Verlag OntoPrax Berlin

Das alte Denken

Ischingers „Zehn Punkte für den Frieden“

Übersicht

1. Krieg oder Frieden?
2. Die Nato-Expansion und die europäische Sicherheitsarchitektur
3. Der Traum von der Zerschlagung Russlands und der Kampf um die Ukraine
4. Die EU-Sicherheitsalternativen und die globale Großmächtekonstellation

Anmerkungen

„Du hast wohl recht: ich finde nicht die Spur
Von einem Geist, und alles ist Dressur.“
(Goethe)

1. Krieg oder Frieden?

Kurz vor Silvester hat der ehem. Chef der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger einen Artikel im Handelsblatt (29. Dezember 2022, S. 11) veröffentlicht. Sein Anliegen ist ebenso ehren- wie anspruchsvoll: die Friedensschaffung nach dem Kriegsende in der Ukraine. Und so betitelt Ischinger auch seinen Artikel „Zehn Punkte für den Frieden“, als hätte ihm John Reeds berühmter Romantitel „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (1919) Pate gestanden.

Ischingers „Zehn Punkte für den Frieden“ sind allerdings weder etwas Weltbewegendes noch Welterschütterndes. Zwar spricht er viel von „Frieden“. Was er aber unter „Frieden“ verstehen will und wie er sich eine Friedensregelung vorstellt, bedeutet aus russischer Sicht keinen „Frieden“, sondern ein Friedensdiktat.

Schlimmer noch: Zu Ende gedacht, bedeuten Ischingers „Zehn Punkte für den Frieden“ in Wirklichkeit zehn Punkte für die Fortsetzung des Krieges . Das ist keine Friedensschrift eines friedensbewegten Zeitgenossen, sondern eine Anklageschrift eines Racheengels, der Russland auf der Anklagebank sitzen sehen will. „Am Ende dieses Krieges muss Russland“ – fordert Ischinger im Punkt 4 seiner Anklageschrift – „für Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden.“

Unklar ist es nur, wie er Russland zur Verantwortung ziehen will und wie er dazu kommt, Russland bereits als einen Kriegsverlierer zu stigmatisieren. Weiß er mehr als ein Normalsterblicher? Oder orientiert Ischinger sich an dem Motto: Man solle doch „das Fell des (russischen) Bär verteilen, (noch) bevor er erlegt ist“?

Es ist offenbar erneut zum guten Ton des außenpolitischen Establishments geworden, sich als ein moralischer Friedensapostel aufzuspielen. Hinter diesem Friedensapostel verbirgt sich allerdings in Wahrheit ein Rächer, der die „gerechte“ Rache an denen nehmen will, die seinen „Frieden“ gestört haben, weil sie sich anmaßten, einen Krieg zu führen, der nicht einmal gegen ihn und schon gar nicht gegen Deutschland oder den Westen geführt wird.

Dieser Rächer und seine zahlreichen Mitstreiter fühlen sich dessen ungeachtet moralisch dazu verpflichtet, ja geradezu verdammt, die Russen zu belehren, was moralisch geboten und was verboten sei. Woher weiß Ischinger aber überhaupt über russische „Kriegsverbrechen“.

Aus Fernsehbildern und Massenmedien? Offenbar ist ihm die Erkenntnis entgangen, dass „das erste Opfer des Krieges die Wahrheit“ sei!

Ist vielleicht ein Angriffskrieg für Ischinger bereits an und für sich ein Kriegsverbrechen? Wenn das so wäre, wo war Ischinger denn dann die vergangenen zwanzig Jahre, in denen die USA und die Nato zahlreiche völkerrechtswidrigen Angriffskriege – euphemistisch als „humanitäre Interventionen“ verklärt – geführt haben, ohne dass Ischinger sich darüber in der deutschen oder Weltöffentlichkeit empörte und eine gerechte Bestraffung der „Kriegsverbrecher“ forderte?

„Am Ende dieses Krieges muss Russland für Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden.“ Solche Forderungen an die Adresse der USA und der Nato hörte man von Ischinger allerdings in den vergangenen zwanzig Jahren nicht.

Bereits mit dem Kosovo-Krieg demonstrierte die Nato „eindrucksvoll“ ihr neues geopolitisches Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“. Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, legte aber gleichzeitig ein Fundament für einen Erosionsprozess der gerade im Entstehen begriffenen hegemonialen Weltordnung unter Führung der USA.

Bereits 2007 nannte Lothar Brock diese Entwicklung die „Enttabuisierung des Militärischen“.1 Nein, Ischinger ist kein Friedensapostel und seine „Zehn Punkte für den Frieden“ keine „Friedensschrift“. Ihm geht es gar nicht um einen „Frieden“, sondern um das Friedensdiktat . „Zehn Punkte für das Friedensdiktat“ sollte sein Artikel eigentlich heißen!

Will er etwa als Deutsche an Russland Revanche für den verlorenen Zweiten Weltkrieg und die anschließende Besetzung eines Teils Deutschlands nehmen? Hat er womöglich immer noch das Russlandbild aus den 1990er-Jahren, in denen der Westen im postsowjetischen Raum nach Belieben schalten und walten konnte? Er und die EU-Europäer haben offenbar noch nicht verstanden, dass das Russland der 1990er-Jahre ebenso, wie die postsowjetische Epoche der russischen Geschichte, mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine unwiderrufbar zu Ende gegangen ist. Je schneller die EU-Europäer das begreifen, umso friedlicher wird es in Europa sein.

„Je länger der Krieg dauert“ – hebt Ischinger im Punkt 3 hervor – „desto mehr Opfer werden erbracht, desto mehr Leid wird erlitten, desto mehr Hass wird geschürt. Deshalb ist es im allseitigen europäischen Interesse, diesen Krieg so früh wie möglich zu beenden.“ Wirklich? Soll es auch im US-amerikanischen Interesse sein, den „Krieg so früh wie möglich zu beenden“? Entweder macht Ischinger die Rechnung ohne den US-amerikanischen Wirt oder er hat keine Ahnung von der US-Geostrategie. Das Ziel der US-Geopolitik ist Russland eine geostrategische Niederlage zuzufügen, was letztlich die Fortsetzung und nicht die Beendigung des Ukrainekrieges bedeutet.

Je länger der Krieg dauert, desto mehr Opfer werden erbracht, desto mehr Leid wird erlitten, desto mehr Hass wird geschürt.“ Diesen Appell soll Ischinger nicht nur an die Adresse Russlands, sondern auch und vor allem an die der US-Geopolitik richten, der es gelungen ist, einen innerostslawischen Konflikt zu geopolitisieren. Solange die EU-Europäer das nicht begreifen, wird der Krieg weitergehen und noch mehr Leid bringen und noch mehr Menschenleben kosten.

Dass die US-Geostrategen an einer Fortsetzung und nicht an der Beendigung des Krieges interessiert sind, ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Reflexion der Geschichte und Gegenwart.

1998 enthüllte Zbigniew Brzezinski in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel sei es gewesen, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der Sowjets zu erhöhen. Gefragt, ob er die Unterstützung des islamischen Fundamentalismus inzwischen bereuen würde, antwortete Brzezinski unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue. Am Tag, da die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu liefern.“

Als der Interviewer nachhakt und auf die Verknüpfung von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus hinweist, antwortet Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“2

In der Tat: Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte: die Ausschaltung eines mächtigen geopolitischen Rivalen oder ein paar verwirrte und missbrauchte Muslime zwecks Aufrechterhaltung und Ausbaus der US-Welthegemonie? So unsentimental kann nun mal die US- Geo- und Weltpolitik sein!

Und genau das passiert hier und heute in der Ukraine, auch wenn sich die USA nach außen bei jeder Gelegenheit lautstark als Kämpferin für die ukrainische Souveränität gegen die russische Aggression hochstilisieren und rhetorisch „uneingeschränkt“ für die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes eintreten sowie Frieden fordern.

Es geht den US-amerikanischen „Freunden“ allein um die Geopolitik. Alles andere ist ein zu nichts verpflichtendes leeres Gerede. Dass dabei die leidgeprüften Ukrainerinnen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist miteinkalkuliert und bleibt lediglich eine Fußnote im Buch der Geschichte. Entscheidend ist aus US-geostrategischer Sicht, dass der geopolitische Rivale militärisch geschwächt, moralisch delegitimiert und ökonomisch ruiniert wird. Ischinger ist erfahren genug, um diese Binsenwahrheit zu kennen.

2. Die Nato-Expansion und die europäische Sicherheitsarchitektur

Im Punkt 1 seiner Anklageschrift spricht Ischinger über „eine glasklare westliche strategische Zielsetzung“, der er „ein klares Narrativ“ zugrunde legt: Sollte Russland im Ukrainekrieg Erfolg haben, „wird die Sicherheit nicht nur weiterer regionaler Nachbarn, sondern ganz Europas umfassend infrage gestellt“.

Ischingers „klares Narrativ“ zeigt, wie sehr er noch dem alten Denken des „Kalten Krieges“ verhaftet ist und wie wenig er die ganze Tragweite dessen verstanden hat, was nach dem Ende des Ost-West- Konflikts geo- und sicherheitspolitisch geschehen ist. Die Zeiten, in denen man wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ einem ahnungslosen Bürger Angst vor einem sowjetischen grenzenlosen Expansionsdrang gen Westen einjagen konnte und Vorurteile kultivierte, dass nämlich jedes totalitäre System letztlich nach der Weltherrschaft strebe, und damit eine grassierende antisowjetische Stimmung pflegte, sind längst und unwiderruflich vorbei.

Man darf zudem die in den vergangenen dreißig Jahren entstandene Nato-Sicherheitsordnung nicht mit der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur verwechseln. Russland kann beim besten Willen nicht die „Sicherheit … ganz Europas“ gefährden, weil es eine gesamteuropäische Sicherheit gar nicht gibt. Was Russland mit dem Ukrainekrieg tatsächlich infrage gestellt hat, ist die Nato- Expansionspolitik, in welcher es die Gefährdung der eigenen Sicherheitsinteressen sah.

Nach dem Untergang des Sowjetreiches entstand eine hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent, welche dazu geführt hat, dass die USA sich als die gesamteuropäische Ordnungsmacht begriffen und zur hegemonialen Ordnungsmacht in Europa aufgestiegen sind. Diese Entwicklung stellte Weichen für eine expansive US-amerikanische Geo- und Außenpolitik, die letztlich zur Nato- Osterweiterung geführt haben, wogegen Russland immer und immer wieder heftig protestierte, mit wenig Chancen auf Erfolg.3

Als die Nato ohne Rücksicht auf die russischen Sicherheitsbedenken begonnen hat, ihre militärische Infrastruktur de facto in der Ukraine aufzubauen, war aus russischer Sicht Gefahr im Verzug. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann Russland in die Ukraine einmarschiert. Manche Repräsentanten des russischen außenpolitischen Establishments – wie Sergej Karaganov – vertreten die Auffassung, dass es spätestens im Jahre 2018 hätte geschehen sollen.

Und wenn Ischinger sich darüber beklagt, dass Russland die Charta der Vereinten Nationen und die Schlussakte von Helsinki verletzt, indem es „Grenzen in Europa … einseitig und mit militärischer Macht verändert,“ so darf daran erinnert werden, dass die USA, die EU und die Nato diejenigen waren, die zuerst – wie oben erwähnt – die Grenzen in Europa „einseitig und mit militärischer Macht“ verändert und den Kosovo gewaltsam von der Volksrepublik Jugoslawien getrennt haben.

Es war zuallererst die Nato unter der Führung des US-Hegemonen, die mit der sog. „humanitären Intervention“ eine sich selbstermächtigende, hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts etablierte und die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig machte. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wer selbst die völkerrechtswidrigen Angriffskriege geführt hat, hat jedes Recht verwirkt, dem geopolitischen Rivalen die gleiche Vorgehensweise abzusprechen.

„Dieser Krieg muss“ – schreibt Ischinger unter Punkt 2 – „mit einem Frieden und nicht mit einem prekären bewaffneten Waffenstillstand enden.“ Jeder wird einer derart pauschalen Formulierung zustimmen wollen. Liest man allerdings etwas weiter, so erweist sich Ischingers Friedensappell als die Politik des >Weiter so<, die gerade zu eben diesem Krieg geführt hat. Denn wie soll man sonst Ischingers Forderung verstehen, wenn er dafür plädiert, dass es „für eine Neutralität der Ukraine … nach dem russischen Angriffskrieg keinen Raum geben (kann). … Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine muss deshalb auch auf der Tagesordnung des nordatlantischen Bündnisses bleiben, wenn eine Mitgliedschaft nicht als bald verwirklichbar erscheinen sollte“ (Punkt 5).

Wenn das so ist, von welchem „Frieden“ redet Ischinger dann überhaupt? Auch hier zeigt sich, dass Ischinger vom Frieden redet, aber in Wirklichkeit den Krieg schürt. Auf welche Art und Weise er seine Friedensbedingungen durchsetzen will, bleibt zudem sein Geheimnis.

„Solange die Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft erhalten kann“ – schreibt Ischinger weiter (Punkt 7 ) – „wird die Frage von Sicherheitsgarantien eine Kernfrage für jede Friedenslösung sein. … Zum einen muss die Ukraine militärisch längerfristig so ausgestattet sein, dass jeder Angreifer erfolgreich abgeschreckt werden kann. Zum anderen können und sollten die USA, Großbritannien und Frankreich als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und als Nuklearmächte bilaterale Sicherheitsgarantien aussprechen, die der Ukraine nahezu dieselbe Sicherheit wie eine formale Nato-Mitgliedschaft geben könnten.“

„Nahezu“? Die Ukraine ist entweder drinnen oder draußen, aber eben nicht „nahezu“! Wie will Ischinger denn der Ukraine ohne Russlands Zustimmung Sicherheitsgarantien geben, die „nahezu dieselbe Sicherheit wie eine formale Nato-Mitgliedschaft geben könnten“? Droht er etwa der nuklearen Supermacht Russland? All das ist bloß verantwortungsloses Gerede, das zu keinem Frieden, wohl aber zu einem nuklearen Schlagabtausch führen könnte. Offenbar ignoriert Ischinger immer noch die Gründe, die zu diesem Krieg geführt haben.

Und will er wirklich Russland mit „den USA, Großbritannien und Frankreich … als Nuklearmächte“ abschrecken? Da erinnert man sich gern noch an die Zeiten, in denen Helmut Schmidt bereits vor mehr als 55 Jahren uns ins Stammbuch geschrieben hat, dass eine nukleare Abschreckung dummes Zeug und leeres Gerede ist. Wörtlich schreibt Schmidt : „Ich habe leider noch immer den Eindruck, dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“4

Die Abschreckung funktioniert darüber hinaus aus den folgenden Gründen nicht: Erstens besitzen Frankreich und England keine nukleare Triade und können Russland ohne die USA weder abschrecken noch gefährden. Zweitens ignoriert Ischinger Russlands potentiellen Verbündeten China als nukleare Supermacht. Drittens gibt es gar nichts, womit der Westen Russland abschrecken kann, wenn es um die Ukraine geht. Wird der Westen zu keinen substantiellen sicherheitspolitischen Zugeständnissen bereit sein, welche die russischen Sicherheitsinteressen vollumfänglich befriedigen, wird die Ukraine entweder weiter zerstört oder als souveräner Staat nicht mehr existieren.

Der einzige Sicherheitsgarant für die Ukraine kann – wie merkwürdig das auch klingen mag – nur Russland selber sein, vorausgesetzt, dass die Ukraine kein vom Westen aufgebautes antirussisches Bollwerk mehr bleibt und für Russland ein befreundetes Land wird.

Die entscheidende Frage, die Ischinger in seiner Anklageschrift gar nicht stellt, ist: Geht es dem Westen bzw. den USA in diesem blutigen Krieg wirklich um die Ukraine oder vielmehr um die Aufrechterhaltung der Nato-Sicherheitsordnung in Europa und eine damit eingehende Fortsetzung der Nato-Expansionspolitik gen Osten?

3. Der Traum von der Zerschlagung Russlands und der Kampf um die Ukraine

Nun wendet Ischinger sich gönnerhaft gegen eine „Strategie, die auf Zerfall und Zersplitterung der Russischen Föderation setzt“ (Punkt 6 ) und erteilt ihr eine klare Absage. Wie begründet er nun seine Gönnerhaftigkeit? Nicht etwa mit dem Recht Russlands auf seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder Unverletzlichkeit seines Hoheitsgebietes wie im Falle der Ukraine. Nein, das interessiert ihn gar nicht. Vielmehr ist der „Gönner“ darüber besorgt, dass „ein Zerfall des größten Landes der Erde … unübersehbare und chaotische Folgen nach sich ziehen (könnte), von der Frage der Kontrolle über die zahlreichen russischen Nuklearwaffen ganz zu schweigen.“

Wenn man nun Ischingers negativ konnotierte Begründung ins Positive wendet, so würde das wohl heißen: Er hätte zwar nichts dagegen, den Zerfall und die Zersplitterung Russlands zu erleben. In Anbetracht der gigantischen Risiken und Gefahren sollte man lieber die Finger davon lassen. Wieso thematisiert Ischinger überhaupt Russlands Zerfall? Wird etwa im europäischen bzw. US- amerikanischen außenpolitischen Establishment darüber diskutiert?

Wie auch immer, in den russischen außenpolitischen Expertenkreisen ist es schon lange eine zur Gewissheit verdichtete „Erkenntnis“, dass es dem Westen nicht so sehr um die Verteidigung der ukrainischen Souveränität, als vielmehr um die Zerschlagung und Zersplitterung Russlands gehe. Nun ja, das Thema ist in der Tat nicht neu und es wird im Westen spätestens seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und erst recht seit der Gründung des Sowjetstaates davon geträumt.

So beteuerte der einflussreichste Kolumnist Amerikas der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Walter Lippmann in seinem Werk „US Foreign Policy. Shield of the republic“ (1943), dass die US- amerikanische Russlandpolitik trotz des „Terrors der bolschewistischen Revolution“ und der „allgemeinen Entrüstung“ in Amerika „einer Zerstückelung Russlands durchaus abgeneigt“ war. Zum Beweis seiner Aussage zitiert Lippmann Lenin , der in seiner Rede vom Mai 1918 gesagt haben soll: „Zwischen Japan und Amerika wird ein unvermeidlicher Konflikt um die Oberherrschaft in Pazifik entstehen.“ „Lenins Voraussage“ war nach Lippmanns Überzeugung „richtig“. Die Entsendung amerikanischer Truppen nach Wladiwostok 1918 bestünde hauptursächlich darin, die japanischen Streitkräfte in Wladiwostok zu überwachen. Nach dem Abzug amerikanischer Truppen bestanden die USA auf den Abzug der japanischen Streitkräfte, was dem Staatssekretär Hughes an der Abrüstungskonferenz in Washington 1922 auch gelang. „Trotz des russischen Bolschewismus … handelten wir aus der Überzeugung heraus, dass die territoriale Integrität Russlands ein vitales Interesse der Vereinigten Staaten darstelle.“5

„Die geschichtliche Erfahrung zeigt also“ – resümiert Lippmann -, „dass die beiden Antipoden Russland und die Vereinigten Staaten in Bezug auf ihre politische Ideologie immer Antagonisten gewesen sind … Aber jeder der beiden Staaten hat sich der Zerstückelung des andern widersetzt, denn jeder hatte das Interesse an der Stärke des andern. Sie haben es nie zu einem Konflikt kommen lassen, der sie zu Feinden gemacht hätte. Jeder betrachtete den anderen als potentiellen Freund im Rücken potentieller Feinde.“6

Lippmann schrieb diese Sätze inmitten des Zweiten Weltkrieges, als die USA der engste Verbündete der Sowjetunion war. Seine Darstellung, dass sich die USA der Zerstückelung des (bolschewistischen) Russlands widersetzt haben, hat die sowjetische Historikerin Asja E. Kunina (1920-2001) allerdings acht Jahre später in Frage gestellt und ihr entschieden widersprochen. In ihrem Werk „Das Scheitern der amerikanischen Pläne zur Eroberung der Weltherrschaft in den Jahren 1917—1920“ vertrat sie mit Berufung auf das Archiv von Edward Mandell House (Wilsons wichtigster außenpolitischer Bera-ter,1858-1938) die Auffassung, dass Wilson persönlich ein „Programm zur Zerstücklung und Versklavung Russlands am 30. Oktober 1918“ (программа расчленения и порабощения России была 30 октября 1918 г.) genehmigt haben soll.7

Manche US-amerikanischen Geopolitiker träumen freilich bis heute von der Zerschlagung Russlands. So berichtete der deutsche Soziologe Hans Jürgen Krysmanski (1935-2016) in seinem Artikel „I Still Wanted To Be A Generalist“8 über einen gewissen Walter Russel Mead (Mitarbeiter des World Policy Institute), den er 1993 kennenlernte und der vorhatte, „den Russen Sibirien abzukaufen.“ Nach seiner Sibirien-Reise zurückgekehrt, breitete er im GQ-Magazin die Idee aus, wonach „Sibirien in sieben neue US-Bundesstaaten“ aufgeteilt werden sollte. Diese Idee ist dann schließlich irgendwann im Sande verlaufen.

„Aus naheliegenden militärischen und politischen Gründen“ – schrieb F. William Engdahl 2006 – „kann Washington nicht offen eingestehen, dass seit dem Fall der Sowjetunion im Jahr 1991 die Zerstückelung oder Zerschlagung Russlands und die effektive Kontrolle über dessen riesige Öl- und Gasvorkommen der >höchste Preis<, sein strategisches Ziel ist. Noch immer hat der russische Bär ein respekteinflößendes militärisches Potential, und noch hat er nukleare Zähne.“9

Wendet man sich erneut der Gegenwart zu und lässt die vergangenen dreißig Jahre Revue passieren, so war das Ziel der US-Geostrategie von Anfang an eine Domestizierung und nicht Liberalisierung und/oder Demokratisierung Russlands und es ist bis heute nicht aus der Welt. Bis heute träumen die US-Geostrategen von der Wiederholung des Jahres 1991 und dem anschließenden Zerfall der Russländischen Föderation, worauf Andrej Kortunov zuletzt 2018 hingewiesen hat.10

Die Nato-Osterweiterung, die sog. „bunten Revolutionen“ (nicht zuletzt in der Ukraine 2004 und 2014), finanzielle Repressionen und zahlreiche Wirtschaftssanktionen usw. bilden eine umfassende US-amerikanische Geostrategie zur Destabilisierung Russlands, in deren Zentrum eine geokulturelle, geopolitische und geoökonomische Abspaltung der Ukraine von Russland stand. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 wurden die US-amerikanische Expansionspolitik und der faktische Aufbau der Nato-Infrastruktur in der Ukraine abrupt gestoppt. Diese dramatische Zeitenwende war keine Überraschung und längst absehbar.11

Die Ukraine war seit eh und je ein Zankapfel zwischen Russland und Europa, weil in ihr (vor allem in Ostgalizien) schon immer ethnisch gefärbte Narrative, nationale Identitäten und Bewegungen unterschiedlicher Art vorherrschten, die sich oft feindselig gegenüberstanden. „Bis zum Ersten Weltkrieg konkurrierten eine ukrainophile, eine russophile, eine polonophile und eine auf das Habsburgerreich begrenzte ruthenische Richtung um dieselbe Bevölkerung.“12

In diesem Kontext muss man auch die Schrift „Die russische Gefahr im deutschen Hause“ (1917)13 eines Baltendeutschen, Prof. an der Universität Tübingen Johannes Haller (1865-1947), verstehen. In seiner Auseinandersetzung mit dem 1913 erschienenen Werk des Osteuropahistorikers Otto Hoetzsch unter dem Titel „Russland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904-1913“ empört sich Haller darüber, dass Hoetzsch die Ukrainer „Kleinrussen“ (zu jener Zeit eine gängige Bezeichnung) nennt und meint anschließend: Dies sei ja „keine philologische Kleinigkeit“, sondern ein Politikum.

„Bekanntlich behaupten die Russen, die Ukrainer seien nur eine Spielart des russischen Volkes und ihre Sprache nur eine russische Mundart; während die Führer der Ukrainer von jeher den Anspruch erhoben, ihr Volk als eigene Nation, ihre Sprache als selbständige Kultur- und Nationalsprache anerkannt zu sehen. Die Antworten der philologischen Fachleute auf diese Streitfrage lauten verschieden“ (S. 13 f.).

„Es kommt aber hier gar nicht auf den Entscheid philologischer Autoritäten, überhaupt nicht auf die Philologie an … Politische Fragen werden nicht nach Grammatik entschieden, sondern durch den Willen und die Tat“ (S. 14). Gerade zu prophetisch merkte Haller an: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Gefahr unmittelbarer Losreißung in der Ukraine weniger groß ist als anderswo. Aber trotzdem ist im Hinblick auf die Zukunft die ukrainische Frage schon jetzt das große Zentralproblem der russischen Geschichte und wird es künftig erst recht sein“ (S. 15).

Der Kampf um die Ukraine fing nicht – wie man sieht – erst mit der sog. „Ukraine-Krise“ im Jahr 2014 an. Er ist bereits mehr als 100 Jahre alt und ging immer mit dem Streben nach der Zerschlagung Russlands einher. Nicht von ungefähr spricht auch Ischinger das Thema an.

4. Die EU-Sicherheitsalternativen und die globale Großmächtekonstellation

„Sicherheit für die Ukraine und für ganz Europa“ – schreibt Ischinger im Punkt 8 – ist „langfristig undenkbar, wenn nicht der Gedanke der Versöhnung und Verständigung zu einer Politik militärischer Stärke und Abschreckung hinzutritt.“ Auch hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit das ganze Dilemma der westlichen Außen- und Sicherheitspolitik. Denn diese vermeintliche Versöhnungsgeste entpuppt sich schnell als das alte und überholte Denken des außen- und sicherheitspolitischen Establishments, wie man im nächsten Satz auch nachlesen kann. „Bei Überlegungen zu einer künftigen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur wird es deshalb wichtig sein, auch einen Platz für Russland vorzusehen.“

Ischinger ist nach wie vor gefangen in den Denkmustern der euro-atlantischen Nato-Sicherheitslogik, ohne zu begreifen oder begreifen zu können, dass genau diese sicherheitspolitische Logik zu dem geführt hat, was wir heute in der Ukraine erleben. Er betrachtet eine künftige Sicherheits- und Friedensordnung in Europa allein und ausschließlich aus der Perspektive der „euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur“ und bietet Russland erneut an, zu der gleichen Sicherheitskonzeption zurückzukehren, die Russland immer schon bekämpft und mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine endgültig beerdigt hat.

Denn in der „euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur“ war Russland ja gezwungenermaßen bereits jahrzehntelang eingebunden, hatte es doch die exzessive Nato-Expansionspolitik gen Osten ohnmächtig ertragen und erdulden müssen. Die Konsequenz dieser ohnmächtigen Expansionshinnahme war eine geostrategische Depravierung der russischen Sicherheitslage und infolgedessen die Gefährdung der russischen Sicherheitsinteressen.

Ischinger setzt irrtümlicherweise eine gesamteuropäische mit der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur gleich. Diese Gleichsetzung ist allein dem Umstand geschuldet, dass sich die USA infolge des Untergangs des ideologischen und geopolitischen Rivalen – wie oben gezeigt – als die unangefochtene gesamteuropäische Ordnungsmacht begriffen und zur hegemonialen Ordnungsmacht in Europa aufgestiegen sind.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat Russland nun diese sicherheitspolitische US- Hegemonialstellung in Europa infrage gestellt und die auf der Nato-Expansionspolitik gegründete euro-atlantische Sicherheitsarchitektur gesprengt. Hat der Westen wirklich noch nicht verstanden, dass Russland nicht mehr bereit ist, sie weiterhin zu tolerieren?

Die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur berührte zwischen dem Untergang des Sowjetimperiums und dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 auf einem sicherheitspolitischen Ordnungsprinzip, das man mit der Formel zusammenfassen könnte: US-Hegemonie zu Lande und zur See . Es bestand, anderes formuliert, ein hegemoniales Machtun gleichgewicht bzw. eine hegemoniale Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

Diese hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent ist allein dem Umstand geschuldet, dass die USA sich nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als die gesamteuropäische Ordnungsmacht etablierten und zur Hegemonialmacht zu Lande und zur See in Europa aufgestiegen sind. Im Gegensatz zur US-Hegemonialmacht des 21. Jahrhunderts war beispielsweise das British Empire des 19. Jahrhunderts nicht an der Beherrschung des europäischen Kontinents zu Lande interessiert. „Großbritanniens Hegemonie war von jener Art, die sich mit dem Gleichgewicht des Kontinents vertrug, ja es voraussetzte,“14 wohingegen die US-Hegemonie von jener Art ist, die sich „mit dem Gleichgewicht des Kontinents“ nicht verträgt und eine hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent zur Voraussetzung hat.

Die auf diese hegemoniale Dysbalance gegründete euro-atlantische Sicherheitsarchitektur wurde von Russland am 24. Februar 2022 auch und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der neu entstandenen Großmächtekonstellation im globalen Raum infrage gestellt.

Betrachtet man nämlich den globalen Raum der Gegenwart, so begegnet man einer völlig anderen Großmächtekonstellation , der weder Gleichgewicht noch Hegemonie noch hegemoniale Dysbalance, sondern eine posthegemoniale Dysbalance zugrunde liegt. Wir haben heute eine geo- und sicherheitspolitisch gespaltene Welt, in welcher die hegemoniale Dysbalance (in Europa) und die posthegemoniale Dysbalance (im globalen Raum) die zwei systembildenden Strukturen der globalen Sicherheits- und Friedensordnung sind, in deren Zentrum drei rivalisierende und bis an die Zähne bewaffnete Groß- und Supermächte stehen: die USA, China und Russland.

Eine solche der geopolitischen Großmächterivalität gleichzeitig zugrunde liegende hegemoniale und posthegemoniale Dysbalance verträgt sich nicht mit einem Machtgleichgewicht, erzeugt eine Instabilität sowohl der europäischen Sicherheitsordnung als auch der gesamten Weltordnung. Sie kann auf Dauer unmöglich bestehen, weil sie in sich die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation birgt, die ihrerseits in einen globalen militärischen Konflikt ausarten und darum den Weltfrieden gefährden könnte.

Die EU-Europäer haben heute zwei Alternative :

(1) Entweder bleiben sie wie zurzeit des „Kalten Krieges“ innerhalb der euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen stecken und das heißt: Sie bleiben unter sich allein beim gleichzeitigen Ausschluss Russlands. Das bedeutet aber zugleich eine permanente Konfrontation und dauerhafte Gefährdung des europäischen Friedens. Oder : Die EU-Europäer werden sich mit oder ohne die USA, wohl aber zusammen mit Russland zu einer gesamteuropäischen Sicherheits- und Friedensordnung durchdringen müssen. In diesem Falle besteht die Chance auf einen dauerhaften Frieden auch im Ukrainekonflikt.

(2) Die andere Alternative wäre eine erneute Bildung der zwei Machtblöcke auf dem gesamten eurasischen Kontinent: Der euro-atlantische Nato-Machtblock (EU + USA) versus einen eurasischen Machtblock (Russland + China), wobei der letztere nach allen Richtungen offen sein wird. Der eurasische Machtblock kann zahlreiche potentielle Mitglieder aufnehmen, wie z.B. Iran und Nordkorea ebenso, wie die Türkei (der Nato-Mitglied), Indien oder Saudi-Arabien. Aus heutiger Sicht ist diese Alternative am Wahrscheinlichsten. Ob den EU-Europäern eine Neuauflage des „Ost-West-Konflikts“ guttun wird, ist allerdings eine große Frage.

Die Zeiten haben sich geändert und sie haben sich nicht unbedingt zu Gunsten der EU-Europäer geändert. Für die USA verliert Europa – geo-, sicherheitspolitisch und geoökonomisch gesehen- im Langfristtrend immer mehr an Bedeutung, weil sich die Zukunfts- und Entwicklungsperspektiven deutlich und immer schneller in Richtung Asien- und Indopazifik verlagern. Und solange die EU- Europäer das nicht verstehen, setzen sie die Zukunft ihrer Sicherheit immer noch auf eine einzige US-Karte und bleiben so auf Gedeih und Verderb an die US-Geo- und Sicherheitspolitik gebunden und alternativlos angewiesen.

Den EU-Europäern fehlt darum ein geostrategisches Denken, das ihnen ermöglicht hätte, in Alternativen zu denken. Und so bleiben sie wie Wolfgang Ischinger dem alten Denken verhaftet. Solange ein europäisches Machtgleichgewicht in welcher Form auch immer nicht wiederhergestellt wird, bleibt die gesamteuropäische Sicherheit instabil und gefährdet. Im Großen und Ganzen erweisen sich Ischingers „Zehn Punkte für den Frieden“ als Plädoyer für die Fortsetzung des Krieges bei gleichzeitiger Beibehaltung des >Weiter so< der euro-atlantischen Sicherheitskonzeption. Im Endeffekt bedeutet das aber weiterhin ein Spiel mit dem Feuer, weil es auf dieser Weise gar nicht erlöscht werden kann.

Denn glaubt man Ischinger (Punkt 9 ), so werde es für „den Zeitpunkt möglicher künftiger Verhandlungen“ entscheidend sein, „dass in Moskau die Einsicht einkehrt, mit dem Einsatz militärischer Macht keine weiteren Fortschritte beziehungsweise Geländegewinne erreichen zu können.“ Voller Siegesgewissheit plädiert er dafür, „die Ukraine weiter und verstärkt zu unterstützen und mit mehr Luftabwehr, aber auch mit westlichen Panzern, zu bewaffnen.“

Geschweige davon, dass die bisherige westliche Kriegsfinanzierung und Waffenlieferungen in Höhe von ca. hundert Dollar Milliarden den Krieg nur noch weiter anheizten, kolossale Zerstörung des Landes mitverursachten, tausende und abertausende Menschenleben kosteten, schließt Ischinger offenbar die Möglichkeit aus, dass die Ukraine bei einer weiteren Fortsetzung des Krieges ihre Souveränität verlieren könnte.

Und so schlussfolgert er folgerichtig im letzten Punkt 10 seiner „Friedensschrift“: Die Ukraine werde womöglich vor der Alternative stehen: „ein Wiederaufbau des Landes“ oder „die Wiedereroberung restlicher, von Russland noch besetzter Gebietsteile“. Nun ja, als Militärexperte ist Ischinger bis jetzt nicht aufgefallen.

Denn es gibt auch eine andere Alternative: die ukrainische Annahme eines russischen Friedensdiktats oder der Verlust der ukrainischen Souveränität! Davon will Ischinger und das gesamte außenpolitische Establishment des Westens offenbar nichts wissen und nichts hören. Der Westen versteht immer noch nicht, wie sehr er mit dem Feuer spielt.

In der russischen Führungs- und Funktionselite herrscht heute eine ziemlich gereizte Stimmung. Sie ist heute nicht nur zu allem fähig, sondern notfalls auch zu allem bereit. Unter diesen Umständen bleibt unsereinem nichts anderes übrig, als nur zu hoffen, dass das alte Denken im Westen mit der Zeit geht. Denn „entweder man geht mit der Zeit oder man geht mit der Zeit “!

Anmerkungen

1. Lothar Brock, Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: International Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46); siehe auch Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 79 ff.
2. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbiegniew Brzezinski, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 57 (2012), 89-97 (90).
3. Näheres dazu Silnizki, M., Gefangen im Gehäuse des „Kalten Krieges“. Russland und die europäische Sicherheitsordnung. 23. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1965, 24.
5. Zitiert nach Lippmann, Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Zürich 1944, 149 f.; näheres dazu Silnizki, M., „Potentieller Freund im Rücken potentieller Feinde“? Jahrhundert westliche Russlandpolitik. 8. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Lippmann (wie Anm. 5), 151.
7. Кунина, А. Е., Провал американских планов завоевания мирового господства в 1917—1920 гг. Москва 1954, 95.
8. Krysmanski, H. J., „I Still Wanted To Be A Generalist“. Ein Blick ins Innere des Council on Foreign Relations, in: Wissenschaft & Frieden 4 (2004).
9. Engdahl, F.W., Öl, wirtschaftliche Sicherheit und geopolitische Risiken von heute, 28.11.2006.
10. Кортунов, A., Чего ты хочешь Джoн? К чему приведёт противостояние России и США. Новая холодная война, Московский центр Карнеги, 26.04.2018.
11. Dazu Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
12. Mick, Christoph, Die „Ukrainermacher“ und ihre Konkurrenten. Strategien der nationalen Vereinnahmung des Landes in Ostgalizien, in: Comparativ 15 (2005), H. 2, 60-76 (60 f.).
13. Haller, J., Die russische Gefahr im deutschen Hause, in: Rohrbach, P. (Hrsg.), Die russische Gefahr. Beiträge und Urkunden zur Zeitgeschichte. Stuttgart 1917.
14. Stürmer, M., Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte. München 2001, 35; näheres dazu Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.

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