Illusionen und Risikospiele in der Außen- und Geopolitik
Übersicht
1. Außenpolitik als Eldorado von Draufgängern, Blendern und Risikospielern
2. Von obsessiven Illusionen der Unerschrockenen
3. „Ein Morgenthau-Plan für Russland“
Anmerkungen
„Ни у кого не должно быть опасных иллюзий, что глобальный
стратегический паритет может быть разрушен.“
(Keiner darf die gefährlichen Illusionen haben, dass die globale
strategische Parität zerstört werden kann.)
(Putin, 21. Februar 2023)
1. Außenpolitik als Eldorado von Draufgängern, Blendern und Risikospielern
Außenpolitik ist ein neuzeitliches Phänomen und geht Hand in Hand mit der Entstehung und Ausbildung des modernen Staates. Der große Theoretiker des modernen Staates, Jean Bodin (1530-1596), hat die moderne Staatsidee auf den Souveränitätsbegriff zurückgeführt, dessen außenpolitischer Kerngedanke in der Fähigkeit eines von niemandem abhängigen und niemandem (außer Gott) rechenschaftspflichtigen Souveräns besteht, die Entscheidung über Krieg und Frieden zu treffen.
Als arcanum imperii war Außenpolitik immer das innerste Geheimnis der Herrschaftsausübung, blieb jahrhundertelang die Domäne der Herrschenden und den Uneingeweihten stets verborgen. Das ist lange her. Spätestens seit der „Demokratisierung“ bzw. Vermassung des politischen Lebens ist Außenpolitik zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hat die Bedeutung der Öffentlichkeit in der Außenpolitik einen neuen Schub bekommen, als die an die Macht gelangte bolschewistische Revolutionsregierung alle Geheimdokumente zum Kriegsausbruch veröffentlichte und der US-Präsident Woodrow Wilson zur gleichen Zeit Aufklärung über die Katastrophe der Diplomatie im Vorfeld des Kriegsausbruchs forderte.
Und heute? Was ist heute aus der Forderung nach der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung in der Außenpolitik geworden? Der außenpolitische Diskurs ist längst zu einer als „Informationskrieg“ verklärten Propagandaschlacht verkommen. Schlimmer noch: Außenpolitik ist heute zum Eldorado von Draufgängern, Blendern, Hochstaplern und Risikospielern und folglich zur Kunst der Selbst- und Machtverwirklichung geworden.
Jeder, der das Wort Außenpolitik buchstabieren kann, hält sich für einen ausgewiesenen Außenpolitiker. Längst wird die Außenpolitik von unqualifizierten, ungebildeten, gleichzeitig aber indoktrinierten und ideologisieren Politamateuren und Möchtegern-Experten beherrscht. Jede Beleidigung und Herabwürdigung, jede Verunglimpfung und Diffamierung eines ausländischen Staatsoberhaupts oder eines geopolitischen Rivalen ist ihnen nur recht und billig und zugleich Nachweis einer bestandenen Mutprobe.
In dieser vermeintlichen, zur Schau gestellten und zur „Mutprobe“ stilisierten Furcht- und Angstlosigkeit erblicken sie – so ahnungslos, wie sie sind – den Sinn und Zweck der Außenpolitik. Sie glauben offenbar alles sagen und machen zu können, ohne dafür irgendeine Verantwortung tragen zu müssen. Und so handeln sie nach Talleyrands Motto: „Außenpolitik ist die Kunst, einem anderen so lange auf den Zehen zu stehen, bis dieser sich entschuldigt.“
In Zeiten der Kabinettskriege wäre dieser vornehme Spott vielleicht noch vertretbar. Anderes sieht es im nuklearen Zeitalter aus. Je weniger souverän ein Land ist, umso verantwortungsloser sind seine außenpolitischen Amtsträger. Je weniger sie die Verfügungsgewalt über Krieg und Frieden haben, umso mehr werden sie zu Getriebenen und nicht zu Treibenden, zu Behandelnden und nicht zu Handelnden. Wer aber den eigenen Machtwillen fremd bestimmen lässt, darf sich nicht darüber wundern, dass er zum Krieg bedrängt, gedrängt und schließlich geschickt wird.
Eine Außenpolitik, die mit Verunglimpfung und Anpöbelung anfängt und mit Denunziation und Diffamierung des Rivalen endet, kann aber nicht daraufsetzen, dass der Angepöbelte und Denunzierte sich dafür, dass er angepöbelt und denunziert wurde, noch entschuldigt. Derartige „Außenpolitik“ kann weder zur Bewahrung noch zur Wiederherstellung des Friedens einen Beitrag leisten. Vielmehr muss sie mit einer harschen Gegenreaktion und einer bösen Überraschung rechnen.
Ein solches Verständnis von Außenpolitik hat sich bereits seit Langem abgezeichnet. Und sie nimmt mit der Zeit immer abenteuerlicher und verantwortungslosere, weil weltfriedensgefährdende Züge an. Wer pöbelt und verunglimpft, setzt nicht auf Verständigung mit dem Gegner, sondern auf dessen Niederlage und Vernichtung. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist der vorherrschende Zeitgeist, welcher die eigene Selbst- und Machtvollkommenheit beinahe mit der raison d’état gleichsetzt.
So hat der namhafte US-amerikanische Journalist Bob Woodward darüber berichtet, in wie hohem Maße der US-Präsident George Bush (Senior) und seine Berater im Vorfeld des Golfkrieges 1991 besorgt waren, gegenüber dem Machogehabe von Saddam Hussein nicht als „Waschlappen“ (whimp) zu erscheinen. Dies im Nachhinein reflektierend, schrieb Christoph Scherrer 1997 einen Aufsatz darüber unter dem bezeichnenden Titel „Prägt maskuline Irrationalität die US-Außenpolitik?“1
Dass diese „maskuline Irrationalität“ eine lange Tradition in der US-amerikanischen Außen-, Welt-und Geopolitik hat, war schon in der Kubakrise 1962 zu beobachten. Die Krise der dramatischen „13 Tage“ hat die Welt nicht nur an den Rand des Abgrunds gebracht, sondern auch eine andere, rücksichtslose, ja draufgängerische und machoartige Dimension einer welt- und machtpolitischen Konfrontation offengelegt.
Überliefert ist die Atmosphäre der innersten Entscheidungszirkel des Krisenmanagements, in welcher die Kennedy-Brüder ihre Absichten gegenüber Chruschtschow artikulierten: „Sie planten, >to cut his balls off<, ihm >die Hoden abzuschneiden<, ihn folglich zu >kastrieren<.“2 Ekkehart Krippendorff kommentierte diese Äußerung mit den Worten: „Eine derartige brutale sexuelle Metapher offenbart die chauvinistische Dimension des Weltpolitik-Spiels. … Es war … das allen moralischen Skrupeln entledigte und sich aus geradezu primitiven Motiven nährende Handeln der Kennedy-Brüder, das die Welt fast zugrunde gerichtet hätte.“3
Kein Geringerer als der damalige Verteidigungsminister Robert S. McNamara hob noch Jahre später immer wieder hervor, „wie knapp man an der Katastrophe vorbeigeschlittert sei.“ Die treibende Kraft in diesem machtpolitischen Pokerspiel war John F. Kennedy selber. Ihm gelang es „Chruschtschow öffentlich zu demütigen: Sein Widersacher spielte das amerikanische >Chicken-Spiel< nicht mit und gab nach; diese >Blamage< trug später entscheidend zu seinem Machtverlust bei … Dass es Kennedy um die Desavouierung seines Gegenspieles ging, während er gleichzeitig hinter dem Rücken selbst seiner Berater mit Chruschtschow Kompromisse aushandelte, hat Hersch in The Dark Side of Camelot minutiös rekonstruiert. Am Ende … steht der >kastrierte< Chruschtschow als Beispiel skrupulöser politischer Vernunft da und der >siegreiche< Kennedy als rücksichtsloser Risikospieler.“4
Hat sich seit den Zeiten der Kubakrise überhaupt etwas zum Besseren geändert? Mitnichten. Ganz im Gegenteil: Heute stellt man die Verachtung und Respektlosigkeit gegenüber dem geopolitischen Rivalen – verbunden mit Drohungen und Verunglimpfungen – geradezu demonstrativ zur Schau, ohne sich der friedensgefährdenden Tragweite dieser deplatzierten Zurschaustellung bewusst zu sein.
Die despektierliche und aggressive Stimmung wird heutzutage in den westlichen Machtetagen genauso wie in den westlichen Mainstream-Medien penetrant gepflegt und kultiviert, was man nicht nur an Bidens zahlreichen Auftreten und Reden, sondern auch immer und immer wieder an den Äußerungen, Auslassungen und Schriften der US-amerikanischen und EU-europäischen Amtsträgern in den Massenmedien ablesen kann.
Sonst wäre es gar nicht zu verstehen, warum Biden und seine Mannschaft mit einer solch rücksichts-und skrupellosen Vehemenz den Ukrainekonflikt anheizt und eskaliert. Offenbar erleben wir erneut ein gefährliches Risikospiel – ein amerikanisches „Chicken Game“, das etwas zu tiefst Persönliches, ja Obsessives in sich trägt.
Erinnert sei im Kontext der Kubakrise auch an die zwei weiteren „Weltuntergangsfanatiker“, um die ganze Brisanz der aktuellen Lage noch mehr zu verdeutlichen: Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara . Forderte Castro von Chruschtschow den atomaren Erstschlag gegen die USA, so schrieb Guevara euphorisch auf dem Höhepunkt der Krise über die Kubaner: „Es ist das fiebererregende Beispiel eines Volkes, das bereit ist, sich im Atomkrieg zu opfern, damit noch seine Asche als Zement diene für eine neue Gesellschaft, und das für einen Waffenstillstand nicht dankbar ist.“5
Wiederholt sich die Geschichte? Auch heute ist das Phänomen der Selbstaufopferung im Ukrainekonflikt an der Tagesordnung. Auch heute ist die ukrainische Führung dazu bereit, nicht so sehr und nicht einmal in erster Linie die Souveränität des eigenen Landes zu verteidigen, als vielmehr das eigene Volk auf dem Altar der westlichen Geopolitik aufzuopfern, wozu sie vom Westen und insbesondere vom US-Hegemon und dessen europäischen Claqueuren tatkräftig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln angefeuert wird.
„Es gibt keinen Kompromiss“ überschreibt der Brigadegeneral a. d., Klaus Wittmann , sein Gastkommentar im Handelsblatt am 24. Februar 2023. Die Ukraine muss „noch massiver zur Verteidigung und zur Befreiung, also Rückeroberung, geraubten Territorium befähigt werden. Dazu braucht sie den Verbund von gepanzerten Gefechtsfahrzeugen, Artillerie …, Flugabwehr- und alles, auch Munition, schneller und in größer Zahl …“
Alles? Will Wittmann (geb. 1946), der von der „Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl ) profitiert und den Krieg nie hautnah erlebt hat, auch deutsche Soldaten an die ukrainische Front senden? Und zu welchem Zweck? Zur Verteidigung Europas gegen die russischen „Barbaren“? Zur Verteidigung des Völkerrechts? Die „Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung“ wurden verletzt, empört sich Wittmann , „souveräne Gleichheit europäischer Staaten, friedliche Streitbeilegung, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen.“
Sollten also all diese Rechtsverletzungen erst am 24. Februar 2022 geschehen sein? Hat Wittmann den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und der Nato – den „Kosovo-Krieg“ (1999) – gegen die Volksrepublik Jugoslawien vergessen? Hat die Nato nicht schon im Jahr 1999 „souveräne Gleichheit europäischer Staaten, friedliche Streitbeilegung, territoriale Integrität“ und „Unverletzlichkeit der Grenzen“ mit Füssen getreten? Hat Wittmann den brutalen Überfall Iraks seitens der sog. „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA am 20. März 2003 usw. usf. ebenfalls vergessen? Geht es ihm wirklich nur um das Völkerrecht oder um etwas ganz anderes?
„Wir müssen der Ukraine den Sieg ermöglichen“ überschreibt Josep Borrell seinen Gastkommentar für das Handelsblatt am 6. Februar 2023. Auch er will alle Waffen der Welt liefern, um die Ukraine von Putins „apokalyptischen Drohungen und imperialem Wahn“ zu befreien, „den Aggressor (zu) besiegen, ihre Souveränität wiederherzustellen und ihren Platz in der Europäischen Union finden (zu) können.“
Auch Polens Präsident Andrzej Duda appellierte beim Polen-Besuch des US-Präsidenten Joe Biden am 21. Februar 2023 an die Nato-Mitgliedsstaaten in Europa, die Ukraine weiter mit Waffen zu unterstützen. „Ich rufe alle Staats- und Regierungschefs der europäischen Nato-Länder auf, sich mit der Ukraine zu solidarisieren, die Ukraine zu unterstützen und ihr die militärische Unterstützung zukommen zu lassen, damit die Verteidiger der Ukraine etwas haben, womit sie kämpfen können“, sagte Duda.
„Zögert nicht, habt keine Angst. Es ist jetzt keine Zeit für ‚business as usual‘“, so Duda. Die von Russland angegriffene Ukraine stehe in Flammen. „Das geschieht, weil Russland erneut ein Imperium werden und seine Ambitionen umsetzen will, andere Völker zu versklaven.“ Die „freie Welt“ könne das nicht zulassen, mahnte er.
Und so wird die Ukraine vom Westen immer und immer wieder angefeuert, im Kampf gegen „die russische Aggression“ nicht nachzulassen und bedrängt, den Krieg weiter zu führen, sollten sich doch die zwei ostslawischen Brüdervölker gegenseitig massakrieren. Das nützt am wenigsten den UkrainerInnen, am meisten dem Westen, wobei der Kriegsprofit innerhalb „der freien Welt“ geopolitisch und geoökonomisch ungleich verteilt wird.
Die westliche Ukrainepolitik ist in erster Linie Anti-Russlandpolitik. Sie geht mehr zu Lasten der geschundenen Ukraine als Russland zwecks Erzielung der westlichen geostrategischen Ziele. Denn mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist die unipolare Weltordnung in ihrer Existenz bedroht. Darum kämpfen die USA so verbissen und unerbittlich um die Ukraine „bis zum letzten Ukrainer“, wie der britische Ex-Premier Boris Johnson es im Frühjahr 2022 zynisch formulierte.
Russland müsse eine strategische Niederlage zugefügt werden, damit die unipolare Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen überleben könne. Die Bevölkerung in der Ukraine bezahlt dafür einen hohen, sehr hohen Preis mit willfähriger Zustimmung der ukrainischen Führung, um der US-Geostrategie gerecht zu werden. Die Ukraine wird von den US-amerikanischen Draufgängern und Risikospielern zur Weiterführung des Krieges angestachelt, von den EU-europäischen Claqueuren tatkräftig angefeuert und schließlich von der eigenen Führung willfährig in den Tod geschickt. Der Verlierer dieses grausamen geopolitischen Spiels ist und bleibt das ukrainische Volk. Es ist traumatisiert und verführt und befindet sich wie der Zauberlehrling in einem „entsetzlichen Gewässer“ und kann die Geister, die es rief, nicht mehr loswerden.
2. Von obsessiven Illusionen der Unerschrockenen
Auf die Äußerung: „Die Ukraine verteidige auch Deutschland“ reagierte Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi im Gespräch mit Matthias Iken vom „Hamburger Abendblatt“ am 24. Februar 2023 kurz und knapp: „Das ist Unsinn“.
Mantraartig wiederholen die bundesdeutschen PolitikerInnen bereits seit Monaten immer wieder ein und denselben Spruch: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“, weil sie auch unsere Freiheit und Demokratie verteidige. So forderte der FDP-Generalsekretär Bjan Djir Sarai neuerlich: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“ (fdp.de 24.02.2023). Auch der CDU-Außen- und Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter , der mittlerweile zum beliebtesten Talkshow-Gast der Republik aufgestiegen ist, verlangt immer wieder: „Wir müssen die ukrainische Führung unterstützen, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt“ (schwarzwaelder-bote.de 24.02.2023).
Auch der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius wollte nicht ins Hintertreffen geraten, als er bei der Münchener Sicherheitskonferenz am 18. Februar verkündete: „Weil weder Diplomatie noch harte Wirtschaftssanktionen die Richtung von Putin verändert haben, ist unsere Demonstration der Stärke die richtige Antwort“. Und er fügte sodann gleich hinzu: „Und ich habe deutlich gemacht: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.“
Je weniger man vom militärischen Handwerk versteht und über das tatsächliche Kriegsgeschehen an der ukrainischen Front informiert ist, je weniger man die Verantwortung über Krieg und Frieden hat, umso verantwortungsloser, nicht desto weniger aber siegesgewisser und unerschrockener tritt und führt man sich so auf, als wäre man ein großer Militärstratege. Die Warnungen und Erkenntnisse zahlreicher Militärexperten werden dabei in den Wind geschlagen, solange man in den Mainstream-Medien großen Beifall bekommt.
Sie ignorieren selbst die Erkenntnisse der eigenen Geheimdienste und Militärs. So berichteten Alexander Ward, Paul McLeary und Connor O`Brien in Politico am 1. Februar 2023: „Ukraine can’t retake Crimea soon, Pentagon tells lawmakers in classified briefing.“ Die Einschätzung der hochrangigen Pentagon-Beamten – liest man weiter – spiegelt nur das, worauf General Mark Milley (the Joint Chiefs chair) hingewiesen hat: „Ich behaupte immer noch, dass es für dieses Jahr sehr, sehr schwierig sein würde, die russischen Streitkräfte militärisch aus der ganzen … Ukraine zu vertreiben“, sagte Milley während des „meeting of the Ukraine Defense Contact Group in Germany“ am 20. Januar 2023. „Das heißt nicht, dass es nicht passieren kann. “That doesn’t mean it can’t happen. Doesn’t mean it won’t happen, but it’d be very, very difficult.”
Und auch Samuel Charap und Miranda Priebe schreiben in ihrer RAND-Studie „Avoiding a Long War. U. S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“ (Januar 2023): Es wäre im US-Interesse, wenn ein langwieriger Ukrainekonflikt vermieden würde. Denn die Kriegskosten seien erheblich und übertreffen bei weitem die möglichen Vorteile eines dauerhaften Konflikts für die USA. Auch wenn Washington die Kriegsdauer nicht selbst bestimmen könne, sollte es Schritte unternehmen, die das Ende des Konflikts möglich machen würde.
Die Unerschrockenen scheren sich aber nicht darum. Sie sind an keinen stichhaltigen Beweisen, keinen einwandfreien Erkenntnissen, keinen Belehrungen von wem auch immer interessiert. Sie möchten nur eines: eine „strategische Niederlage“ Russland endlich erleben zu können, Russland gedemütigt zu sehen und vor allem die Revanche daran zu nehmen, was Deutschland tatsächlich oder vermeintlich durch UdSSR/Russland erlitten haben soll.
Solche Rachegelüste können aber auch schiefgehen. In seiner Rede anlässlich des 80. Jahrestags des Sieges über Deutschland in der Stalingrad-Schlacht verglich Putin den „Großen Vaterländischen Krieg“ mit dem Ukrainekrieg. Wie auch immer man dazu stehen mag, viele Amerikaner – merkte Christoph Caldwell in seinem Artikel „Russia and Ukraine Have Incentives to Negotiate. The U.S. Has Other
Plans“ (The New York Times, 7. Februar 2023) dazu an –sehen in Putin einen „Barbaren“ und bezeichnen seine Invasion in die Ukraine als „Angriffskrieg“. Da seien Russen -warnt Caldwell -einer ganz anderen Meinung. Im Ukrainekrieg gehe es ums Überleben Russlands in seinem Kampf gegen die ungerechte Weltordnung, in der die USA unverdiente Privilegien genießen („For their part Russians say this is a war in which Russia is fighting for its survival and against the United States in an unfair global order in which the United States enjoys unearned privileges“).
Wir sollten nicht vergessen – fügte Caldwell hinzu -, dass dieser Krieg nicht „clash of values“, sondern „ein klassischer zwischenstaatlicher Krieg um Territorium und Macht“ (a classic interstate war over territory and power) sei. „In this confrontation“ können Putin und Russland es sich im Gegensatz zu den USA nicht leisten, zurückzustecken, was die „American policymakers“ nicht zu begreifen scheinen. Und das mache die Konfrontation so gefährlich.
Ob es in diesem Krieg allein „um Territorium und Macht“ geht, sei dahingestellt. Nicht nur die „American policymakers“, sondern auch die unerschrockene Politprominenz aus Deutschland und Europa ignorieren konsequent die Gefahren ihrer verantwortungslosen Russlandrhetorik und Russlandpolitik. Von obsessiven Illusionen und Aversionen ergriffen, sehen sie einfach nicht ein, dass man Russland als Nuklearmacht nicht einfach mit der Volksrepublik Jugoslawien, die man 1999 zerbombt hat, gleichsetzen oder wie Beduinen und Wüstenvölker bekämpfen kann.
Wie Ivo Dalder (ehem. US-Botschafter bei der NATO und Präsident des Chicago Council on Global Affairs) glauben sie nach wie vor fest daran, dass „Russlands Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, heute weithin als strategisches Debakel historischen Ausmaßes angesehen wird – und niemand hat dieses Ergebnis vor einem Jahr vorausgesehen. Obwohl sich der Krieg selbst als katastrophal erwiesen hat, sind die geopolitischen Folgen für Russland eher noch schlimmer.“6
In diesem Glauben gefangen, geht auch die deutsche Politprominenz von einem baldigen Sieg der Ukraine aus. Offenbar ist sie davon überzeugt, dass die von Russland erlittenen „ungeheuren Verluste“ Putin von selbst dazu bewegen würden, diesen verlustreichen Krieg abzubrechen und eine Niederlage einzugestehen.
Verluste? Welche Verluste? Ivo Dalder weiß das ganz genau! Mit großer Genugtuung und Schadenfreude berichtet er: Weit davon entfernt, den Widerstand aufzugeben, waren die Ukrainer, obwohl in Unterzahl (?) und mit weniger Waffen ausgestattet, fest dazu entschlossen, ihr Land zu verteidigen. Russlands viel gepriesenes Militär erwies sich auf einen solchen Kampf als katastrophal schlecht vorbereitet.
Einigen Schätzungen zufolge wurden nach Dalders Angaben „seither über 200.000 Russen getötet oder verwundet. Die Hälfte der Panzer und Ausrüstung des Landes wurden zerstört oder erbeutet. Russlands Luftwaffe muss noch die Kontrolle über den Himmel erlangen; und sein Bestand an präzisionsgelenkten Raketen, Bomben und Munition erschöpft sich schnell“ (According to some estimates, over 200,000 Russians have since been killed or wounded; half the country’s tanks and armor has been destroyed or captured; Russia’s Air Force has yet to gain control over the skies; and its inventory of precision-guided missiles, bombs and ammunition is depleting fast).
„Im kommenden Jahr wird es Russlands Militär schwerfallen“ – frohlockt Dalder schließlich -, an den erreichten Errungenschaften festzuhalten, geschweige denn weitere zu machen.“
Dieser Mainstream-Glaube wird nicht von allen geteilt und bleibt nicht unwidersprochen. So vertrat James Rickards (Publizist, Anwalt und Investmentbanker) in seinem Artikel „The Horrifying Endgame in Ukraine“ (Daily Reconing, 14. Februar 2023) die Auffassung: Die endlosen Berichte der US-Medien darüber, wie die russischen Kriegspläne gescheitert und Russen inkompetent seien oder wie die ukrainischen Streitkräfte Russen im Donbass zurückgedrängt haben und wie die Nato-Waffen bald das Blatt gegen Russland wenden würden, all das sei Unsinn. Nichts davon sei wahr („This is all nonsense. None of it is true“).
Rickards begründet seine Auffassung mit „Reality-Check“: Er geht von der Annahme aus, dass sich die ukrainischen Vorstöße im Spätsommer gegen leicht verteidigte Stellungen richteten, welche die Russen schnell räumten, um Kräfte zu sparen. Russen waren bereit, das Land aufzugeben, um wertvolle Männer und Material nicht zu gefährden. Sie zogen sich in verteidigungsfähigere Stellungen zurück und zermürben seitdem das ukrainische Militär, wohingegen die Ukraine bei ihren vergeblichen Attacken unglaublich viele Kämpfe und Kriegsausrüstung verloren haben.
Insgesamt deuten glaubwürdige Berichte laut Rickards darauf hin, dass sich die ukrainische Opferzahl 500.000 mit steigender Tendenz nähere. Berichte von 100.000 russischen Toten seien andererseits mit ziemlicher Sicherheit wilde Spekulationen der Ukraine. Die BBC versuchte diese Zahlen zu überprüfen und konnte nur etwa 20.000 bestätigte russische Tote finden, basierend auf umfangreichen Suchen in Bestattungsanzeigen, öffentlichen Aufzeichnungen usw. („In all, credible reports indicate that AFU casualties are nearing 500,000 and are increasing at an unsustainable rate. On the other hand, reports of 100,000 Russian dead are almost certainly wild exaggerations put out by Ukraine. The BBC attempted to verify these numbers and could only find about 20,000 confirmed Russian dead based on extensive searches on funeral notices, public records, etc.“).
Wie auch immer man zu all den Zahlen stehen mag, eines wird immer deutlicher: Die Biden-Administration hat nicht nur die Gelegenheit genutzt, den Ukrainekrieg zum willkommenen Anlass zu nehmen, ohne Rücksicht auf Verluste zu eskalieren, sondern sich und die EU-Europäer auch in einen Konflikt hineinziehen lassen, aus dem sie nicht ohne Schrammen herauskommen werden. Denn dass die Ukraine diesen Krieggewinnen kann, ist alles andere als sicher.
Glauben all diejenigen, die den Sieg der Ukraine stets predigen, wirklich daran? Stephen M. Walt (Kolumnist bei Foreign Policy und Prof. f. Intern. Beziehungen an der Harvard University) ist da einer ganz anderen Meinung. Aus der Münchener Sicherheitskonferenz zurückgekehrt, berichtet er in seinem Artikel „The Conversation About Ukraine Is Cracking Apart“ (Foreign Policy, 28. Februar 2023) über eine Kluft zwischen dem verbreiteten Optimismus über den Ukrainekrieg in der Öffentlichkeit und den eher pessimistischen Einschätzungen in Privatgesprächen.
Hinter den Kulissen und in Privatgesprächen war die Stimmung „viel düsterer“. „Keiner von meinen Gesprächspartnern erwartete ein baldiges Kriegsende und niemand glaubte, dass die Ukraine in der Lage sein würde, das gesamte verlorene Territorium (einschließlich der Krim) zurückzuerobern, egal wie viel Hilfe sie im nächsten Jahr bekommt.“
Es kann sogar genau das Gegenteil passieren, worauf Rickards uns aufmerksam macht: Die USA könnten selber der größte Verlierer des Krieges sein (the U.S. itself may be the biggest loser in the war). Die Biden-Administration stürzte die USA und die Nato im Ukrainekrieg in eine existenzbedrohende Krise („into an existential crisis“), was so niemals passieren durfte. Die Ukraine betraf nie die vitalen US-Sicherheitsinteressen, wohl aber die russischen und es wird nicht aufgeben („Ukraine has never been a vital U.S. interest. But the war is existential for Russia, and won’t give up“), bis es seine Kriegsziele erreicht.
Richtig ist an dieser Aussage, dass die Ukraine „a vital U.S. interest“ nicht unmittelbar tangiert. Als Kernbestand der „imperialen Geostrategie“ (Zbigniew Brzezinski )7 wäre die Nato-Expansionspolitik aber mittelbar und unmittelbar betroffen, sollte Russland den Sieg davontragen, womit gleichzeitig auch die US-amerikanische Sicherheitsarchitektur in Europa seit dem Ende des Ost-West-Konflikts in Frage gestellt wäre.
Je tiefer die USA im Moor des Ukrainekonflikts versinken, umso schwerer wird es ihnen sein, aus dessen Morast herauszukommen. Und so spekuliert Rickards folgerichtig: – „Vielleicht“ würde „ein verzweifelter Biden (dann) den Befehl erteilen, die Truppen in die Westukraine als Puffer gegen eine komplette russische Landnahme zu schicken. … Die Situation kann sich schnell in einen direkten Krieg zwischen den USA und Russland ausarten“ (Maybe a desperate Biden orders troops into western Ukraine as a buffer against a complete Russian takeover of the country … That situation may quickly devolve into a direct war between the U.S. and Russia).
Aus heutiger Sicht scheint diese Spekulation völlig abwegig zu sein, zumal es dem US-Hegemon geostrategisch nicht so sehr um den Sieg der Ukraine geht, als vielmehr darum, den Krieg in die Länge zu ziehen, um Russland damit geopolitisch und geoökonomisch schwächen zu können. Das kann sich aber auch als Illusion erweisen und Biden mit seinen europäischen Kumpanen wie einen begossenen Pudel dastehen lassen. „Ein Jahr nach dem Beginn des Konflikts gibt es eher wenige Gründe für Optimismus – geschweige denn für Selbstbeweihräucherung,“ stellt Marlene Laruelle in ihrem Artikel „This is far from over: Sobering lessons from Ukraine“ (Responsible Statecraft, 25.02.23) ernüchternd fest.
4. „Ein Morgenthau-Plan für Russland“
Eine ganz andere Lösung des Ukrainekonflikts schlagen die Liebhaber des berühmt-berüchtigten „Morgenthau-Plans“15vor, um „die russische Frage“ ein für alle Mal zu erledigen. „A ‘Morgenthau Plan’ for Russia“ nennt Sergey Sukhankin (Senior Fellow bei der Jamestown Foundation) seine Zukunftsvision für „a Post-Putin Russia“. In seiner umfangreichen, aus drei Teilen bestehenden Studie „A ‘Morgenthau Plan’ for Russia: Avoiding Post-1991 Mistakes in Dealing With a Post-Putin Russia“ (Eurasia Daily Monitor, Bd. 19, 179/ 183/187, Dezember 2022) fantasiert er über die Zerschlagung Russlands und schlägt einen „Morgenthau-Plan für Russland“ vor.
Solche Fantasien sind alles andere als neu! Bereits mit der bolschewistischen Machtergreifung und dem darauffolgenden blutigen Bürgerkrieg kam unter den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges die Frage nach der Teilung Russlands auf und noch Jahrzehnte später musste sich Walter Lippmann in seinem einflussreichen Werk „US Foreign Policy. Shield of the republic“ (1943) gegen den Vorwurf wehren, dass die USA an „einer Zerstückelung Russlands“ interessiert wären.
Trotz des „Terrors der bolschewistischen Revolution“ und der „allgemeinen Entrüstung“ in Amerika war die US-amerikanische Russlandpolitik – beteuerte Lippmann – „einer Zerstückelung Russlands durchaus abgeneigt“. Die Entsendung amerikanischer Truppen nach Wladiwostok 1918 bestünde hauptursächlich darin, die japanischen Streitkräfte in Wladiwostok zu überwachen. Nach dem Abzug amerikanischer Truppen bestanden die USA auf den Abzug der japanischen Streitkräfte, was dem Staatssekretär Hughes an der Abrüstungskonferenz in Washington 1922 auch gelang. „Trotz des russischen Bolschewismus … handelten wir aus der Überzeugung heraus, dass die territoriale Integrität Russlands ein vitales Interesse der Vereinigten Staaten darstellt.“8
„Die geschichtliche Erfahrung zeigt also“ – resümiert Lippmann -, „dass die beiden Antipoden Russland und die Vereinigten Staaten in Bezug auf ihre politische Ideologie immer Antagonisten gewesen sind … Aber jeder der beiden Staaten hat sich der Zerstückelung des andern widersetzt, denn jeder hatte das Interesse an der Stärke des andern. Sie haben es nie zu einem Konflikt kommen lassen, der sie zu Feinden gemacht hätte. Jeder betrachtete den anderen als potentiellen Freund im Rücken po-tentieller Feinde“9.
Lippmanns Darstellung, dass sich die USA der Zerstückelung des (bolschewistischen) Russlands widersetzt haben, hat die sowjetische Historikerin Asja E. Kunina (1920-2001) bereits acht Jahre später entschieden widersprochen. In ihrem Werk „Das Scheitern der amerikanischen Pläne zur Eroberung der Weltherrschaft in den Jahren 1917—1920“ vertrat sie mit Berufung auf das Archiv von Edward Mandell House (Wilsons wichtigster außenpolitischer Berater,1858-1938) die Auffassung, dass Wilson persönlich ein „Programm zur Zerstücklung und Versklavung Russlands am 30. Oktober 1918“ (программа расчленения и порабощения России была 30 октября 1918 г.) genehmigt haben soll.10
Manche US-amerikanischen Geopolitiker träumen freilich bis heute von der Zerschlagung Russlands. So berichtete der deutsche Soziologe Hans Jürgen Krysmanski (1935-2016) in seinem Artikel „I Still Wanted To Be A Generalist“11 über einen gewissen Walter Russel Mead (Mitarbeiter des World Policy Institute), den er 1993 kennenlernte und der vorhatte, „den Russen Sibirien abzukaufen.“ Nach seiner Sibirien-Reise zurückgekehrt, breitete er im GQ-Magazin die Idee aus, wonach „Sibirien in sieben neue US-Bundesstaaten“ aufgeteilt werden sollte. Die Idee ist dann schließlich irgendwann im Sande verlaufen.
„Aus naheliegenden militärischen und politischen Gründen“ – schrieb F. William Engdahl 2006 – „kann Washington nicht offen eingestehen, dass seit dem Fall der Sowjetunion im Jahr 1991 die Zerstückelung oder Zerschlagung Russlands und die effektive Kontrolle über dessen riesige Öl- und Gasvorkommen der >höchste Preis<, sein strategisches Ziel ist. Noch immer hat der russische Bär ein respekteinflößendes militärisches Potential, und noch hat er nukleare Zähne.“12
Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts wird nun erneut und öffentlich über die Zerschlagung Russlands diskutiert. Man stelle sich nur vor, Russen würden sich öffentlich über die Zerschlagung der USA oder Deutschland Gedanken machen. Was würde die US-amerikanische und bundesdeutsche Öffentlichkeit dazu sagen?
Was schlägt Sukhankin nun konkret vor? Zunächst postuliert er im Ersten Teil seiner Studie, dass Russlands politisches Regime die aktuellen und kommenden Herausforderungen nicht überstehe. Von diesem Postulat ausgehend, plädiert er dafür, angemessene Vorbereitungen zu treffen, um einem möglichen Zusammenbruch der Russischen Föderation vorzubeugen, was wiederum eine klare Strategie erfordert.
Diese Strategie müsse zuallererst darauf abzielen, „die Wiedergeburt eines aggressiven, revanchistischen und militaristischen Russlands“ (the rebirth of an aggressive, revanchist and militaristic Russia) zu verhindern. Das setze wiederum die Analyse der Fehler des Westens voraus, die zum „Aufstieg des Putinismus in Russland“ (the rise of Putinism in Russia) geführt haben.
Mit Verweis auf Paul Goble (Senior Fellow der Jamestown Foundation) zählt Sukhankin drei grundlegende Fehler des Westens zur Entstehung von „Putins Russland“ auf: Zum einen proklamierte der Westen den Sieg über Sowjetrussland im Kalten Krieg für sich und rief „das Ende der Geschichte“ auf. Zum zweiten blockierte er die Lustration in Russland und ging zum dritten davon aus, dass der ökonomische Transformationsprozess alle Probleme lösen und Russland sich automatisch demokratisieren würde. „All das öffnete den Weg“ – glaubt Sukhankin zu wissen – „für … ein autoritäres, sogar faschistisches Putin-Regime“ (That opened the way to … an authoritarian, even fascist, Putin regime).
Diese ahistorische Analyse, die jede Kenntnis der russischen Geschichte und der russischen Gegenwart vermissen lässt, entbehrt einer wissenschaftlichen Evidenz. Ihr fehlt jede elementare Kenntnis des Transformationsprozesses im Russland der 1990er-Jahre13 und der US-amerikanischen Russlandpolitik der vergangen dreißig Jahre.14 Das wäre noch halb so schlimm, hätte Sukhankin diese substanzlose Analyse nicht seinen Plänen für „Post-Putin Russia“ zugrunde gelegt.
In Kolonialherrn-Manier und in Siegerpose fordert er unumwunden eine „Entmilitarisierung“ (de-militarization) und „Entkolonialisierung Russlands“ (de-colonization of Russia) sowie die „Beaufsichtigung einer gründlichen Entsowjetisierung der (russischen) Ökonomie“ (overseeing a thorough de-Sovietization of the economy), als hätte Russland heute immer noch eine sowjetische Planwirtschaft. Was für eine perturbatio anime!
Um dieser „ehrenvollen“ Aufgabe gerecht zu werden, empfiehlt er ein „Morgenthau-Plan für Russland“. Damit dieser „Plan“ verwirklicht werden kann, müsse Russland -liest man imzweiten Teil der Studie -„zu seinem eigenen Wohl und wegen der Sicherheit seiner Nachbarn eine vollständige militärische Niederlage in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hinnehmen.“
Um seine Fantasien auszuleben, kennt Sukhankin keine Grenzen. Nach dem Motto: >Man soll das Fell des (russischen) Bären verteilen, bevor er erledigt ist<, entwirft er ein Bestrafungs- und Vergeltungs-Programm „für das Nachkriegsrussland“ („for a postwar Russia“), welches vier Punkte umfasst:
- Re-Education-Plan : Russlands Niederlage muss im Nachkriegsfriedensvertrag rechtlich geregelt werden. Ein großes internationales Tribunal muss eingerichtet werden, um Kriegsverbrecher, wichtige Propagandisten, politische Eliten der Kriegsbefürworter, Intellektuelle und Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes usw. zur Rechenschaft zu ziehen.
- Haftungsplan : Russland muss wirtschaftlich für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg haftbar gemacht werden.
- Umerziehungsplan für die Jugend: Die Massenmilitarisierung und die Indoktrination der jungen Russen seien schwer traumatisiert und auf Jahre nachhaltig beschädigt.
- Entmilitarisierungsplan : Die Entmilitarisierung sei erforderlich, um das Wiederaufleben eines aggressiven russischen Militarismus und Expansionismus ein für alle Mal auszulöschen. „Neben einem umfassenden Demilitarisierungsprogramm, das idealerweise in der Beseitigung der russischen Atomwaffen und dem Verbot ihrer künftigen Entwicklung gipfeln würde, sollte darüber hinaus ein System regionaler Verträge und Bündnisse mit den Staaten Mittel- und Osteuropas etabliert werden. Der Zweck wäre nicht nur die Abschreckung vom potenziellen russischen Revanchismus, sondern auch ein wirksames Format zur Stärkung der regionalen Zusammenarbeit und des Wirtschaftswachstums. Mehrere bestehende Initiativen wie die Drei-Meere-Initiative können dadurch erheblich weiterentwickelt werden.“
Dieser sog. „Morgenthau-Plan für Russland“ ist nichts anderes als ein bereits seit den Napoleonischen Kriegen –wenn nicht gar früher -lang gehegter Traum der europäischen Großmächte von der Zerschlagung Russlands und steht selbst dem Nazi-Projekt vom „Lebensraum im Osten“ in Nichts nach.
Das ist mehr als nur Draufgängertum -das ist geopolitische Dummheit. Und „Dummheit“ –folgt man dem Spruch einesrussischen Generals und Präsidentschaftskandidaten Alexander Lebed (1950-2002) – „ist keine Geistesabwesenheit, sondern eine besondere Geisteshaltung“ (Глупость – это не отсутствие ума, это такой ум).
Der „Morgenthau-Plan für Russland“ ist nichts weiter als ein Ausweis für geostrategische Leere , die nur einen Ausweg kennt -den Weg ins nukleare Inferno.
Anmerkungen
1. Scherrer, Ch., „Prägt maskuline Irrationalität die US-Außenpolitik?“, in: Silke, S. (Hg.), Gender Matters. Geschlechterforschung und Amerikastudien. Berliner Beiträge zur Amerikanistik, Kennedy-Institut der FU Berlin. Bd. 6, Berlin 1997, 121-129.
2. Zitiert nach Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 97.
3. Krippendorff (wie Anm. 2), 97 f.
4. Krippendorff (wie Anm. 2), 98.
5. Zitiert nach Krippendorff (wie Anm. 2), 98 FN 11.
6. Dalder. I., Consequences of Putin’s war go beyond its implications for Russia. While the war itself has proven disastrous for Moscow, the geopolitical outcome for Russia is, if anything, even worse. Politico, 15.02.23.
7. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Zitiert nach Lippmann, W., Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Zürich 1944, 149 f.
9. Lippmann (wie Anm. 8), 151.
10. Кунина, А. Е., Провал американских планов завоевания мирового господства в 1917—1920 гг. Москва 1954, 95.
11. Krysmanski, H. J., „I Still Wanted To Be A Generalist“. Ein Blick ins Innere des Council on Foreign Relations, in: Wissenschaft & Frieden 4 (2004).
12. Engdahl, F.W., Öl, wirtschaftliche Sicherheit und geopolitische Risiken von heute, 28.11.2006.
13. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
14. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
15. Greiner, B., Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans. Hamburg 1995.