine`s Vain Search Wonder Weapons. The American Conservative, 24. August 2023.
31. Schmitt, C., Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, in: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969. Berlin 1995, 269-371 (277).
32. Zitiert nach Wittram, R., Die russisch-nationalen Tendenzen der achtziger Jahre, in: ders., Das Nationale als europäisches Problem. Beiträge zur Geschichte des Nationalitätsprinzips vornehmlich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1954, 183-213 (189).