Zur Sinnentleerung eines Begriffs
Übersicht
- Autokratie aus der Perspektive der russischen Verfassungsgeschichte
- Zwischen Tradition und Moderne
Anmerkungen
Russland ist heute kein kommunistisches Land mehr!
Das ist entscheidend. Alles andere ist Geopolitik.
- Autokratie aus der Perspektive der russischen Verfassungsgeschichte
Ein neues Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Autokratie. Gerüchten zufolge hat man es in Russland entdeckt. Selbst die westlichen Mainstream-Medien berichteten schon mal darüber. Das alte Gespenst – „das Gespenst des Kommunismus,“ welches Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848) so wortreich angekündigt haben, wurde zumindest in Europa seit dem Ende des Jahres 1991 nicht mehr gesichtet.
Das waren ja noch die „glorreichen“ Zeiten, in denen der Westen einen „heldenhaften“ ideologischen Kampf gegen den Sowjetkommunismus geführt und den „Kalten Krieg“ sieg- und erfolgreich beendet hat. Heute kämpft er erbittert gegen das neue „Gespenst“. Im Gegensatz zu der siegreichen Vergangenheit erweist sich die Bekämpfung des neuen freilich als ein aussichtsloses Unterfangen.
Denn dieser „ideologische“ Kampf richtet sich gegen ein Phantom, das allein in der virtuellen Welt der transatlantischen Machteliten vorkommt, und der „Entdecker“ dieses Phantoms war kein geringerer als der amtierende US-Präsident Joe Biden.
Bereits in seinem Wahlkampf um die US-Präsidentschaft veröffentlichte Joe Biden eine programmatische Schrift „Why America Must Lead Again. Rescuing U.S. Foreign Policy After Trump“ in Foreign Affairs am 23. Januar 2020, in der er die Ziele der US-Außenpolitik in einer ideologischen Formel zusammenfasste: „Der Triumph von Demokratie und Liberalismus über Faschismus und Autokratie schuf die freie Welt“, schrieb Biden. „Aber dieser Wettstreit definiert nicht nur unsere Vergangenheit“, prophezeite er. „Er wird auch unsere Zukunft bestimmen“ (The triumph of democracy
and liberalism over fascism and autocracy created the free world. But this contest does not just define our past. It will define our future, as well).
Seit dieser „Entdeckung“ geistert das Gespenst bis heute in der westlichen Hemisphäre herum. Im sog. „Globalen Süden“ wurde es freilich noch nicht entdeckt. Hat es womöglich sein Hauptquartier allein im Westen eingerichtet und fühlt sich dort pudelwohl? Von Bidens „Entdeckung“ inspiriert, zeigen die Transatlantiker mit dem Finger vor allem auf die zwei geopolitischen Rivalen China und Russland, ohne allerdings die Frage beantworten zu können: Seit wann das kommunistische Land China urplötzlich eine Autokratie geworden ist und Russlands Rückkehr zum Zarenreich stattgefunden hat?
Die Frage interessiert unsere transatlantischen Freunde ganz und gar nicht. Viel wichtiger ist für sie das Gerücht in Umlauf zu bringen. Und einmal in die Welt gesetzt, entfaltet es eine Eigendynamik, erweckt den Eindruck, dass etwas dran ist und hält sich beharrlich. Worum geht es aber unseren Gerüchteverbreitern? Allein um die Revitalisierung eines alten ideologischen Feindes zwecks Legitimierung der eigenen geo- und sicherheitspolitischen Interessen.
Der alte ideologische Feind – der Sowjetkommunismus – landete bekanntlich auf den Müllhaufen der Geschichte, was „unweigerlich“ ein neues Ideologem erforderlich machte. Der Westen kann offenbar ohne einen Außenfeind nicht leben. Und so heißt Autokratie ab sofort dieser neue ideologische Feind des Westens, der geo- und sicherheitspolitisch ausgeschlachtet werden soll.
Hinter der pseudoideologischen Fassade des Kampfes der Demokratie gegen die Autokratie geht es den westlichen Gespensterjägern allein um die Durchsetzung ihrer geo- und sicherheitspolitischen Interessen. Die transatlantischen Verfechter der „neuen Ideologie“ konnten jedoch bis dato eine einzige Frage immer noch nicht beantworten: Was verstehen sie eigentlich unter >Autokratie<?
Auf diese Frage gaben sie bis heute keine Antwort. Ihnen geht es aber auch nicht um eine etymologische Begriffsklärung, sondern um eine ideologische Camouflage, nicht um eine Aufklärung, sondern um die Denunzierung und Diffamierung des geopolitischen Rivalen, nicht um eine friedliche Koexistenz, sondern um eine Ideologisierung der Geopolitik. Darum wissen sie nicht einmal, wie sinnentleert ihr Gebrauch des Begriffs Autokratie.
Autokratie ist aber ein verfassungshistorischer und kein ideologischer Begriff und geht auf die russische Verfassungsgeschichte zurück. Er ist gar nicht geeignet, ideologisch missbraucht zu werden. Verfassungshistorisch gesehen, hat Russland mit dem Untergang des Russischen Reiches als „Autokratie“ (самодержавие) aufgehört zu existieren. Ist die Russländische Föderation heute womöglich eine autokratisch verfasste Gesellschaft? Mitnichten!
1851 meinte der italienischer Rechtsgelehrte Pasquale Mancini: „Ein Staat, in dem viele kräftige Nationalitäten zu einer Einheit gezwungen werden“, sei kein „corpo politico“, sondern ein „lebensunfähiges Ungeheuer.“1 Trifft diese Äußerung auch auf das Russland des 21. Jahrhunderts zu?
Mancinis Worte lassen nach Theodor Schieder „für den, der einmal einen Blick in den Irrgarten der Begriffe von Nation, Nationalität, Volk geworfen hat, noch manches Problem offen: Was heißt hier Nation, Nationalität? … Diese Verwirrung war beinahe unausweichlich, seitdem Nation und Nationalstaat, Nationalitätsprinzip und Selbstbestimmungsrecht zu den einflussreichsten Begriffen der europäischen Politik geworden waren.“2
Nun hat der Begriff Autokratie auf der Weltbühne noch nicht jene Bedeutung erlangt, wie die Begriffe Nation und Nationalität, wohl aber herrscht Unklarheit darüber, was man darunter zu verstehen hat. Wenn man den Begriff Autokratie nicht als einen geopolitischen Kampfbegriff missbraucht, was freilich der Fall ist, so kann er nur vor dem Hintergrund der russischen Verfassungsgeschichte gedeutet und verstanden werden.
Als Herrschaftsverfassung des Russischen Reiches kann die Autokratie nicht losgelöst von ihrer heilgeschichtlichen Dimension begriffen werden. „Autokratie und Orthodoxie“ – schreibt Dmitrij Merežkovskij (einer der begnadetsten Mystiker der russischen Geistesgeschichte) 1908 – „sind zwei Hälften eines religiösen Ganzen … Der Zar ist nicht nur Zar und Staatsoberhaupt, sondern auch Oberhaupt der Kirche und Hohepriester, der Gesalbte des Herrn. … Die Autokratie ist eine absolute Bejahung eines religiösen Prinzips. … Der Verzicht auf die Selbstherrschaft wäre für einen orthodoxen Zaren mit dem Verzicht auf die Orthodoxie gleichbedeutend. … Die Autokratie kann nur zugleich mit der Orthodoxie gestürzt werden. Wenn aber beide stürzen, so öffnet sich im politischen und religiösen Bewusstsein des Volkes ein so gähnender Abgrund, dass keine der in Westeuropa bestehenden Staatsformen ausreichen würde, um ihn zu füllen; weder die konstitutionelle Monarchie noch eine bürgerlich-demokratische Republik wäre dazu imstande. Um diese gewaltigen Felsen – Autokratie und Orthodoxie – zu stürzen, bedarf es eines Erdbebens, dass alle alten Parlamente wie Kartenhäuser umwerfen werden.“3
Und so ist es auch gekommen, wie Merežkovskij es 1908 prophezeit hat. Das Russische Reich hat sich seinerseits von der heilgeschichtlich legitimierenden Herrschaftsauffassung bis zu seinem Untergang auch nie gelöst. Der Übergang von einem sakralen zu einem säkularisierten Machtverständnis und von einer übernationalen zu einer nationalen Staatsidee hat nie stattgefunden.
Zur Bestätigung dieser Auffassung ist eine von Max Scheler 1924 erzählte >Anekdote< bzw. ein „wahres Geschichtchen“, wie er sie nennt, erwähnenswert: „Eine Westlerin russischer Geburt kommt nach langjähriger Abwesenheit in ihre Heimat und unterhält sich mit einer Bauernfrau. Sie erzählt ihr, dass es dort, woher sie komme, keinen Zaren gebe. Ja, gibt es denn da auch keinen Gott? – frägt die Frau. An Gott, ist die Antwort, glauben die Menschen auch da; aber Gott – das ist doch keine irdische Macht. Was – so die Frau -, Gott ist keine irdische Macht? Aber wenn Gott keine irdische Macht wäre, wie würde sich da dann nicht jeglicher schämen, einem anderen zu befehlen und mehr zu sein als er?“
Max Scheler kommentiert den Dialog mit den Worten: Es zeigt sich hier, „wie Herrschaft in Russland von Beherrschten wie vom Herrscher selbst empfunden wird: als göttliche Verordnung, die allein die brennende Scham überwinden kann, mehr zu sein. Nach unten, zur Demütigung, stürzt die Seele. Und nur Gott kann sie halten, damit sie herrsche.“4
Die religiöse Herrschaftslegitimation korreliert zugleich mit dem Grundsatz der Unverjährbarkeit und Unveräußerlichkeit der kraft der Geburt erworbenen Herrscherrechte. Das Herrscherrecht steht traditionell und tendenziell über der Legitimität als raumbeherrschendes und machtbegründendes Prinzip, und zwar infolge des faktischen Besitzes über den erworbenen Machtraum.
Weder wird der Begriff Nation zum Legitimitätsprinzip der russischen Staatlichkeit noch ist das Nationale ein Deutungsmuster und identitätsstiftend für die autokratische Herrschaftsauffassung. Die noch intakte heilgeschichtliche Dimension verhinderte den Vormarsch der ethnisch gefärbten, nationalen Ideologie im Gegensatz zu Westeuropa, wo sie sich zunehmend in der Gestalt des Nationalismus und Rassismus ausbreitete und zur „Integrationsideologie“ der europäischen Nationalstaatsbildung führte, indem sie als Ersatzreligion die überkommene metaphysische Legitimitätsgrundlage des alten Europas delegitimierte.
Diesen westlichen ideengeschichtlichen Prozess der Neolegitimierung hat die Autokratie in Russland nie durchgemacht. Und heute? Heute tritt das russische Staatsoberhaupt weder als „der Gesalbte des Herrn“ auf noch hat er seine Machtbefugnisse kraft seiner unveräußerlichen Herrscherrechte noch hat er eine religiös begründete Herrschaftslegitimation noch hat die Russländische Föderation eine heilgeschichtlich legitimierende Herrschaftsverfassung.
All die legitimatorischen Grundlagen der russischen Autokratie fehlen der russischen Staatlichkeit der Gegenwart. Will man freilich den Begriff Autokratie in einem geopolitischen Kontext verwenden und als einen Kampfbegriff in einer nie enden wollenden geopolitischen Rivalität der Großmächte denunziatorisch nach Belieben benutzen, dann, ja dann kann man darunter alles Mögliche von autoritär über diktatorisch bis zu faschistisch subsummieren und propagandistisch sinnentleert missbrauchen. Das wäre aber dann kein ideologischer Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, sondern eine sinnentleerte Beschimpfung des geopolitischen Rivalen.
2. Zwischen Tradition und Moderne
Wie sich der Horizont der eigenen Urteilsfähigkeit weitet, merken wir erst, wenn wir die Fixierung auf das eigene Selbst- und Weltbild, die eigene doktrinäre Versessenheit, die eigenen ideologischen Scheuklappen und die dogmatische Borniertheit abgelegt haben, um unvoreingenommen den Gang der Geschichte und Gegenwart der anderen Kultur- und Machräume betrachten zu können. Das geopolitische Bild der Gegenwart gewinnt dann an Schärfe und Klarheit, und das Fremde und Entfernte rückt in eine solche Nähe, dass uns die spannungsgeladene Gegenwart in einem größeren historischen und kulturellen Zusammenhang plötzlich sehr vertraut und vertrauensvoll vorkommt. Ein verbissener Doktrinarismus und das ideologische Beharren auf den eigenen, vermeintlich „alternativlosen Wahrheiten“ sehen dann ziemlich kleinlich aus.
Geschichte und Gegenwart, Realität und Idealität, Prinzipientreue und Opportunismus sind stets miteinander verknüpft und ineinander verknäuelt, ohne dass wir imstande sind, sie genau voneinander zu trennen. Die vorurteilsgeladene Betrachtung fälscht meistens das Bild des Anderen, des Fremden nicht weniger als das prinzipientreue Beharren auf kompromisslosen Positionen, liegt doch im naiven Glauben an die eigenen, als „universal“ postulierten Werte eine der Hauptgefahren für den ungewollten Aufprall der grundverschiedenen Realitätsbezüge.
Die Hauptquelle für das häufige Versagen einer friedlichen Koexistenz ist der Versuch, die zufälligen, historisch gewachsenen Lebens- und Machstrukturen als universale Prinzipien postulieren und den anderen Kultur- und Machträumen oktroyieren zu wollen. Solche Versuche können nur in den seltensten Fällen die Macht der Tradition aus den Angeln heben.
Es ist naiv und gefährlich zugleich, die fremden politischen Institutionen rein äußerlich kopieren zu wollen, ohne sich gleichzeitig deren historischen und kulturellen Kontext zu eigen zu machen. Kein geringerer hat diese Gefahr schärfer und weitsichtiger gesehen als Benjamin Disraeli, der mit Bezug auf die Übernahme der englischen Verfassung warnte: „Wenn die bloße Übernahme einer Regierungsform seitens Frankreichs, die man aus Höflichkeit die englische Verfassung nennt, unter die größten Torheiten des menschlichen Verhaltens gezählt werden muss, welcher Ausdrucksweise sollen wir uns bedienen, wenn ernsthaft das anglo-französische System den Lazzaronis von Neapel und den Hidalgos von Spanien zur Beachtung anempfohlen wird; wir scheinen den Gipfel menschlicher Absurdität erreicht zu haben.“5
Der Irrglaube, die westliche Lebenskultur, die westliche Verfassungsordnung, die westlichen Werte lassen sich nach Russland beliebig verpflanzen, beruht auf der unzutreffenden, weil ahistorischen Annahme ihrer Universalität. „Leopold von Ranke mag die Gewaltentrennungslehre im Auge gehabt haben, als er erklärte, dass das, was uns als Idee erscheint, häufig nur die Abstraktion einer fremden Existenz sei.“6
Idealität und Realität, Ebenbilder und Trugbilder miteinander vermengende „Abstraktion einer fremden Existenz“ ist kennzeichnet für die vom Westen immer noch unverstanden gebliebene Grundintention der russischen Geschichte und Gegenwart.
Und so schreibt Dmitrij Merežkovskij – konsterniert wegen der gescheiterten russischen Revolution von 1905 – an die Adresse der Europäer: „Ihr glaubt, wir machen jetzt eine normale, durch unser inneres Wachstum bedingte Krankheit durch, wie sie schon alle europäischen Völker durchgemacht haben. Ihr glaubt, dass wir uns auch einmal einen parlamentarischen Maulkorb anlegen lassen werden, dass wir uns von den extremsten sozialistischen und anarchistischen Lehren lossagen und uns mit dem alten konstitutionellen Kram, mit dem goldenen Mittelweg eines bürgerlichen Demokratismus begnügen werden; so war es ja überall, so wird es wohl auch bei uns enden. Eure Ansicht wäre richtig, wenn wir nicht ein >Spiegelbild< Europas wären … Jedenfalls würden wir nie bei einer konstitutionellen Monarchie bleiben; auch könnte uns die russische Monarchie nie eine Konstitution geben, selbst wenn sie wollte. Der Verzicht auf die Selbstherrschaft wäre für einen orthodoxen Zaren mit dem Verzicht auf die Orthodoxie gleichbedeutend.“7
Merežkovskijs Äußerung widerlegt zum einen die alte, von Max Weber 1905 ff. getroffene und in den russischen liberalen Kreisen immer noch vorherrschende Fehleinschätzung, wonach Russland „noch außerhalb des Okzidents und unterwegs Richtung Westen“sei.8 Zum anderen stimmt sie ungewollt mit den Ansichten eines ihm zutiefst verhassten Vertreters der russischen Autokratie, eines der fähigsten und treuesten Diener Seiner Majestät, Graf Sergej Ju. Witte, überein.
Nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 meinte Witte: „Die Einschränkung der Selbstherrschaft ist zwar zum Wohle Russlands erforderlich und historisch unabwendbar. Die Einschränkung darf allerdings nicht zu weit gehen. Gott behüte uns davor, dass wir einen Parlamentarismus bekommen.“9
Bereits gegen Ende der 1890er-Jahre äußerte sich Graf Witte in einer von Peter Struve 1901 illegal in Stuttgart veröffentlichten Streitschrift „Samoderžavije i Zemstvo“ zustimmend zum Spruch des berühmt-berüchtigten Ober-Prokurors der Hl. Synode Konstantin P. Pobedonoscev (1827-1907), dass die Konstitution „die größte Lüge unserer Zeit ist“, um anschließend hinzuzufügen, diese Regierungsform sei „für Russland mit seiner multisprachlichen und multiethnischen Bevölkerung ungeeignet, weil sie zwangsläufig zum Zerfall der staatlichen Einheit führen muss.“
„Diese Wahrheit“ – resümiert Witte – „muss man immer mitbedenken, will man eine liberale Regierungsform einführen, ohne sie dabei mit entsprechendem Inhalt zu füllen.“10
Und so prophezeite Merežkovskij: „Die russische Revolution wird nichts verschonen. Was kommt danach? Dann kommt eben der Sturz ins Ungewisse … Die russische Revolution ist ebenso absolut, wie die von ihr bekämpfte Staatsform. Ihr empirisches bewusstes Ziel ist der Sozialismus, ihr mystisches und unbewusstes aber – die Anarchie.“11
Ausgerechnet am Schluss seiner Prophetie irrte sich Merežkovskij. An Stelle der Anarchie kam die Restauration. Hinter der Fassade der marxistischen Phraseologie und der kommunistischen Ideologie vollzog Lenin mit seinen Epigonen eine quasi-Restauration der autokratischen Herrschaftstradition. Nicht die im Westen natur- und vernunftrechtlich begründete neuzeitliche Herrschaftslegitimation, sondern eine ideologische Neolegitimierung der delegitimierten Herrschaftsverfassung hat eine verfassungspolitische Pseudo-Modernisierung in die Wege geleitet, die – das kommende „Reich Gottes“ verkündend – das Machtprinzip der russischen Herrschaftstradition wiederhergestellt hat.
Das, was später in die Annalen der Weltgeschichte als „Roter Oktober 1917“ eingehen wird, erwies sich – verfassungshistorisch betrachtet – als eine Umformung des herkömmlichen Machtprinzips in die der heilgeschichtlichen Legitimation entzogenen Machtstrukturen. Die pseudo-religiöse Grundlage hierfür diente der Verkündung des kommenden Reichs des kommunistischen Paradieses auf Erden unter dem Motto: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ („Kritik der Gothaer Programms“, MEW 19,21).
Die physische Ausrottung der Orthodoxie war aus der Sicht der neuen Machthaber des geschundenen Russlands zwingend erforderlich, um die neue, ideologisch verbrämte Legitimationsgrundlage der eigenen Macht zu etablieren. An Stelle der jenseitigen, von Gottesgnadentum legitimierten Herrschaftsverfassung trat nunmehr eine diesseitige, „das Reich Gottes“ auf Erden hier und heute verkündeten Botschaft der kommunistischen Glückseligkeit.
Nicht die tradierte Herrschaftsverfassung des Russischen Reiches wurde im Sinne der europäischen Neuzeit modernisiert – wie Merežkovskij auch treffsicher prophezeite -, sondern die alte Legitimationsgrundlage durch eine neue, marxistisch verklärte substituiert und die Totalität alle Lebensverhältnisse bestimmende Machtordnung kreiert: Totalität statt Religiosität, Immanenz statt Transzendenz!
Hier erleben wir lediglich einen Legitimationswechsel, keinen Systemwechsel, hinter dem sich der unbändige Machtwille zur Reanimierung der russischen Herrschaftstradition verbarg.
Und heute? Was ist Russland heute? Autokratie? Demokratie? Diktatur? Ein autoritäres oder ein totalitäres System? Ist Russland überhaupt ein „Staat“ oder Imperium oder …? Was nun? Selbst die in Opposition zu „Putins Russlands“ stehenden und prowestlich orientierten sog. „russischen Liberalen“ sind ratlos.
In einem am 13. Februar 2017 gehaltenen Vortrag „Eindämmung im Krieg und in der Politik“ stellte der prowestlich orientierte Politikwissenschaftler und Mitbegründer der „Stiftung für effektive Politik“, Gleb Pavlovskij12, eine sehr kühne These in den Raum: „Russländische Staatlichkeit ist weder ein Imperium noch ein Nationalstaat, weder ein totalitärer Staat noch ein autoritäres Regime. Putin ist ein Blendwerk eines Systems, in welchem es nichts gibt. Er ist eben kein totalitärer Mittelpunkt des Systems, weil ein autoritäres System wenigstens eine legitime und autoritative Nachfolgeregelung der Macht innehat“ (Российская государственность – это не империя, не национальное государство, не тоталитарное государство, не авторитарный режим. Путин – ослепительная точка системы, в которой ничего нет, не тоталитарная точка системы. Авторитарный режим имеет определённую структуру передачи легитимности и авторитета власти).
Was ist Russland denn? Auf diese Frage hat Gleb Pavlovskij während seines gut eineinhalbstündigen Vortrages mit anschließender Diskussion keine Antwort gegeben. Das dürfte wohl auch kein Zufall sein, sind doch die russische Öffentlichkeit und ihre politischen und kulturellen Eliten bis heute auf der Suche nach der Definition dessen, was die russische Staatlichkeit eigentlich ist bzw. sein sollte.
George Jellinek hat einst die modernen Parlamente außerhalb Englands als „geschichtslose Institutionen“ bezeichnet und festgestellt, dass „in der ganzen Vergangenheit kaum ein zweites Beispiel derartiger unvermittelter Schöpfung einer Organisation zu finden sei, die den Staat von Grund aus zu ändern bestimmt war.“13
Überträgt man diese „geschichtslosen Institutionen“ auf die nichtwestlichen Machträume und interpretiert man sie allein im illiberalen Sinne einer vulgär-demokratischen, egalitären Verfassungsideologie etwa als eine Identität von Regierenden und Regierten dahingehend, dass das Volk seine Machtbefugnisse seinen gewählten Repräsentanten, dem Parlament, delegiert und das Parlament sie der Regierung mit der Wirkung delegiert, dass das Volk angeblich durch Vermittlung des Parlaments selbst regiert, und wird diese Verfassungsideologie sodann geopolitisiert, dann, ja dann entsteht in einem nichtwestlichen Kultur- und Machtraum – sollten diese „geschichtslosen Institutionen“ tatsächlich „erfolgreich“ implementiert werden – entweder Chaos oder Anarchie, oder eine rechtlich entbundene, aber demokratisch legitimierte Machtausübung.
Das letztere finden wir eben in der russischen Gegenwart vor. Hier findet nämlich realiter keine rechtlich gebundene Machtbeschränkung der Staatsgewalt statt; hier wird vielmehr unter Berufung auf die demokratische Legitimation des staatlichen Entscheidungsprozesses die Alleinzuständigkeit des Staates konstruiert, weil dieser demokratisch legitimiert ist.
Man könnte dieses Verfassungsverständnis in Anlehnung an Karl Löwenstein als „demoautoritär,“14 aber eben nicht als autokratisch, bezeichnen.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Schieder, Th., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hrsg. v. Otto Dahn u. Hans-Ulrich Wehler. 2. Auf. Göttingen 1992, 38.
2. Schieder (wie Anm. 1), 38.
3. Merežkovskij, D., Vorwort, in: Mereschkowski, D./Hippius, Z./Philosophoff, D., Der Zar und die Revolution. München u. Leipzig 1908, 3 ff.
4. Scheler, M., Über östliches und westliches Christentum, in: des., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. 2. Aufl. München 1963, 99-114 (99).
5. Zitiert nach Fraenkel, E., Deutschland und die westliche Demokratie. Stuttgart 1964, 15.
6. Fraenkel (wie Anm. 5), 16.
7. Merežkovskij (wie Anm. 3), 4.
8. Aust, M., Außerhalb des Okzidents und doch im Westen? Fremdpositionierungen Russlands in Krieg und Revolution 1904-06, in: Aust, M./Steindorff, L. (Hrsg.), Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution. Frankfurt 2007, 173-180 (177).
9. Zitiert nach Водовозов, В. В., Граф С. Ю. Витте и Император Николай II. Петербург 1922, 99.
10. Zitiert nach Водовозов (wie Anm. 9), 110 f.
11. Merežkovskij (wie Anm. 3), 5.
12. Павловский, Г., Сдерживание в войне и политики, 13.02.2017.
13. Zitiert nach Fraenkel (wie Anm. 5), 20.
14. Zitiert nach Fraenkel (wie Anm. 5), 16.