Zum Problem der „strategischen Autonomie“ Europas
Übersicht
1. Europa als Subjekt der Geopolitik?
2. Im Spannungsfeld zwischen der US-Hegemonie und dem RF-Gleichgewichtsstreben
Anmerkungen
„Europa, du falsche Kreatur!
Man quält sich ab mit der Kultur …
Die eine schiebt vorwärts, die andere retour,
So bleibt man stecken mit der ganzen Kultur,
Und Ärger hier, und Händel da
Und Prügel – Vivat Amerika …“
Joseph Freiherr von Eichendorff (1837)
1. Europa als Subjekt der Geopolitik?
Auf dem Rückflug nach Hause von seinem dreitätigen Staatsbesuch in der Volksrepublik China gab Emmanuel Macron im Flugzeug mehreren französischen Medien ein Interview. In diesem Interview kehrte Macron laut dem englischsprachigen Nachrichtenportal „Politico“1 „zu seinem Lieblingskonzept der >strategischen Autonomie< für Europa zurück, in welchem Frankreich natürlich eine führende Rolle spielen würde“. Das Ziel sei die EU zu einer „dritten Supermacht“ und unabhängig von der US-Geopolitik zu machen.
„Das Paradoxe wäre“ – zitiert „Politico“ Makron -, „wenn wir anfangen würden, der amerikanischen Politik aus Panikreflex zu folgen“. „Die Frage an uns Europäer lautet: Haben wir ein Interesse daran, das Thema Taiwan aufzupeitschen? Nein. Das Schlimmste wäre, wenn wir Europäer bei diesem Thema nachziehen und uns dem amerikanischen Rhythmus und einer chinesischen Überreaktion anpassen würden.“
Auch Nicolas Barré drückt Macrons Interview in der französischen Wirtschaftszeitung „Les Échos“ ab und betitelt es mit der Schlagzeile: „Emmanuel Macron: >L’autonomie stratégique doit être le combat de l’Europe<“ (Emmanuel Macron: „Strategische Autonomie muss Europas Kampf sein“). Und im Untertitel liest man: „Ohne strategische Autonomie droht Europa >aus der Geschichte zu verschwinden<, warnt der Präsident der Republik in einem Interview, das er während seines Staatsbesuchs in China geführt hat.“
„Für den französischen Präsidenten“ – kommentiert Barré Macrons Interview – sei „strategische Autonomie entscheidend, um zu verhindern, dass europäische Staaten zu >Vasallen< werden, wenn Europa >das dritte Pol< gegen die Vereinigten Staaten und China sein kann.“ Wir wollen nicht in der Logik der Blockbildung denken, fügt der Staatschef hinzu, der auch gegen „die Extraterritorialität des Dollars“ protestiert.
Und auf die Frage, ob „Europa als Schachfigur zwischen den beiden Blöcken zu sehen“ sei, antwortet Macron : Wenn sich das Duopol verfestige, werden wir weder die Zeit noch die Mittel haben, um unsere strategische Autonomie zu finanzieren, und werden zu Vasallen, wohingegen wir das dritte Pol sein können, wenn wir ein paar Jahre Zeit haben, ihn aufzubauen.
„Vor fünf Jahren war strategische Autonomie eine Chimäre. Heute reden alle darüber. Es ist eine große Veränderung“, betonte Macron selbstbewusst.
Nun ja, Reden war immer schon Macrons Lieblingsbeschäftigung und Träumer seien immer erlaubt. Die geopolitische Realität sieht freilich etwas anderes aus, als Macron uns das zu malen versucht. Das Weiße Haus zeigte sich jedenfalls zu Recht entspannt und der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby , reagierte mit Verweis auf das gute Verhältnis zwischen Macron und Joe Biden ziemlich gelassen.
Dass die Auslassungen Macrons auf Chinas „begeisterte“ Zustimmung stießen, schreibt nicht nur „Politico“, sondern bestätigt auch die der Kommunistischen Partei Chinas nahestehende englischsprachige Tageszeitung „Global Times“.
„Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas haben Emmanuel Macrons Konzept der strategischen Autonomie begeistert unterstützt“, hebt „Politico“ hervor und „Global Times“ fügt zustimmend hinzu: „Das chinesische Volk hat immer die strategische Autonomie und den unabhängigen diplomatischen Geist geschätzt, die Frankreich in der sich verändernden internationalen Landschaft gezeigt hat … Heute können wir das auch bei Präsident Macron sehen.“
Dessen ungeachtet ist China sich durchaus bewusst und völlig im Klaren, dass Macron geopolitisch nur bedingt handlungsfähig ist. „Objektiv gesehen ist es für die europäischen Länder schwieriger geworden, >Unabhängigkeit< und >Autonomie< durchzusetzen. Dieses Mal stößt Macron auf mehr Druck, Kritik und Fragen seitens der europäischen und amerikanischen öffentlichen Meinung als bei früheren Besuchen. Seine Bemühungen, Frankreich und Europa als einen >dritten Weg< zwischen den USA und China zu positionieren, wurden von einigen als >Kompromiss< gegenüber China kritisiert,“ schreibt „Global Times“.
„Hinter dieser öffentlichen Meinung“ – kritisiert die chinesische Tageszeitung – „verbirgt sich eine verwirrende und veraltete Wahrnehmung Chinas, die aus der Zeit gefallen ist. Einige Westler können den aus der modernen Geschichte stammenden Überlegenheitskomplex nicht loslassen, haben aber ein Gefühl des Verlustes und ein mangelndes Vertrauen, das durch die neue Ära hervorgerufen wurde. Daher sind sie bestrebt, gegenüber China eine harte Haltung einzunehmen, um nicht als >schwach< angesehen zu werden.“
Die zur Schau gestellte „harte Haltung“ verrate in Wahrheit die Mentalität eines Schwächlings, empört sich „Global Times“. Denn die aufrechte Haltung solle sich vielmehr darin ausdrücken, solche irrationalen Gefühle zu überwinden. Schließlich gebe es „keine grundsätzlichen Widersprüche und Unterschiede zwischen China und Frankreich sowie zwischen China und Europa. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Seiten ist weitaus größer als der Wettbewerb, und der Konsens ist weitaus größer als der Unterschied,“ unterstreicht „Global Times“.
Diese Beschwichtigung ist zwar aus der Sicht der chinesischen Führung, die EU-Europäer an ihre Seite ziehen möchte, nachvollziehbar, löst aber das grundsätzliche Problem der EU-Europäer – ihre geopolitisch eingeschränkte Handlungsfähigkeit – in keinerlei Weise.
Von welcher „strategischen Autonomie“ ist aber hier überhaupt die Rede? „Strategische Autonomie muss Europas Kampf sein“, zitiert Barré Macron . „Wir wollen uns in kritischen Fragen nicht auf andere verlassen. An dem Tag, an dem Sie keine Wahl mehr haben bei der Energie und der Verteidigung, bei sozialen Netzwerken und der künstlichen Intelligenz. Sollten wir die Infrastruktur zu diesen Themen nicht mehr haben, würden Sie die Geschichte in diesem Moment verlassen.“
„Der Schlüssel zu einer geringeren Abhängigkeit von den Amerikanern“ bestehe nach Macrons Mutmaßung „zunächst darin, unsere Verteidigungsindustrie zu stärken, sich auf gemeinsame Standards zu einigen. Wir investieren alle viel Geld, aber wir können nicht zehnmal mehr Standards haben als die Amerikaner! Dann muss der Kampf um Kernenergie und erneuerbare Energien in Europa beschleunigt werden. Unser Kontinent produziert keine fossilen Brennstoffe. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Reindustrialisierung, Klima und Souveränität. Es ist der gleiche Kampf. Es ist das der Atomkraft, der erneuerbaren Energien und der europäischen Energienüchternheit. Dies wird der Kampf der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre sein.“
Dass Europas „strategische Autonomie“ eine Wirtschaftsmacht voraussetze, ist ein Missverständnis, dem bereits Richard Nixon unterlag, als er den Westeuropäern eine Inkongruenz zwischen ihrer „gewaltigen Wirtschaftsmacht“ und ihrer sicherheitspolitischen Ohnmacht vorwarf.2 Wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ besteht nach wie vor eine beinahe hundertprozentige geo- und sicherheitspolitische EU-Abhängigkeit von den USA.
Es ist eine Illusion von der „Idee einer strategischen Autonomie Europas“ zu sprechen, stellte die ehem. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer bereits 2020 zu Recht fest, als sie auf die gleichlautende Äußerung Macrons reagierte.
Europas „strategische Autonomie“ war spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Ende, sodass einem holländischen Gelehrten Hendrich Brugmans nichts anderes übrigblieb, als 1955 lapidar zu konstatieren: „Die europäischen Nationen haben aufgehört, die Hauptrolle im Schicksal der Menschheit zu spielen.“3
Und fünfzehn Jahre später fügte Timothy Stenley (Mitarbeiter McNamaras ) 1970 nur noch ergänzend hinzu: Die europäischen Bündnispartner haben sich mit der erdrückenden Abhängigkeit von der US-Militärmacht „ein für alle Mal abgefunden und einen dauerhaften >Machtverzicht<“ geübt, „der die Minderung der Rolle Europas in der Welt als >irreversibel< erscheinen lasse.“4
Dass eine „strategische Autonomie“ mit der Wirtschaftsmacht und der Verfügung über materielle Machtmittel nicht identisch ist, erkannte man schon in den 1960er-Jahren, in denen man zwischen einem „materiellen Machtpotential“ und einer geopolitischen „Macht“ klar unterschieden hat.5
Können die einzelnen EU-Staaten überhaupt geopolitisch eigenständig handeln und die EU als eine geopolitische Einheit auftreten, die geostrategisch vom US-Hegemon unabhängig handeln kann? Bereits kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine frohlockte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Europaparlament (März 2022): Die Einigkeit der EU-Staaten in der Ukrainekrise sei „die Geburtsstunde des geopolitischen Europas“.
Borrells „Geburtsstunde“ bleibt freilich genauso eine Chimäre wie Macrons „strategische Autonomie“, solange die EU-Länder halbsouveräne Staaten bleiben und einer dreifachen Knebelung ihrer Souveränität durch die EU-Institutionen, die Nato-Sicherheitsarchitektur und die Geopolitik des US-Hegemonen ausgesetzt sind und solange die EU der US-Geostrategie unterworfen bleibt.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der bipolaren Weltordnung gab es nur scheinbar eine Wiedergeburt Europas als einer geopolitisch selbstständig agierenden und geostrategisch unabhängigen Vereinigung von souveränen Nationalstaaten. Wie in der Zwischenkriegszeit zeigte sich auch jetzt, wie zweckentfremdet ein Nationalstaatsprinzip bzw. Selbstbestimmungsrecht sein kann, wenn es einerseits den EU-Institutionen ausgeliefert ist und andererseits den geopolitischen Interessen der US-Hegemonialmacht zuwiderläuft.
Zwar sind die osteuropäischen Staaten nach ihrer Befreiung von dem Sowjetblock formal unabhängig geworden und als Subjekte des Völkerrechts anerkannt worden. Mit einer weitgehenden militärischen, politischen und ökonomischen Westintegration der ehem. sowjetischen Satellitenstaaten in die Nato-und EU-Strukturen fand de facto ein außen-, sicherheits- und geopolitischer Souveränitätsverzicht und deren Übertragung auf die supranationalen europäischen Institutionen statt.
Man könnte diese Entwicklung nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung mit Werner Link durchaus als „die Fortsetzung der europäischen Integration und ihre geographische Ausdehnung nach Osten … als Versicherung gegen die Wiederkehr der Geschichte“ ansehen und „als Gegentypus zu Hegemonie und Gleichgewicht“ charakterisieren.6
Außer Hegemonie und Gleichgewicht gibt es freilich keine historisch bekannte dritte geopolitische Machtkonstellation, die auf Dauer Bestand hätte. Und so erweist sich auch die EU letztlich als eine Integrationseinheit, die keineswegs Hegemonie abgeschüttelt hat.
Denn das EU-Integrationsprojekt hat zum einen nicht die Hegemonie überwunden, sondern diese lediglich camoufliert, da sie unter der Ägide des US-Hegemonen als der europäischen Ordnungsmacht stattgefunden hat. Es fand mit anderen Worten nicht so sehr eine Integration der osteuropäischen Staaten, als vielmehr deren Eingliederung in die US-Hegemonialsphäre auf dem europäischen Kontinent statt.
Zum anderen haben alle EU-Staaten ihre Souveränitätsansprüche durch eine gegenseitige Harmonisierung ihrer wohlfahrtstaatlichen sowie macht- und sicherheitspolitischen Interessen innerhalb der EU und der Nato nivelliert. Die Folge einer solchen geopolitischen und völkerrechtlichen Souveränitätsnivellierung war und ist eine nationalstaatliche Souveränitätsübertragung an die EU bei gleichzeitiger Beibehaltung der nationalen Machtzentren, die ihrer Natur nach autonom agieren können und wollen. Die zentrifugalen Kräfte wurden dadurch zwar „integriert“, genauer: gebändigt, aber eben nicht lahmgelegt.
Das bedeutet wiederum, dass wir ein geopolitisches EU-Konstrukt vor uns haben, welches die drei sich gegenseitig ausschließenden Ordnungsprinzipien in sich vereinigen, welche die nationalstaatliche und EU-Souveränität nivellierend jedwede „strategische Autonomie“ Europas verunmöglichen: ein wohlfahrtstaatliches EU-Integrationsprinzip, ein zentrifugales Nationalitätsprinzip und ein vom nichteuropäischen Hegemonen dominiertes Nato-Sicherheitsprinzip.
Dass diese drei gleichzeitig bestehenden und sich gegenseitig ausschließenden Ordnungsprinzipien die souveräne Handlungsfähigkeit sowohl der EU-Einzelstaaten als auch der EU-Institutionen ein- und beschränken, ergibt sich aus der Natur der Sache. Das führt aber zwangsläufig zu einer geopolitischen Domestizierung der EU durch den US-Hegemon.
Eine „strategische Autonomie“ setzt aber ein Machtgebilde voraus, welches die mit- und nebeneinander bestehenden gegensätzlichen Ordnungsprinzipien ausschließt und die zentrifugalen Kräfte ein für alle Mal überwindet. Die EU, die gleichzeitig die nationalstaatlichen Wirtschafts- und Machtinteressen, die supranationalen Nato-Sicherheitsinteressen und die globalen US-Hegemonialinteressen befriedigen soll, ist letztlich in ihrer geopolitischen Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit gehemmt.
Dieser Dreiklang von Machtinteressen kann nur unter der Ägide des US-Hegemonen aufrechterhalten werden, was zwangsläufig auf den Verzicht der „strategischen Autonomie“ der einzelnen EU-Nationalstaaten und der EU als Integrationseinheit hinausläuft. Wie man es drehen und wenden will, kann Europa bei dieser Machtkonstruktion niemals ein Subjekt der Geopolitik werden.
Vor dem Hintergrund dieses geopolitischen EU-Strukturdefizits geht Europa sehr schweren Zeiten entgegen. Denn ohne eine „strategische Autonomie“ wird die EU im Zeitalter der ausgebrochenen globalen Großmächterivalität geopolitisch nicht überleben. Die EU-Europäer befinden sich in einer strategischen Sackgasse und werden mittel- bis langfristig zwischen den geopolitischen Mühlsteinen Chinas, Russlands und der USA zerrieben.
2. Im Spannungsfeld zwischen der US-Hegemonie und dem RF-Gleichgewichtsstreben
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben die USA ihre globale Hegemonie wiederhergestellt. Der Wiederherstellung der globalen US-Hegemonie ging ein jahrzehntelang andauernder Systemwettbewerb der Supermächte um die ideologische Vormachtstellung im globalen Raum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges voraus.
Zuvor hat Franklin D. Roosevelts ein Konzept der „Vier Polizisten“ bzw. „Big Four“ vorgeschlagen, das die Übertragung der globalen Verantwortung für den Weltfrieden auf die Großmächte China, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion vorsah. Dieses auf globaler Ebene vorgeschlagene Gleichgewicht der Großmächte wurde mit Roosevelts Ableben 1945 zu Grabe getragen und von seinem Nachfolger Harry S. Truman verworfen.
An Stelle des globalen Machtgleichgewichts trat die US-Hegemonie. Der alleinige Besitz der Kernwaffen hat diese radikale Kehrtwende in der US-Außenpolitik möglich gemacht und die globale US-Hegemonialstellung in den Jahren 1945-1949 begründet. Die globale US-Hegemonie war freilich von kurzer Dauer und ging bereits 1949 verloren, als die Sowjets ihre eigenen Kernwaffen entwickeln konnten.
Der Verlust der US-Hegemonie gegenüber der sowjetischen Gegenmacht hat in den Jahren 1949-1991 „keineswegs den Verlust der regionalen Hegemonie der Vereinigten Staaten gegenüber Westeuropa bewirkt“.7
Und nun geht offenbar erneut das dreißig Jahre lang andauernde Intermezzo der globalen US-Hegemonie – die sog. „unipolare Weltordnung“ der Jahre 1991 – 2021/22 – unwiderruflich zu Ende. Davon unbeschadet, bleibt die US-Hegemonialstellung gegenüber der EU aufrechterhalten. Erneut scheint sich also die Geschichte zu wiederholen und ihr Janusgesicht zu zeigen. Der Verlust der globalen Hegemonie würde auch diesmal nicht „den Verlust der regionalen US-Hegemonie“ in Europa bedeuten.
Ganz im Gegenteil: Nach der Kappung aller politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Russland und Europa werden die EU-Europäer von den USA nicht nur geo- und sicherheitspolitisch, sondern zunehmend auch geoökonomisch und insbesondere geoenergetisch abhängiger denn je, wodurch sie verglichen mit den Zeiten des „Kalten Krieges“ noch mehr von den USA domestiziert werden.
Das ökonomische EU-Machtpotential kann allein, wie oben gezeigt, das geo- und sicherheitspolitische Vasallitätsverhältnis zu den USA mitnichten beeinträchtigen, zumal die EU-Wirtschaftsmacht im Langfristtrend zunehmend erodiert. Niemand kann heute vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts und des vom Westen gezogenen neuen „Eisernen Vorhangs“ sagen, wie weit der Erosionsprozess der ökonomischen Macht Europas gehen und welche politischen und sozio-ökonomischen Turbulenzen er mit sich bringen wird.
Als die EU unter Federführung des US-Hegemonen versuchte, auch die Ukraine in die Nato- Strukturen de facto zu integrieren, gingen in Russland alle geostrategischen Alarmglocken an und es wurde aus russischer Sicht fünf Minuten nach zwölf. Denn wäre die Ukraine in die EU- und Nato- Strukturen integriert, dann hätte sich nicht nur die hegemoniale Dysbalance in Europa verfestigt, sondern die geostrategische Machtbalance in ganz Eurasien wäre auch umgekippt. Das hätte Russland zwischen den USA und China zerrieben und die geopolitische Existenz Russlands hätte zur Disposition gestanden.
Es kam, wie es eigentlich kommen musste: Der Krieg in der Ukraine war aus russischer Sicht – geo-und sicherheitspolitisch gesehen – unabwendbar. Mit dem Ukrainekrieg ist auch klar geworden, dass die seit dreißig Jahren bestehende hegemoniale Dysbalance in Europa8 zu Ende geht.
Dass die Spannungen zwischen Russland und den USA bzw. der EU auf Dauer angelegt sind, versteht heute mittlerweile jedermann. Dass aber diese Spannungen wie am Ende des Ost-West-Konflikts zu Gunsten des Westens ausgehen würden, ist alles andere als ausgemacht. Der Grund liegt nicht so sehr in der militärischen Erstarkung Russlands als vielmehr in der Schwächung der globalen US-Dominanz und dem nicht mehr zu leugnenden Emanzipationsprozess des sog. „Globalen Südens“ bzw. des Nichtwestens.
Dass diese Spannungen womöglich in einen gesamteuropäischen Krieg münden könnten, kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Schon allein die massive militärische und finanzielle Unterstützung der ukrainischen Zentralregierung zeigt die Eskalationsbereitschaft des Westens, die außer Kontrolle geraten könnte. Ohne diese gewaltige Unterstützung wäre der Ukrainekonflikt längst beendet.
Der Westen überschätzt allerdings seine geoökonomische „Allmacht“ und schätzt zugleich inadäquat das militärische und ökonomische Machtpotenzial Russlands ein. Gleichzeitig ignoriert er, wie eng und intensiv mittlerweile die geostrategischen Beziehungen zwischen Russland und China nach dem jüngsten Besuch des chinesischen Staatsoberhaupts Xi in die RF geworden sind. In seinem neuen außenpolitischen Konzept vom 31. März 2023 räumt Russland China und Indien eine absolute geostrategische Priorität ein, wendet sich vom Westen ab und bezeichnet die EU-Europäer als „Satelliten“ Amerikas.
Russlands Abwendung vom Westen hat sich lange vor dem 24. Februar 2022 abgezeichnet. Einer der Hauptgründe liegt in der Ablehnung Russlands der von den USA dominierten europäischen Sicherheitsarchitektur. Ungeachtet oder gerade wegen des Ukrainekonflikts beharrt der US-Hegemon nach wie vor auf die seit dem Untergang des Sowjetimperiums entstandene hegemoniale Dysbalance in Europa.
Eine direkte Folge dieser hegemonialen Dysbalance war die Nato-Expansion gen Osten, die zur Schwächung der geo- und sicherheitsstrategischen Positionierung Russlands in Eurasien geführt hat. Wäre die Ukraine in den Einflussbereich der Nato bzw. der USA geraten, hätte eine dramatische Depravierung der geostrategischen Lage Russlands stattgefunden.
Die Beherrschung Eurasiens durch die USA und die Schwächung Russlands als eurasische Kontinentalmacht auch gegenüber China wären dann die Folge, sodass Russland zwischen den USA und China zerrieben worden wäre. Russlands Kampf um die Ukraine ist deswegen auch ein Kampf um das eigene geopolitische Überleben. Eine „strategische Niederlage“, von der manche westlichen und US-Geostrategen träumen, ist für Russland keine Option.
Es wird sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen zu wissen. Zu Recht fordert der bekannte Kritiker von Bidens Ukrainepolitik, Douglas Macgregor (Colonel (im Ruhestand), Senior Fellow bei The American Conservative und ehem. Berater des Verteidigungsministers in der Trump-Administration), kürzlich in seinem Beitrag „The Gathering Storm“ für The American Conservative am 14. März 2023: Die Biden-Administration müsse zu „den bösartigen und dummen Forderungen“ nach einem „demütigenden Rückzug Russlands aus der Ostukraine“, noch bevor die Friedensgespräche überhaupt stattgefunden haben, schleunigst auf Distanz gehen.
Der Ukrainekonflikt ist aus russischer Sicht eine Auseinandersetzung um die Wiederherstellung des Machtgleichgewichts in Europa und um nichts anderes geht es Russland – geostrategisch gesehen – in diesem Krieg. Für Russland würde eine „strategische Niederlage“ nicht nur die Aufrechterhaltung der hegemonialen Dysbalance auf dem europäischen Kontinent, sondern auch eine Vertiefung dieser Dysbalance zur Folge haben.
Diese „strategische Niederlage“ tritt erst dann ein, wenn Russland statt einer Neutralisierung der Ukraine als „Anti-Russland“ die Aufnahme der Ukraine in die Nato bekommt und damit das Hauptziel des gesamten militärischen Abenteuers – eine Wiederherstellung des Machtgleichgewichts in Europa – verfehlt.
Die Überwindung der hegemonialen Dysbalance in Europa würde wiederum die USA als die europäische Hegemonialmacht auf eine ganz andere Art und Weise schwächen. Im Gegensatz zu den USA trifft der Ukrainekonflikt Russlands vitale Sicherheitsinteressen, sodass es sich keine Niederlage leisten kann.
Die „Symmetrie der existentiellen Interessen“ (McNamara ), welche zurzeit des „Kalten Krieges“ „eine politisch-strategische >Überlebensgemeinschaft<“ zwischen den USA und der Sowjetunion begründete9, ist in Zeiten der bestehenden hegemonialen Dysbalance dahin. Sie begründet vielmehr eine Asymmetrie der existentiellen Überlebensinteressen.
Die alles und alle dominierende US-Hegemonialstellung in Europa bedeutet aber, dass die USA nicht gezwungen werden können, zwischen ihrem existentialen Überlebensinteressen und ihrer Expansionspolitik zu unterscheiden. Seit dem Untergang des Systemrivalen konnten sie gut dreißig Jahre lang ihre Nato-Expansionspolitik und die damit verbundene Einflussgewinnung nur solange und soweit verfolgen, als dies keine direkte militärische Konfrontation mit Russland auslöste.
Das konnte solange gut gehen, solange Russland ökonomisch und militärisch schwächelte und seine vitalen Sicherheitsinteressen nicht unmittelbar bedroht, vor allem aber die geostrategische Stellung in Eurasien nicht tangiert wurden. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich die geo- und sicherheitsstrategische Lage drastisch verändert. Die USA stießen an die Grenzen ihrer Expansionspolitik, wobei ihr drei strategische Optionen zur Verfügung standen: entweder ein allumfassender Sanktionskrieg gegen Russland, ein Proxy-Krieg oder ein nukleares Selbstmordkommando.
Die Nuklearoption wurde von vornherein ausgeschlossen. Als Blitzkrieg konzipiert, scheiterte der Sanktionskrieg bereits in seinem Anfangsstadium. „Als Apple Pay und Google Pay in Russland ihren Betrieb einstellten, hofften viele“ vergeblich, „dass Moskaus U-Bahnen zum Stillstand kommen würden“, schrieb Kenneth Rogoff neuerlich in seinem Gastkommentar für das Handelsblatt (14./16. April 2023, S. 18). Und so überschrieb er seine ernüchternde Analyse mit den Worten: „Sanktionen führen am Ziel vorbei“.
Nun reden sich zahlreiche „Experten“ in Rage und beteuern die ganze Zeit lautstark, dass der Sanktionskrieg erst langfristig Erfolg haben werde. Hierbei sollte man John Maynard Keynes in Erinnerung rufen, der einst spöttisch anmerkte: „Auf lange Sicht sind wie alle tot.“
Was übrigblieb, ist allein der Stellvertreterkrieg. Das Problem der Proxy War-Strategie ist freilich, dass sie unbeabsichtigt und ungewollt in ein nukleares Selbstmordkommando ausarten könnte, sollte eine undefinierte, unsichtbare, nicht desto weniger aber real existierende Eskalationsschwelle überschritten werden.
Das Beunruhigende ist dabei aber jene Sorglosigkeit, mit der die USA und die EU die Eskalationsspirale bewusst in Kauf nehmend die Grenzen des Machtbaren testen, wie weit sie die unsichtbare Schwelle der Eskalation ausreizen können.
Diese Eskalationsschwelle testen zu wollen, gleicht einem Geisterfahrer, der bewusst entgegen der Fahrrichtung im Glauben fährt, überleben zu können. Dieses gefährliche Risikospiel – ein „Chicken Game“ – setzt entweder eine macht- bzw. nuklearpolitische Disparität zu Gunsten der USA, die es heute gar nicht gibt, oder der Glaube, dass Russland davor zurückschrecken würde, eine Nuklearoption im Falle des Falles wirksam werden zu lassen.
Bereits 2018 vertrat der russische Politologe Aleksej Fenenko in seinem umfangreichen Aufsatz „>Der lange Frieden< und die Atomwaffe“ die kühne These, dass „Atomwaffen zwar heute genauso wenig, wie Chemiewaffen in den 1930er-Jahren, einen Kriegsausbruch verhindern können. Sie sind aber in der Lage, deren Anwendung durch einen Gegner zu unterbinden. Der Besitz von Atomwaffen kann in diesem Sinne die Eskalation limitieren, die Möglichkeit der zwischenstaatlichen Kriege aber dessen ungeachtet nicht beseitigen.“10
Mit anderen Worten: Selbst der Kriegsausbruch zwischen Russland und der Nato müsse laut Fenenkos Mutmaßung nicht automatisch zur Anwendung von Atomwaffen führen. Diese kühne These in einem möglichen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Nato auszutesten, wäre allerdings ein ziemlich gefährliches und verantwortungsloses Abenteuer. Darauf sollte man lieber nicht wetten.
Nun versuchen die USA offenbar mit ihrem Proxy-Krieg einen Krieg gegen Russland ohne Einsatz von strategischen und taktischen Nuklearwaffen zu führen und damit den Ukrainekonflikt auf einer niedrigeren Stufe der militärischen Gewaltanwendung zu ihren Gunsten auszutragen. So wie der ökonomische Blitzkrieg in den ersten Monaten des Ukrainekonflikts im Sand verlaufen ist, so ist auch der militärisch begrenzte Proxy-Krieg ohne eine direkte Nato-Involvierung mit eigenen Streitkräften und ohne eine Nuklearoption mittel bis langfristig zum Scheitern verurteilt.
Selbst eine stärkere Einbeziehung der EU in den Krieg wird bei einem gleichzeitigen Teilrückzug der USA von ihrem Engagement in der Ukraine kaum erfolgversprechender sein. Die EU-Europäer sind weder mental noch militärisch auf den langandauenden Konflikt vorbereitet, stecken sie doch selber trotz ihrer öffentlichen Bekundungen und Schönreden fest in einer politischen und ökonomischen Dauerkrise. Das Einzige, was die EU-Europäer noch eint, ist die vermeintliche „russische Gefahr“11.
Das europäische Sicherheitsproblem ist aber nicht „die russische Gefahr“, sondern die von den USA als einem nichteuropäischen Land dominierte Sicherheitsarchitektur in Europa, die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts durch eine hegemoniale Dysbalance gekennzeichnet ist und sich vehement gegen ein Machtgleichgewicht wehrt. Eine nichteuropäische Macht verfolgt aber immer auch nichteuropäische Machtinteressen, die mit den europäischen nicht immer kompatibel sind.
Der entstandene sicherheitspolitische Zustand Europas ist ein Zustand, in dem der nichteuropäische Hegemon als die europäische Ordnungsmacht auftritt und tendenziell und potenziell alles blockieren kann, was ein sicherheitspolitisches EU-Arrangement mit Russland ermöglichen könnte. Denn jedes gesamteuropäische Arrangement führt automatisch zur Depravierung der US-Hegemonialstellung in Europa, was nicht im geostrategischen Machtinteresse des US-Hegemonen, wohl aber im strategischen EU-Interessen liegt. Solange die halbsouveränen EU-Länder aber in einer halbsouveränen EU vereinigt bleiben und die nichteuropäische Ordnungsmacht über die europäische Sicherheitspolitik die Oberhand hat, bleibt Macrons „strategische Autonomie“ eine Chimäre.
Anmerkungen
1. Jamil Anderlini/Clea Caulcutt, Macron incite les Européens à ne pas se penser en “suiveurs” des Etats-Unis. Politico, 9. April 2023.
2. Vgl. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 163 f.
3. Brugmans, H., Die Mission Europas in der heutigen Weltsituation, in: Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955, hrsg. u. eingl. v. Martin Göhring. Wiesbaden 1956, 313-322 (313).
4. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 2), 176.
5. Ruehl (wie Anm. 2), 176.
6. Link, W., Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen, in: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1999.
7. Ruehl (wie Anm. 2), 178.
8. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 2), 255.
10. Алексей Фененко, „Долгий мир“ и ядерное оружие. Россия в глобальной политике, 21.11.2018.
11. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de.