Zwischen Euphorie und Ernüchterung
Übersicht
- Das Relikt der 1990er-Jahre
- Die „Goldgräberstimmung“
- Ein Überblick über die aktuelle Lage in der Ukraine und Russlands Wirtschaft
- Die US-Russlandpolitik in einer geopolitischen Sackgasse
Anmerkungen
„Dulce bellum inexpertis.“1
- Das Relikt der 1990er-Jahre
Am Tag der russischen Invasion in der Ukraine – dem 24. Februar 2022 – „entdeckte Biden fast über Nacht seinen inneren Kalten Krieger (inner Cold Warrior) wieder und damit ein neues Ziel seiner Präsidentschaft,“ schreibt Jacob Heilbrunn am 5. Juni 2022 in Politico.2
Und „praktisch über Nacht bejubelten die Akolythen der amerikanischen Macht (the acolytes of American power) den Krieg in der Ukraine als Signal einer bevorstehenden Restauration der globalen Pax Americana (signaling the coming restoration of a global Pax Americana)“, beobachtet Andrew J. Bacevich bereits kurz zuvor am 28. April 2022 in The Nation3 das gleiche Phänomen auch bei dem „Washingtoner außenpolitischem Establishment“ (Washington foreign policy establishment), welches Ben Rhodes (ehem. stellvertretender Berater für nationale Sicherheit der Obama-Administration) einst „Blob“ nannte.
Dieser aus US-Demokraten und US-Republikanern gleichermaßen bestehende „Washingtoner Blob“ („the Washington Blob“) – eine heterogene Gruppe der Macht- und Funktionseliten, steht für eine „aggressive, militante Außenpolitik“ (hawkish foreign policy) und predigt stets „das alte Evangelium der amerikanischen Führung auf der Weltbühne“ (the old-time gospel of American leadership on the world stage), meint Doug Bandow (Senior Fellow der Denkfabrik Cato und einer der schärfsten Kritiker der US-Außenpolitik). 4
„Der Blob“ – schreibt Bandow gleich im ersten Satz seiner Veröffentlichung – „hasst nichts mehr als einen Widerspruch zur etablierten Grundeinstellung, dass die USA mehr und immer mehr in der Welt tun müssen. Wer aber einer anderen Meinung ist, wird entweder als Dummkopf oder als Verräter gebrandmarkt.“
Der Verlauf der ersten Kriegsmonate hat den „Washingtoner Blob“ geradezu elektrisiert und euphorisiert. Denn im Vorfeld des Kriegsausbruchs ging man noch vom raschen Sieg Russlands aus. So überschrieben Bill Powell und Naveed Jamali zwei Tage nach dem Kriegsausbruch am 26. Februar 2022 in Newsweek ihren Artikel mit dem Titel „Putin Has Never Lost a War. Here Is How He’ll Win In Ukrain“ (Putin hat noch nie einen Krieg verloren. Er wird auch hier in der Ukraine gewinnen).
Als der Krieg zur Überraschung aller anderes als erwartet verlaufen ist, erinnerte man sich schnell an eine abfällige Äußerung eines britischen Journalisten, der die Sowjetunion vier Jahrzehnte zuvor als „Obervolta mit Raketen“ („Upper Volta with rockets“) verspottete und rückständig, ungeschickt und unkultiviert nannte.5
Euphorisch erwartete sodann Francis Fukuyama, der bekanntlich bereits gegen Ende der 1980er- /Anfang der 1990er-Jahre vom „Ende der Geschichte“ träumte, von einer russischen Niederlage in der Ukraine eine „Neugeburt der Freiheit“, die „uns aus unserem Kummer über den Niedergang der globalen Demokratie befreien wird.“6
Fukuyamas „Geist von 1989“ wurde nunmehr zur Hoffnung von Blob auf einen ukrainischen Sieg über „die Dunkelheit, die die Autokratie antreibt“ (the darkness that drives autocracy), wie sich Joe Biden bei seinem Besuch in Warschau am 26. März 2022 ausdrückte. „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, sagte er damals ganz am Schluss seiner Rede.
Getreu diesem außenpolitischen Credo schrieb Bret Stephens (Kolumnist der New York Times) noch im Vorfeld des Kriegsausbruchs am 22. Februar 2022: „Dies ist ein Moment für Amerika, wieder an sich selbst zu glauben“ (This Is a Moment for America to Believe in Itself Again) und bezeichnete die Ukrainekrise als eine Gelegenheit für die US-Amerikaner zu ihrer Erlösungsarbeit zurückzukehren.
Vor dem Hintergrund dieser wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ ideologisch und messianisch aufgeladenen Stimmung hat sich der „Washingtoner Blob“ neuformiert, was sich in dessen zahlreichen Äußerungen und hektischen Aktivitäten niederschlug. So erklärte Evelyn Farkas (ehem. Beamtin des Obama-Verteidigungsministeriums u. derzeit Geschäftsführerin des in Washington ansässigen McCain Institute): „Wir müssen nicht nur Russlands illegale Besetzung der Ukraine und Georgiens verurteilen, sondern wir müssen auch einen Rückzug aus beiden Ländern bis zu einem bestimmten Datum fordern und Koalitionskräfte organisieren, die bereit sind, Maßnahmen zu ergreifen, um dies durchzusetzen.“
Und sie fügte hinzu: „Die Amerikaner müssen zusammen mit unseren europäischen Verbündeten unser Militär einsetzen, um die Russen zurückzudrängen – selbst unter der Gefahr einer direkten Konfrontation.“ Senator Chris Coons (ein enger Freund Bidens) regte ebenfalls an, darüber nachzudenken, „wann wir bereit sind, den nächsten Schritt zu tun und nicht nur Waffen, sondern auch Truppen zur Unterstützung der Verteidigung der Ukraine zu senden.“
„Ein weiteres Zeichen dafür“ – berichtete Heilbrunn (ebd.) -, „dass sich der Blob neuformiert, sind die regelmäßigen einstündigen Telefongespräche über die Ukraine und Russland, die die Biden-Administration seit Februar mit den führenden Denkfabriken in Washington abhält, darunter dem Brookings Institution und der Carnegie Endowment for International Peace, dem Atlantic Council, dem Center for European Policy Analysis (CEPA) und dem German Marshall Fund. Zum Briefing der Administration gehörten auch Eric Green (Beamter des Nationalen Sicherheitsrats) und Laura K. Cooper (Beamtin des Verteidigungsministeriums).“
All das deutete auf eine Mobilisierung aller Kräfte des „Washingtoner Blobs“ zwecks einer weiteren Konfrontation, Eskalation und Zuspitzung des Konflikts hin. Alle Denkfabriken in Washington – insbesondere der Atlantic Council und die CEPA – spielten sowohl bei der Beeinflussung der Biden-Administration als auch bei deren Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle.
Der Atlantic Council hat z. B. eine Reihe von ehemaligen US-Botschaftern (darunter die bekannten Hardliner wie Alexander Vershbow, John Herbst und Daniel Fried) mobilisiert. Bereits Ende Dezember 2021 gab der Atlantic Council eine Erklärung ab, die u. a. kein geringerer als der ehem. Vizeaußenminister der Clinton-Administration, Strobe Talbott (geb. 1946), unterzeichnete. Talbott war Clintons engster Freund und der eigentliche Architekt der US-Außenpolitik nach dem Ende des „Kalten Krieges“, deren Kern die Nato-Expansionspolitik ausmachte.7
Welche Ziele verfolgte „the Washington Blob“ nun mit seiner aggressiven Anti-Russlandpolitik? Doug Bandow vertrat am 23. Mai 2022 in seinem bereits oben erwähnten, sarkastisch verfassten Artikel „The Washington Blob: Its Blind Arrogance May Lead to War with Russia“ (Der Washington Blob: Seine blinde Arroganz könnte zu einem Krieg mit Russland führen) die Auffassung, dass „Russlands Invasion in der Ukraine ein Geschenk des Teufels (a gift from the Devil)“ sei.
„Der Krieg bietet einen Vorwand, um Amerikas bereits ohnehin aufgeblähten Militärhaushalt weiter aufzustocken, riesige Mengen an Waffen und Geld zu transferieren, einen Stellvertreterkrieg zu führen, die US-Kontrolle über Europa zu verstärken, den Globalen Süden einzuschüchtern, dem Beispiel Amerikas zu folgen, und die Welt neu zu ordnen. … Vielleicht noch bemerkenswerter ist jedoch die Tatsache, dass eine Reihe von US-Politikern dazu beigetragen hat, die Krise auszulösen. … Sie bereiten sich darauf vor, Amerika in eine Katastrophe zu führen.“
Bandows Kritik am Vorgehen der Biden-Administration ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Sie trifft freilich nur teilweise den Kern des Problems. Denn die eigentliche Intention für die aggressive US-Russlandpolitik war – worauf Heilbrunn (ebd.) zu Recht hinweist – „der Wunsch“ des Washingtoner Establishments, „in die 1990er-Jahre zurückzukehren“, um der Weltmachtstellung Amerikas zu alter Größe zu verhelfen.
„Jetzt wird der Blob“ – liest man Heilbrunn weiter -, „da Putin in der Ukraine scheitert, stärker als je zuvor, weil er einen Sieg über Moskau wittert.“
Die Rückkehr, ja die Restauration der „glorreichen“ 1990er-Jahre, denen der ideologische Sieg über den Systemrivalen im „Kalten Krieg“ vorausging, ist dasjenige, was den „Washingtoner Blob“ antrieb und so aggressiv und militant machte. Er wollte die weltweite US-Vormachtstellung zur alten Stärke verhelfen, um die Größe Amerikas wie in den „glücklichen“ 1990er-Jahren nach den gescheiterten Interventionen im Irak und in Afghanistan wiederherzustellen bzw. zu reanimieren.
So wie die Sowjetnostalgiker im postsowjetischen Russland bis heute den „wunderbaren“ Sowjetzeiten nachtrauen, so wollte auch „der Washingtoner Blob“ die Geschichte zurückdrehen. In diesem eher emotionalen denn rationalen Streben nach einer Wiederherstellung der alten Größe Amerikas besteht der eigentliche Casus knacksus der US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik, die in sich bereits die Gefahr ihres Scheiterns birgt.
„Nichts symbolisierte den anhaltenden Einfluss des Blobs (sway of the Blob) deutlicher als der Gedenkgottesdienst in der Washington National Cathedral für die ehem. Außenministerin Madeleine Albright“ Ende Mai 2022, schrieb Heilbrunn (ebd.) und meinte anschließend: „In seiner leidenschaftlichen Laudatio zog Biden eine implizite Parallele zu den 1990er-Jahren“, die angeblich den „Kreuzzug für Demokratie auf dem Balkan gegen Milošević verkörperten … Mir war nicht entgangen, dass Madeleine maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Nato immer so stark bleibt, wie heute,“ sagte Biden und bezeichnete sie als „Nexus der außenpolitischen Gemeinschaft“ (nexus of the foreign policy community).
Heilbrunn hat freilich nur vergessen zu erwähnen, dass Albright nicht nur „ein Gründungsmitglied des Washingtoner Establishments“ war und dass dieses „Establishment vollzählig zu ihrer Zeremonie kam“, sondern dass sie auch diejenige war, die Clintons Nato-Expansionspolitik vollumfänglich unterstützte und eine Militarisierung der US-Außenpolitik höchstpersönlich vorantrieb.
So verkündete sie einst unumwunden und mit der Hingabe einer zur einzig wahren Gewaltreligion Bekehrten: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen.“
Wie auch immer man zu Madeleine Albright stehen mag, eins hat „der Washingtoner Blob“ bis heute nicht begriffen, dass er mit dem Gedenkgottesdienst für Clintons Außenministerin gleichsam auch den „Geist“ der „ruhmreichen 1990er-Jahre“ unwiderruflich und unwiederbringlich zu Grabe getragen hat. Offenbar hat „der Washingtoner Blob“ noch nie von der warnenden Stimme eines Thomas von Kempen (1380-1471) gehört: „O quam cito transit gloria mundi!“ (Oh wie schnell vergeht der Ruhm der Welt!).
2. Die „Goldgräberstimmung“
Man muss sich die „Goldgräberstimmung“ der 1990er-Jahre noch einmal in Erinnerung rufen, um das ganze Faszinosum dieser „glorreichen“ Zeit für „den Washingtoner Blob“ begreifen zu können. Sichtbar wurde diese Stimmung auf der am 13. Januar 1993 in Washington im zehnten Stock des Carnegie Conference Center am Dupont Circle stattgefundenen Konferenz. John Williamson – der berühmt-berüchtigte Erfinder des sogenannten „Washington Consensus“ – hat diese bemerkenswerte Veranstaltung organisiert. Sie trug zwar den harmlosen Titel „Die politische Ökonomie der Reformpolitik“, „aber einer der Teilnehmer bemerkte amüsiert, das eigentliche Thema sei >Machiavellische Ökonomie<.“8
Der US-Ökonom Jeffrey Sachs, der als Wirtschaftsberater für die russische Regierung in den 1990er-Jahren tätig war und an der Veranstaltung teilgenommen hat und als Mann gefeiert wurde, „der die Fackel der Schocktherapie ins Reich der Demokratie getragen hatte“, versuchte vergeblich dem vom Rausch des Sieges über den ideologischen Feind des „Kalten Krieges“ euphorisierten Publikum „den Ernst der Lage in Russland“ zu vermitteln und begreiflich zu machen. Er stieß dabei auf völliges Unverständnis der Anwesenden. Der eigentliche Star der Konferenz war der Gastgeber selbst, John Williamson, der mit seinem Vortrag viel besser die Stimmung der Konferenzteilnehmer traf. Begeistert sprach er von „kataklysmischen Ereignissen“ und wies zugleich darauf hin, „dass nur Länder, die wirklich leiden, bereit sind, die bittere Marktpille zu schlucken; nur wenn sie geschockt sind, unterwerfen sie sich der Schocktherapie.“9
Dass diese erbarmungslose Logik eines siegberauschten Technokraten nicht nur marktradikal, sondern auch geopolitisch und insbesondere geoökonomisch gedeutet werden kann und muss, zeigen seine weiteren Auslassungen: „Man wird fragen müssen, ob es möglicherweise sinnvoll sein könnte, absichtlich eine Krise zu provozieren, um die politische Blockade der Reformen zu entfernen. Beispielsweise ist gelegentlich vermittelt worden, es würde sich lohnen in Brasilien eine Hyperinflation anzuheizen, um alle so einzuschüchtern, dass sie diese Veränderungen akzeptieren . . . Kann man sich eine Pseudokrise vorstellen, die dieselben positiven Funktionen ausübt, wie eine reale, nur ohne deren Kosten?“ (ebd.)
Diese im Jahre 1993 offen zutage getretene, als „Pseudokrise“ apostrophierte, vom US-Hegemon insbesondere in den vergangenen zwei Jahrzehnten allmählich und beharrlich umgesetzte „Strategie der verbrannten Erde“ mittels der militärischen Interventionen, der handelspolitischen Sanktionen und der monetären Repressionen, um den globalen Raum stets in einem geopolitischen und geoökonomischen >Stresszustand< zu halten, war zur damaligen Zeit wahrlich ein revolutionärer Gedanke und ein kaum zu übersehender Übermut der siegesgewissen Macht- und Funktionseliten des glücklichen, furchtlosen und vor Kraft strotzenden Amerikas der 1990er-Jahre.
Ja, das waren Zeiten! Und heute? Heute herrscht Tristesse in Washington und im ganzen, von „Ruhm und Gloria“ so verwöhnten Land: „Das Machtzentrum der Welt wird zum Altersheim“ überschrieb Annett Meiritz (Handelsblatt-Korrespondentin in Washington) neulich ihren Artikel vom 8. September 2023. „Greise Politiker schwächeln vor laufender Kamera“ steht im Untertitel geschrieben. Und selbst der alte Biden ist nur noch Schatten seiner selbst.
„Der Washingtoner Blob“ hat in der Tat „ein Gerontokratie-Problem“. Es ist geradezu zum Symbol eines immer deutlich werdenden Erosionsprozesses der US-Hegemonie geworden. Hinzu kommen ein politisch und sozial zu tiefst gespaltenes Land, ein Berg von Schulden u. a. als Folge der in den vergangenen zwei Jahrzehnten geführten zahllosen Interventionen und Invasionen und nicht zuletzt die lästigen Revisionsmächte China und Russland, die sich „erdreisten“, die US-Hegemonie herauszufordern und in Frage zu stellen.
3. Ein Überblick über die aktuelle Lage in der Ukraine und Russlands Wirtschaft
Putins Invasion in der Ukraine war „ein Geschenk des Teufels“ (a gift from the Devil), wie Doug Bandow es am 23. Mai 2022 entsetzt formulierte. Dieses „Geschenk des Teufels“ durfte der „Blob“ sich natürlich nicht entgehen lassen. Darin sah er womöglich die allerletzte Chance, das Rad der Geschichte doch noch zurückzudrehen und hat sich – wie man heute weiß – völlig verkalkuliert. Denn die Nachrichten von der ukrainischen Front sind trostlos und sprechen dafür, dass die sog. ukrainische „Konteroffensive“ kurz vor dem Zusammenbruch steht, auch wenn in der deutschen Öffentlichkeit von den interessierten Kreisen gezielt der Eindruck erweckt wird, dass sich die Ukraine auf dem Vormarsch befindet.
Die US-Geheimdienste gehen hingegen davon aus – berichtete u. a. The Washington Post am 17. August 2023 -, dass die Ukraine das Hauptziel der Offensive – die südöstliche Stadt Melitopol, einen wichtigen russischen Transitknotenpunkt – nicht erreichen könne, da sie durch Minenfelder behindert würden. Und Financial Times überschrieb kürzlich ihren Bericht mit dem Titel „US grows doubtful Ukraine counteroffensive can quickly succeed“ (Die USA bezweifeln zunehmend, dass die ukrainische Konteroffensive erfolgreich sein kann).
Daniel Michaels meint im Wall Street Journal : „Die derzeitige Kampagne der Ukraine zur Rückeroberung der besetzten Gebiete könnte noch viele Monate dauern. Die westlichen Militärstrategen und politische Entscheidungsträger beginnen bereits über die Frühjahrsoffensive im nächsten Jahr nachzudenken. Die Verschiebung spiegelt die zunehmende Einsicht wider, dass der Kampf der Ukraine um die Vertreibung der russischen Invasionstruppen wahrscheinlich lange dauern wird, sofern kein großer Durchbruch gelingt.“
„Dies wird auf obszöner Weise als positiv für Kiew dargestellt,“ empört sich hingegen Doug Bandow am 24. August 2023 und meint entrüstet: „Der Krieg zerstört die Ukraine. Die Kosten des Krieges steigen täglich, die Wirtschaft liegt am Boden, die Bevölkerung ist durch Massenflüchtlingsströme dezimiert, die Regierung überlebt nur durch westliche Almosen, das Militär hat einen Großteil seines ursprünglichen Arsenals aus der Sowjetzeit aufgebraucht … die Armee hat wahllos sowohl ausgebildete als auch unausgebildete Arbeitskräfte rekrutiert. Aufgrund der schrumpfenden Bevölkerung , korrupten Rekrutierungsbeamten und Wehrdienstverweigerern wird es immer schwieriger, einen Ersatz zu finden. Trotz aller westlichen Wunschvorstellungen über einen Zusammenbruch Russlands scheint ein katastrophales Scheitern Kiews angesichts eines gelungenen Managements Moskaus immer wahrscheinlicher. Washingtons Ziel scheint sich zunehmend allein darauf zu konzentrieren, Russland Schaden zuzufügen, statt der Ukraine etwas Gutes zu tun.“10
Die militärische Lage an der Front für die Ukraine sieht freilich noch viel schlimmer aus, als selbst die von Bandow beschriebene Dramatik vermuten lässt. Schenkt man dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schojgu Glauben, so sind die Verluste Kiews geradezu katastrophal. Allein in den vergangenen drei Monaten seit dem Beginn der ukrainischen „Gegenoffensive“ vom 4. Juni bis zum 4. September 2023 hat laut Schojgus Angaben vom 4.09.23 die Kiewer Regierung u. a. ca. 66.000 getöteten Militärangehörigen zu beklagen.
Am 12. September 2023 sprach Putin auf dem „Eastern Economic Forum“ in Wladiwostok bereits von 71.500 getöteten ukrainischen Militärs (seit dem 4. September 2023); zudem wurden laut Putin 543 Panzer und ca. 18.000 gepanzerte Wagen zerstört. Zählt man die Verwunderten (nach einer Eins-zu-drei-Faustregel) noch hinzu, so ist die Lage geradezu dramatisch.
Auch die ukrainische Seite bestätigt indirekt „gewaltige Verluste“. So berichtete ein ukrainischer Soldat am 5. September 2023 einem bekannten englischen Kriegsberichterstatter Anthony Loyd aus der Londoner Times von der Front: Er gehe davon aus, dass 90 Prozent seiner Einheit getötet werden würden.11 Und am 10. September 2023 hieß es im Londoner Telegraph: „Der Ukraine läuft die Zeit davon … Nach 18 Monaten Krieg (ist) nicht mehr die Frage, ob das westliche Bündnis strauchelt, sondern (nur) wann … Der Westen muss sich auf eine Demütigung einstellen.“12
Bei einem Treffen der EU-Abgeordneten mit der Nato-Führung im EU-Parlament am 7. September 2023 sprach die irische Europaabgeordnete Claire Daly von 500.000 getöteten ukrainischen Soldaten. Darauf angesprochen, reagierte Stoltenberg mit dem Satz: „Wir sehen, dass Russland seine Verteidigung richtig positioniert hat“, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die angesprochenen Zahlen über die ukrainischen Todesopfer zu kommentieren, geschweige zu widerlegen.
„Der Washingtoner Blob“ hat sich offenkundig verkalkuliert. Er hat sich verschätzt und überschätzt, indem er fest davon ausging, dass Russland dank einer massiven militärischen und finanziellen Unterstützung der Nato-Verbündeten auf dem ukrainischen Schlachtfeld geschlagen oder zumindest in Bedrängnis gebracht werden könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Stellungnahme des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes (SWR), Sergej Naryškin, zu den strategischen Fehleinschätzungen des Westens.
In einem am 6. September 2023 gegebenen Interview der russischen Zeitschrift „National Defense“ (Национальная оборона) ließ sich Naryškin von der Überzeugung leiten, dass der Westen von Beginn der „militärischen Spezialoperation“ (SVO) an beabsichtigte, Russland eine „militärische Niederlage“ zuzufügen und es anschließend vollständig zu „zerstückeln“. „Unsere westlichen Gegner haben sich verrechnet“ (наши западные противники просчитались), stellte er dabei selbstbewusst fest und nannte drei Gründe, die zu diesen Fehlkalkulationen geführt haben:
- Eine fehlerhafte Einschätzung des ökonomischen Potenzials Russlands: „Zu Beginn des Jahres 2022 hatte ich“ – erzählt Naryškin – „die Gelegenheit, die völlig aus der Luft gegriffenen Prognosen kennenzulernen, die einen >Zusammenbruch< (kрах) der russischen Wirtschaft innerhalb von nur wenigen Monaten infolge der verschärften westlichen Sanktionen voraussagten.“ Verwundert stellte er sodann fest: „Und auf dieser wackeligen Grundlage beschlossen die USA und ihre Verbündeten in den Ukrainekonflikt einzugreifen“ (И на этом шатком основании США и их союзники принимали решение о вмешательстве в украинский конфликт).
- „Vor dem Hintergrund der Formierung einer multipolaren Welt erwies sich das Projekt einer >internationalen Isolation< Russlands als Anachronismus“ (Явным анахронизмом в условиях становления многополярного мира оказался и проект „международной изоляции“ России).
„Ehrlich gesagt“ – entrüstete sich Naryškin -, „kann ein solcher Plan nur in den Köpfen derer entstehen, die von ihrer früheren Machtvollkommenheit (могущество) völlig geblendet sind und nicht mehr erkennen können, dass die Welt längst nach ihren eigenen und nicht nach aufgezwungenen Regeln lebt.“ Diese Selbstverblendung muss sich „der Washingtoner Blob“ in der Tat vorwerfen lassen.
3. Schließlich wirft Naryškin dem Westen vor, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben: „Man hat im Westen offenkündig die Gebote der eigenen Militärstrategen und Feldherren vergessen, die sich im Laufe der Weltgeschichte mehr als einmal ihre Zähne an unserem Land ausgebissen haben.“ Sie warnten stets davor, von einem möglichen militärischen Sieg über Russland zu träumen.
Die ökonomische Lage in Russland sieht heute in der Tat ziemlich passabel aus. Russlands Außenhandel wächst wieder. Laut dem Bericht des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stieg die Warenmenge, die in den drei größten russischen Containerhäfen gelöscht wurde, erheblich. Bei den Häfen handelt es sich um Sankt Petersburg an der Ostsee, Wladiwostok am Pazifik und Noworossijsk am Schwarzen Meer.
Verglichen mit dem vergangenen Jahr, in dem insbesondere in Sankt Petersburg der Import um bis zu 90 Prozent eingebrochen war, stieg das Volumen der eingeführten Waren in den drei Häfen laut dem IfW in diesem Jahr „sprunghaft an“ und näherte sich im August wieder „den Werten von vor Ausbruch des Krieges“.13
Woher die importierten Güter stammten, sei „nicht zweifelsfrei zu bestimmen“, konstatiert der IfW-Experte Vincent Stamer. Russland scheine jedoch „wieder mehr und mehr am Welthandel teilzuhaben“, wobei sich die Handelsströme in hohem Tempo weg von Europa, hin nach Asien verschieben. So brach der einst starke russisch-deutsche Handel in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 um 75 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf nur 5,5 Milliarden Euro ein,14 wohingegen der russisch-chinesische Handel im selben Zeitraum um 41 Prozent auf 73 Milliarden US-Dollar in die Höhe schnellte, der russisch-indische Handel gar um das Vierfache stieg und 21,8 Milliarden US-Dollar erreichte.
Der westliche Sanktionskrieg gegen Russland ist gescheitert, was die Wachstumszahlen auch bestätigen. Der IWF hob im Juli seine Schätzung für Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 von 0,7 auf 1,5 Prozent an. Damit liegt das Land exakt auf Augenhöhe mit den Wachstumserwartungen der westlichen Industrieländer, die der IWF ebenfalls auf 1,5 Prozent taxiert.15
Gleich nach der Verhängung der ersten umfassenden Sanktionen gegen Russland am 25. Februar 2022 frohlockte die Außenministerin Annalena Baerbock noch selbstsicher: „Das wird Russland ruinieren“. Darauf angesprochen, sagte Baerbock neulich in einem Interview am 24. August 2023: „Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen. Das ist aber (im Falle Russlands) nicht so.“ Und sie lieferte auch eine Begründung dazu: „Weil eben die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen.“16
Die Begründung ist einfach „genial“! Bei einem solchen Geistesblitz sollte die Außenministerin unbedingt zu einem Ehrenmitglied des „Washingtoner Blobs“ werden.
Wenn man nämlich statt einer nüchternen Analyse der militärischen, geopolitischen und geoökonomischen Kräfteverhältnisse Luftschlösse baut, dann, ja dann unterschätzt man den geopolitischen Rivalen und überschätzt die eigenen Kräfte. Und das geschieht keineswegs allein aus Ahnungslosigkeit oder Inkompetenz. Dahinter steckt vielmehr meistens ein systeminhärentes Problem der Transatlantiker im Allgemeinen und der US-Russlandpolitik im Besonderen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts.
4. Die US-Russlandpolitik in einer geopolitischen Sackgasse
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums stiegen die USA zum weltweiten Alleinherrscher auf – zu einer Hegemonialmacht, die es sich nicht nur als eine „Weltmacht ohne Gegner“17 begriff, sondern auch und vor allem als eine Macht, die sich leisten konnte, die erfolglosen und verlustreichen Kriege zu führen, ohne daran zugrunde gehen zu müssen. Die sinnlose Interventions- und Invasionspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche gigantische monetäre Ressourcen verschlungen, einen monströsen Verlust an Menschenleben und einen Imageverlust des amerikanischen „way of life“ verursacht hat, war zwar der wichtige, aber bei Weitem nicht der einzige Grund für einen Erosionsprozess der US-Hegemonie. Ein Problem war und ist auch die auf den Kalten Krieg zurückgehenden, verkrusteten Denkweisen und Denkstrukturen des Washingtoner Establishments.
Jede außenpolitische Vorgehensweise ist dadurch präformiert, dass sie von ideologisch bedingten Vorverständnissen und systeminhärenten Entscheidungsprozessen, welche die außenpolitische Elite maßgeblich formen und ihre Urteile und Vorurteile prägen, präjudiziert wird.
Die präformierten Denk- und Entscheidungsstrukturen machen blind und verzerren dadurch oft komplexe und widerspruchsvolle Realitätsbezüge der Außenwelt, die widerspruchslos erscheinen mögen, weil die ihnen zur Verfügung stehenden Informationsquellen aufgrund vorgegebener eigener vom determinierten Entscheidungssystem festgelegter, aber nicht mehr überprüfbarer und vor allem nicht mehr hinterfragbarer Wert- und Ordnungsvorstellungen verarbeitet werden.
Die Axiome dieser nicht hinterfragbaren Wert- und Ordnungsvorstellungen erzeugen sodann ein „Syndrom eingebauter Blindheiten,“18 das den Nachrichtenstrom von der Außenwelt ideologisiert und wie in einem Zerrspiegel das Zerrbild der geopolitischen Realität wiedergibt, wodurch nur die eigene im Kern starre, weil auf sich bezogene, inflexibel gewordene politische Denk- und Entscheidungsstruktur selbstbestätigt wird, „die ihrerseits in besonders hohem Maße internalisiert ist und sakrosankt gilt“.19 Das etablierte, auf den Kalten Krieg zurückgehende Denk- und Machtsystem erlaubt, kurz gesagt, allein nur die Denk- und Entscheidungsprozesse, die von den festgefahrenen Machtstrukturen längst festgelegt und vorgegeben sind.
Dieses „Syndrom eingebauter Blindheiten“ bestätigte neuerlich Anatol Lieven (Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und in der Kriegsstudienabteilung des King’s College London). In seinem am 8. September 2023 veröffentlichten Artikel „White House howling over Putin-Kim Jong Un hug rings hollow“ (Das Geschrei des Weißen Hauses über die Umarmung zwischen Putin und Kim Jong-un klingt hohl) für das Online-Magazin Responsible Statecraft schreibt Lieven : In weiten Teilen des US-Establishments … ist der Glaube an die angeborene Rechtschaffenheit des US-Handelns so tief verwurzelt, dass er eine ernsthafte Gefahr für die erfolgreiche Durchführung der Washingtoner Politik sein kann. Warum? Weil es die US-Politmacher blind für die denkbaren Konsequenzen ihres eigenen Handelns macht (Why? Because it blinds American policymakers to the likely consequences of their own actions).“
Das hat aber unvermeidlich strategische Fehleinschätzungen und Fehlkalkulationen zufolge, was sich an einem völlig überzogenen und oft exzessiven Gebrauch der militärischen Gewalt in der US-Außenpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte ablesen lässt.
Statt einer Befriedung der Lage und/oder einer Durchsetzung der selbstgestellten Ziele (wie Demokratie und Menschenrechte) bewirkte diese exzessive Gewaltanwendung nur noch eine weitere Destabilisierung weiter Teile des globalen Raumes (insbesondere des postsowjetischen Raumes und des Nahen Ostens) sowie eine zunehmende geoökonomische und medial gesteuerte Konfrontation gegen die geopolitischen Rivalen, womit die inneren Widersprüche der seit dem Ende der bipolaren Welt entstandenen unipolaren Weltordnung lediglich verdeckt werden und eine Nivellierungstendenz beinahe aller nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Weltorganisationen verschleiert wird.
Der stattfindende innen-, außen-, geopolitisch und geoökonomisch bedingte Erosionsprozess der Pax Americana selbst wird dadurch nur verzögert, aber nicht unterbrochen. Die sich gegenseitig aufhebenden, teleologischen Wertbezüge und Zielsetzungen der US-Außenpolitik verstärken dabei diese Entwicklung, weil das Ungleichzeitige gleichzeitig erstrebt wird: Eine merkantilistische US-Außenwirtschaftspolitik und zugleich Freihandelspolitik; eine von nationalen Interessen geleitete US-Außenpolitik und die gleichzeitige Propagierung der universal postulierten „westlichen Werte“; eine robuste Machtpolitik notfalls mittels militärischer Gewalt und zugleich eine Expansionspolitik des sogenannten „liberalen Internationalismus“ im Namen der Humanität, Demokratie und Menschenrechte.
Die außenpolitischen Entscheidungen werden dadurch nur noch verkompliziert und/oder fehlgeleitet. Die ideologische bzw. messianische Abhängigkeit der US-amerikanischen Außenpolitik kommt noch hinzu. Das sieht man daran, dass das „amerikanische Credo, das Sendungsbewusstsein einer >auserwählten Nation< … in fast allen außenpolitischen Deklarationen gegenwärtig (ist).“20
Kurzum: Die ideologische und systeminhärente Knebelung macht die US-Außenpolitik einerseits blind für die geopolitischen Veränderungen, andererseits aber unberechenbar, da sich der sendungsbewusste Missionsgedanke sowohl mit exzessivem Moralismus und Selbstgerechtigkeit als auch mit exzessiver Gewalt und Machtarroganz verbinden lässt, was wiederum zur Selbstverblendung, Selbstüberschätzung, Ignoranz und/oder zur Verhärtung der außenpolitischen Positionen führen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, wenn Doug Bandow dem „Blob“ vorwirft, dass er Jahrzehnte damit verbrachte, die US-Außenpolitik gegen Russland in Stellung zu bringen, es „in eine feindselige Opposition und schließlich in einen Krieg zu drängen. Bei der Nato-Expansion, Zerstückelung Jugoslawiens, der Förderung von Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine und bei der Unterstützung eines Straßenputsches (street putsch) gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten im Jahr 2014 ging es nicht nur um die US-Sicherheit, sondern auch um die Weltdominanz und den Wunsch, eine umgekehrte Monroe-Doktrin bis zur russischen Grenze durchzusetzen. Die Entwicklung hat dazu beigetragen, aus einem einst zivilisierten Putin (a once civil Putin), der in seiner Bundestagsrede 2001 die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Westen zum Ausdruck brachte, einen feindseligen Kritiker zu machen, was sich in seiner umstrittenen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 widerspiegelte. Die Verbündeten tragen auch Mitschuld an der Entstehung eines Konflikts, der in der Ukraine und in Russland schreckliche Menschenverluste sowie globale wirtschaftliche Verwüstungen verursachte. Washingtons rücksichtslose Aggressivität führte letztlich dazu, dass sich die Biden-Administration vor der Invasion weigerte, mit Putin zu verhandeln, und dass die Verbündeten offensichtlich versuchten, die frühen Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau zum Scheitern zu bringen,21 um die Fortsetzung der Kämpfe zu gewährleisten.“22
Folgt man Bandows komprimierter Darstellung der US-Russlandpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte, so hat sie billigend in Kauf genommen, aus „einem zivilisierten Putin“ einen militanten zu machen, indem sie, die Eskalationsschraube immer weiterdrehend, den spätestens seit 2014 schwellenden Ukrainekonflikt zur Implosion brachte.
Als eine der prominentesten Repräsentantinnen des „Washingtoner Blobs“ und die Architektin der sog. „Maidan-Revolution“ und eine in Russland zutiefst verhasste Victoria Nuland (seit dem 28. Juli 2023 geschäftsführende US-Vizeaußenministerin) spielte dabei eine ebenso entscheidende wie unrühmliche Rolle in der Zuspitzung des Ukrainekonflikts. Selbst Angela Merkel brachte sie einst in Rage, als sie die EU bei ihrem zweitätigen Besuch in Kiew Anfang Februar 2014 mit dem obszönen Spruch „Fuck the EU“ beleidigte.
Kurzum: Es ist längst überfällig, zu der Denkschule des Klassischen Realismus zurückzukehren, um im Sinne eines Hans J. Morgenthaus realpolitisch statt ideologisch entscheiden und handeln zu können.
Es sei „eine grundlegende Pflicht von Staatsmännern“ (a fundamental duty of statesmen), die Fähigkeit zu entwickeln,“ schrieb Morgenthau einst, „sich in die Lage ihres Gegenübers zu versetzen – nicht um ihnen zuzustimmen, sondern zu verstehen, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten würden.“ Und er fügte gleich hinzu: „Eine blinde nationale Selbstgerechtigkeit ist das größte Hindernis zur Kultivierung dieser Fähigkeit“ (blind national self-righteousness is the greatest single obstacle to the cultivation of this ability).23
Die US-Russlandpolitik wird freilich auf Konfrontationskurs bleiben, solange die Repräsentanten des „Washingtoner Blobs“ die US-Außenpolitik prägen, bestimmen, beeinflussen und/oder an den Schalthebeln der Macht sitzen. Das birgt allerdings in sich Gefahren einer weiteren Eskalation mit unkalkulierbaren Folgen für uns alle.
Anmerkungen
1. „Anziehend ist der Krieg den Unerfahrenen.“ Grabinschrift Henrys III. (1207-1272) in der Westminster Abbey, London. Zitiert nach Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 42.
2. Heilbrunn, J., How the War in Ukraine Is Reviving the Blob. Biden’s escalation against Russia underscores the revival of Washington’s hawkish foreign policy mindset. Politico, 5. Juni 2022.
3. Bacevich, A. J., The Ukraine Conflict Is Not About American Freedom. Washington elites are ignoring history when they try to spin this war to restore faith in US leadership. The Nation, 28. April 2022.
4. Vgl. Bandow. D., The Washington Blob: Its Blind Arrogance May Lead to War with Russia. CATO Institut, 23. Mai 2022.
5. Zitiert nach Bachevich (wie Anm. 3).
6. Fukuyama, F., Preparing for Defeat. American Purpose, 10. März 2022.
7. Siehe dazu Silnizki, M., Moskaus „Neoimperialismus“ oder Washingtons Expansionismus? Zu den Hintergründen des Ukrainekonflikts, August 14, 2023, www.ontopraxiologie.de; des., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
8. Klein, N., Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. 2007, 353.
9. Klein (wie Anm. 8), 355.
10. Bandow, D., Ukraine`s Vain Search Wonder Weapons. The American Conservative, 24. August 2023.
11. Anthony Loyd: Ukraine counteroffensive: ’I’m ready to die… 90% of the guys here will die too’. thetimes.co.uk 05.09.2023.
12. Richard Kemp: Ukraine’s counter-offensive is stalling. The West must prepare for humiliation. telegraph.co.uk 10.09.2023; zitiert nach „Risiken im eigenen Hinterhof“, german-foreign-policy.com. 13. September 2023.
13. „Welthandel belebt sich, Russlands Hafenaktivität fast auf Vorkriegsniveau“. ifw-kiel.de 07.09.2023. Zitiert nach german-foreign-policy.com.14. September 2023.
14. Wittmann, H.-J., Umbau zur Kriegswirtschaft dämpft den Abschwung. gtai.de 15.06.2023.
15. Zitiert nach german-foreign-policy.com.14. September 2023.
16. Zitiert nach german-foreign-policy.com.14. September 2023.
17. Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000, 65-86.
18. Krippendorff, E., Pax Americana, in: Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozess und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Frankfurt 1970, 439-484 (446).
19. Krippendorff (wie Anm. 18), 449.
20. Dittgen, H., Amerikanische Demokratie und Weltpolitik. Außenpolitik in den Vereinigten Staaten. Paderborn 1998, 71.
21. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im März/April 2022. 29 August 2023, www.ontopraxiologie.de.
22. Bandow (wie Anm. 10).
23. Zitiert nach Lieven, A., White House howling over Putin-Kim Jong Un hug rings hollow. What did Biden expect after pressuring South Korea to transfer weapons to Ukraine? Responsible Statecraft, 8. September 2023.