Zur Frage nach Angstlosigkeit und Nuklearhysterie
Übersicht
1. Zwischen Angstlosigkeit und Nuklearhysterie
2. Strategie der Verantwortungslosigkeit
Anmerkungen
„Наши противники должны понять, что они поставили
себя и мир на порог ада.“
(Unsere Gegner müssen verstehen, dass sie sich und die
Welt an den Rand des Abgrunds brachten.)
(Sergej Karaganov)1
1. Zwischen Angstlosigkeit und Nuklearhysterie
„70 Jahre dienten die Nuklearwaffen als Garant des Friedens. Bedauerlicherweise befinden wir uns aber heute in einer Situation, die wir mit dem Ausdruck >strategischer Parasitismus< charakterisieren können (70 лет ядерное оружие служило гарантом мира. Но, к сожалению, сейчас мы оказались в ситуации, которую можно охарактеризовать термином «стратегический паразитизм).“2
Mit dem Schlagwort „strategischer Parasitismus“ hat Sergej Karaganov (Vorsitzender des Rates f. Außen- u. Verteidigungspolitik und Vordenker d. russ. Außenpolitik) in einem Interview vom 26. September das Problem der Angstlosigkeit vor dem Atomkrieg thematisiert, die sich nach dem Ende der bipolaren Weltordnung breit gemacht hat.
„Wir haben uns derart an den Frieden gewöhnt“ – fügte Karaganov hinzu -, „dass wir davon überzeugt sind, dass es keinen großen Krieg mehr geben würde. Diese Einstellung ist falsch. Der Krieg kann erstens (jederzeit) stattfinden und die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes ist zweitens eher größer geworden, als es jemals seit der Zeit der Kubakrise gewesen war. Ich hoffe nur, dass es dazu nicht kommen wird. Denn dann wäre es ein direkter Weg in die Hölle“ (ebd.).
Bereits ein paar Tage zuvor hat sein Kollege Dmitrij Trenin (Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands und ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center) am 23. September 2022 auf das gleiche Problem – das „Verschwinden der Angst“ (страх исчез) – hingewiesen. „Ich habe den Eindruck“ – meinte Trenin ebenfalls in einem Interview -, „dass wir zumindest in Europa Menschen sehen, die mit geschlossenen Augen auf den Abgrund zusteuern. Und das ist in der Tat äußerst gefährlich. Darauf gibt es nur eine Antwort: Holen Sie die Angst zurück!“3
Karaganovs und Trenins Auslassungen zeigen, wie prekär die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung gut dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und wie spannungsgeladen das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen geworden ist. Und diese beängstigende Angst- und Furchtlosigkeit insbesondere der westlichen Machteliten vor dem Nuklearkrieg findet unter den Bedingungen der weltweiten Konfrontation der Großmächte statt.
Mehr noch: Als wäre der Krieg in Europa auf ukrainischem Boden nicht genug, schüren die interessierten Kreise in der jüngsten Zeit gezielt eine regelrechte Nuklearhysterie, die von Tag zu Tag brisanter und vor allem beängstigender wird. Dieses unausgegorene Gemisch von Angstlosigkeit und Nuklearhysterie wird umso bedrohlicher und gefährlicher, je mehr es vor dem Hintergrund einer immer enger werdenden strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China, einer wachsenden geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation zwischen China und den USA und einer immer deutlich werdenden Teilung der Welt in den sogenannten „Westen“ und den sogenannten „Nichtwesten“ stattfindet.
Es herrscht eine schizophrene Situation:
Zum einen demonstriert der Westen mit seiner jüngeren Politikergeneration die Angstlosigkeit vor einem nuklearen Inferno, ignoriert also jede Gefahr eines Atomkrieges und führt furchtlos einen möglichst allumfassenden Sanktionskrieg gegen die Russländische Föderation bei gleichzeitiger militärischer und finanzieller Kriegsunterstützung der Ukraine.
Zum anderen warnt derselbe Westen dringend vor der Gefahr eines „Armageddon“. Vor allem die ältere Politikergeneration, die den Ost-West-Konflikt noch gut in Erinnerung hat, weist auf eine außer Kontrolle geraten könnende Eskalation der Spannungen zwischen Russland und dem Westen hin. So glaubt der US-Präsident Joe Biden die Gefahr eines Konfliktes apokalyptischen Ausmaßes zu sehen. Zwar hat er keine Hinweise vorgelegt, dass Putin eine Entscheidung zum Einsatz von Nuklearwaffen getroffen haben könnte. Laut Biden befinde sich aber die Welt so nah an einem „Armageddon“ wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr (risk of nuclear armageddon highest since 1962).
Demgegenüber warnte Michael G. Mullen (Admiral a. D. der US Navy und Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff (2007-2011)) in einem Interview am 9. Oktober 2022 vor einer solchen Rhetorik. „Wir müssen“ – betonte er – „Putin ernstnehmen. Es ist notwendig an den Verhandlungstisch zurück zu kehren. Mich beängstigt die Rhetorik des Präsidenten Biden, die er zurückschrauben sollte.“
Zum dritten droht der Westen neuerdings seit einigen Wochen Russland mit weitgehenden Konsequenzen, sollte es „die taktischen Atomwaffen in der Ukraine“ einsetzen, als wäre Russland keine Nuklearmacht, sondern eine Bananenrepublik und hätte keine Möglichkeit, seinerseits hart zu reagieren bzw. atomar zurückzuschlagen.
Was soll man nun mit dem ganzen Gewirr von Warnungen und Drohungen, verantwortungslosem Gerede über Nuklearwaffeneinsatz, Schüren der Nuklearhysterie und gleichzeitiger Angstlosigkeit vor einem Atomkrieg und nicht zuletzt gezielt gestreuter Warnung, Russland beabsichtige einen „taktischen Nuklearangriff“ in der Ukraine, anfangen?
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre die geschürte Nuklearhysterie Teil einer umfassenden Kriegspropaganda, die dazu dienen sollte, Putin zu dämonisieren, Russlands Kriegsführung zu kriminalisieren bzw. moralisch an den Pranger zu stellen und/oder die westliche Ohnmacht zu verschleiern, Russland militärisch in Schach halten zu können.
Zu alledem beobachten wir in der jüngsten Zeit eine exzessiv geführte Nuklearpropaganda. Der in den vergangenen Wochen erhobene Vorwurf einer russischen Drohung mit Nuklearwaffeneinsatz ist allerdings alles andere als neu. Bereits vor einem halben Jahr veröffentlichte der Handelsblatt-Journalist Mathias Brüggmann einen Artikel „Wie weit geht Putin?“, versehen mit einem martialischen Untertitel „Nuklearer Angriff und dritter Weltkrieg. Russland baut eine immer brutalere Drohkulisse auf“3.
In diesem Artikel beteuerte Brüggmann: „Wladimir Putin, seine Regierung und staatlich gelenkte russische Medien sprechen immer unverhohlener vom möglichen Einsatz von Atomwaffen: >Alle diesbezüglichen Entscheidungen sind getroffen worden<, behauptete Putin jetzt in Moskau.“ Dieser Bericht entbehrte schon damals und erst recht heute jeder Grundlage: Indem Brüggmann zum einen die Vorgeschichte der Äußerung unterschlug, vertauschte er die Begriffe Warnung und Drohung und erweckte damit den Eindruck von Putins nuklearer Chantage des Westens. Es ist ein gängiger Propagandatrick, die Begriffe zu vertauschen, um eine x-beliebige Äußerung bzw. Verlautbarung zwecks Desinformation umzudeuten.
Falsch wäre es auch zum anderen Putin und „seine Regierung“ auf eine Stufe mit „staatlich gelenkten russischen Medien“ zu stellen. Zwar unterstützen die staatlich gesteuerten russischen Medien die Regierungspolitik und das gesamte Machtestablishment uneingeschränkt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass beispielsweise einzelne Fernsehjournalisten einzig und allein im direkten Auftrag und auf Befehl der russischen Regierung oder gar Putins persönlich die offiziellen Verlautbarungen und Ankündigung der Regierungspolitik machen. Russland ist heute keine Sowjetunion mehr und man sollte nicht die russische Gegenwart im Sinne des Sowjetsystems karikieren.
Jedes politische System hat seine treuen Anhänger, die an den Schalthebeln der Macht und der Medien sitzen und die etablierten Machtstrukturen bedingungslos unterstützen. Diese Zeitgenossen brauchen keine Befehle und Ermahnungen seitens der Auftragsgeber entgegenzunehmen, um im Sinne des Systems und des Machtestablishments zu handeln. Als Gleichgesinnte handeln sie durch und durch im Eigeninteresse und damit gleichzeitig zum Wohl und im Interesse des Establishments.
So erwähnte Brüggmann in seinem Artikel u. a. einen – wie er ihn denunziatorisch nennt – „auf westlichen Sanktionslisten stehenden Talkmaster Wladimir Solowjow“ namentlich, der gesagt haben soll: „Wir landen dann alle im Himmel, aber sie verrecken elendig.“ Daraus leitet Brüggmann eine unverhohlene Drohung Putins und seiner Regierung mit Nuklearwaffeneinsatz ab, als wäre Solowjow Putins Regierungssprecher.
Dass Solowjow eine derartige Äußerung gesagt hat, ist gar nicht zu leugnen, zumal es eine ähnliche Aussage Putins gibt, die Solowjow lediglich paraphrasierte. Ihm aber zu unterstellen, dass er im Auftrag der russischen Regierung mit Atomwaffen drohte, ist völlig abwegig.
Man muss dabei auch wissen, wer dieser Wladimir Solowjow eigentlich ist. Die genannte Person ist zweifelsohne hochintelligent, zugleich aber ein Hochstapler und Narzisst, selbstverliebt, eitel und – gelinde gesagt – ein grober und unfeiner Zeitgenosse. Richtig ist auch, dass er als der Chefpropagandist von „Putins Russland“ und etablierten Machtstrukturen oft ein wirres, sprich: dummes Zeug redet und manche Äußerungen macht, die er lieber sein lassen sollte.
Und es stimmt auch, dass Solowjow immer wieder über Atomwaffen schwadroniert und damit oft in einer vulgärsten und verantwortungslosen Weise als Agent Provokateur mit Nuklearwaffen eher aus Spaß denn aus Ernst droht. All das gilt noch lange nicht als Beweis dafür, dass „Russland … immer brutalere Drohkulisse“ mit Atomwaffen aufbaut. Diese Behauptung ist nicht weiter als eine neue Variante der seit Monaten tobenden Kriegspropaganda, verkleidet im nuklearen Gewand.
Auch Brüggmanns Verweis auf Liana Fix (Körber-Stiftung) oder Stefan Meister (DGAP) ist nur eine andere Art von Desinformation. „Russland nützt“ – behauptete Fix – „nukleare Drohungen seit Beginn des Krieges als ein politisches Instrument, um Angst zu schüren und den Westen von Sanktionen und militärischer Unterstützung für die Ukraine abzuhalten.“ Ins gleiche Horn blies auch Stefan Meister, als er beteuerte, dass „Moskaus Drohungen mit Atomwaffen >Ängste schüren und Zweifel an weiteren Waffenlieferungen sähen (sollten)“.
All diese Anschuldigungen, Anklagen und unbewiesenen Behauptungen entbehren jeglicher Substanz. Zu keiner Zeit hat die russische Führung weder dem Westen mit strategischen Nuklearwaffen noch der Ukraine mit einem taktischen Nuklearangriff gedroht. Wie absurd dieser Vorwurf des Westens an Putins Adresse ist, wird schnell klar, wenn man Putins stets wiederholtes Glaubensbekenntnis in Erinnerung ruft, dass nämlich die Ukrainer und die Russen ein und dasselbe Volk sei. Geht man von diesem – wenn man so will – „Ideologie“ Putins aus, so fragt man allen Ernstes: Will Putin in der Ukraine etwa sein eigenes Volk atomar verseuchen oder gar auslöschen?
Nein, es geht hier um etwas ganz anderes. Sieht man von der in den westlichen Massenmedien verbreiteten Nuklearpropaganda ab, die lediglich nur als ein Teil der umfassenden antirussischen Kriegspropaganda gelten kann, so werden hier offenkundig gezielt Ressentiments gegen Russland zwecks Aufbau eines Außenfeindes geschürt, um entweder die eigenen geopolitischen und/oder geoökonomischen Interessen zu verschleiern oder von der eigenen sozioökonomischen Tristesse abzulenken oder einfach die eigenen Kriegsverbrechen der vergangenen zwei Jahrzehnte vergessen zu lassen.
Mehr noch: Vor dem Hintergrund des „strategischen Parasitismus“ erscheint die um uns herumtobende Nuklearpropaganda in einem ganz anderen Licht. Sie bestätigt geradezu beispielhaft die Angstlosigkeit der westlichen Machteliten vor dem Atomkrieg, sonst würde der Westen nicht so forsch auftreten, die Spannungen zwischen Russland und dem Westen weiter anheizen und immer wieder auf Eskalation setzen. Eine solche Eskalationspolitik kann schnell außer Kontrolle geraten und – sei es ungewollt – zu einer Globalisierung des (momentan noch regional geführten) Krieges auf ukrainischem Boden führen. Sollte man also doch zusammen mit Dmitrij Trenin dem Westen zurufen: „Holen Sie die Angst zurück! (верните страх)“? Nicht ganz!
Trenins Aufruf ist zwar verständlich, da die Angst vor der gegenseitigen Vernichtung zurzeit des „Kalten Krieges“ zweifellos ihre abschreckende Funktion erfüllt hat. Sie war aber nicht der einzige und bei weitem nicht der ausschlaggebende Grund zur Vermeidung der nuklearen Katastrophe, wie Karaganov und Trenin glauben.
2. Strategie der Verantwortungslosigkeit
Die US-Hegemonialordnung erlebt dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einen dramatischen geopolitischen und geoökonomischen Erosionsprozess. In einer Zeit der zunehmenden Spannungen zwischen den Großmächten Russland, China und den USA und der militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato unter US-Führung in der Ukraine hat die seit dem Ende der bipolaren Welt entstandene unilaterale Weltordnung in eine Sinnkrise gestützt. Dass eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato, die unweigerlich zum Dritten Weltkrieg führen würde, heute nicht mehr ausgeschlossen werden kann, ist eine direkte Folge der Involvierung der Nato-Staaten in einen innerslawischen Bürgerkrieg4 auf ukrainischem Boden.
Dass der Dritte Weltkrieg zurzeit der bipolaren Weltordnung (1945-1989/91) ausblieb und stattdessen „der lange Friede“ (John Lewis Gaddis) herrschte, bedeutet noch lange keine Friedensgarantie für alle Zeiten und erst recht nicht für die Gegenwart mit ihrer immer brutaler werdenden Eskalation der Spannungen zwischen Russland und der Nato bzw. den USA.
Die Hauptursache für das Nichtzustandekommen des Dritten Weltkrieges zurzeit der bipolaren Weltordnung sollte nach Auffassung von Karaganov und Trenin – wie gesehen – die Angst der beiden Supermächte vor der vermuteten gegenseitigen Vernichtung sein. Diese Angst vor der eigenen Vernichtung und der der gesamten Menschheit fehlt heute im Bewusstsein der westlichen Gesellschaften. Es stellt sich dessen ungeachtet die Frage, ob nur die Angst allein der ausschlaggebende Grund war oder auch andere, genauso wichtige – wenn nicht gar wichtigere Ursachen – vorlagen, um eine nukleare Konfrontation zu vermeiden. Dafür spricht in der Tat einiges:
(1) Man sollte die heutigen Spannungen mit den bis aufs Äußerste angespannten Zeiten während des „Kalten Krieges“ in Europa vergleichen. Die militärischen Kräfteverhältnisse im Europa insbesondere der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre waren ganz anders verteilt. Die Sowjetunion unter Führung Chruščov hätte ihre Drohung mit dem Atomkrieg gar nicht wahrmachen müssen, um in Europa einen Sieg davon zu tragen. „Eisenhower 1958 und Kennedy 1961 hätten als erste zu den Kernwaffen greifen müssen, um eine westliche Niederlage in Deutschland abzuwenden. Kennedy zog aus dieser Erkenntnis während der Krise um Berlin im Sommer 1961 – nachdem der Warschauer Pakt mit einer Million Mann aufmarschiert war – die Konsequenz, die amerikanischen Truppen in Deutschland zu verstärken und in Europa taktische Kernwaffen in größerem Umfang zu lagern, um Westeuropa gegen einen Großangriff aus dem Osten wirksamer zu schützen, ohne dass sofort amerikanische Atomraketen auf die Sowjetunion abgefeuert werden müssten. Die schon seit 1957 als Konzept ausgearbeitete Defensivstrategie der >flexible response< oder flexiblen Reaktion mit einem begrenzten Einsatz kleinerer Kernwaffen auf militärische Ziele … wurde nun für die Verteidigung Europas in Pläne umgesetzt.“5 Es kam trotzdem nicht zu einer nuklearen Konfrontation. Wie sieht nun aber heute die militärische Gemengelage aus?
Die gegenwärtigen militärischen Kräfteverhältnisse sind im Gegensatz etwa zur Krise um Berlin spiegelbildlich genau umgekehrt verteilt. Russland ist heute dem Westen im konventionellen Bereich unterlegen. Deswegen unterstellt die westliche Nato-Allianz nach dem altehrwürdigen griechischen Erkenntnisprinzip: Gleiches werde durch Gleiches erkannt – Russland die gleiche „Defensivstrategie der >flexible response<“, welche die Nato als die dem Sowjetblock konventionell unterlegene Partei während des „Kalten Krieges“ plante.
Die jüngste US-Nuklearstrategie („Nuclear Posture Review“) kommt noch hinzu. Die am 2. Februar 2018 publizierte Nuclear Posture Review der Trump-Administration sieht vor, Nuklearwaffen notfalls auf regionalen Schlachtfeldern einzusetzen. Auch die aktualisierte und noch geheim gehaltene US-Nuklearstrategie der Biden-Administration wird sich wohl nicht nennenswert von der der Trump- Administration unterscheiden.
Und so glauben die USA zu wissen oder zumindest tun so, als würden sie es wissen, dass auch Putin genauso wie sie handeln werde und im Zweifel „die taktischen Nuklearwaffen“ in der Ukraine einsetzen würde, statt gleich die strategischen Nuklearwaffen auf die USA abzufeuern. Eine derart mechanische Übertragung der Vergangenheit auf die Gegenwart mangelt es nicht nur an der Kenntnis der russisch-ukrainischen Beziehungen, nicht nur an der Kenntnis der russischen Geopolitik und nicht nur an der Kenntnis der russischen Nuklearstrategie, sondern auch und insbesondere am eigenen strategischen Denken.
Daraus folgt, dass nicht (allein) die Angst vor der gegenseitigen nuklearen Vernichtung der Grund für die Verhinderung des Weltkrieges, sondern dass es vielmehr ein vergleichbares gleichwertiges militärisches Machtpotenzial gab, das eine direkte militärische Konfrontation neutralisierte und einen nuklearen Waffengang verhinderte. Dieses militärische Machtgleichgewicht der Supermächte des „Kalten Krieges“ fehlt heute in Europa nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Untergang des Sowjetimperiums.
(2) Das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“ war aber ebenfalls nicht der ausschlaggebende Grund, der den Dritten Weltkrieg verhinderte. Vielmehr war der popularisierte Ausdruck „Gleichgewicht des Schreckens“ ein „Vulgärbegriff zur groben Umschreibung einer Machtrealität, deren Verständnis sich den von einer niedrigeren Kulturstufe nuklearer Machterkenntnis aus Urteilenden entzog.“6 Gut ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestand in Wirklichkeit gar kein solches „Gleichgewicht des Schreckens“. Die USA waren in diesem Zeitabschnitt auf dem Gebiet der strategischen Nuklearwaffen der Sowjetunion weit überlegen. Erst die Konsequenz, welche die sowjetische Führung „aus dieser strategischen Asymmetrie“ zog, hat die sowjetische Rüstungsindustrie alles zu tun veranlasst, um diese nuklearpolitische Disparität zur dominierenden US-Nuklearmacht abzubauen.
Erst die seit Mitte der 1960-Jahre begonnene zügige Nuklearaufrüstung der Sowjetunion hat eine strategische Parität zwischen Russland und den USA möglich gemacht. Seitdem kann man erst vom „Gleichgewicht des Schreckens“ sprechen. War aber dieses nukleare Machtgleichgewicht wirklich der eigentliche und einzige Grund für die Verhinderung des Dritten Weltkrieges? Und hat die Angst vor einer solchen Apokalypse uns allein den „langen Frieden“ gesichert? Auch hier sind manche Zweifel angebracht.
Warum wurden wir dann doch vom atomaren Inferno zurzeit des „Kalten Krieges“ verschont? Die US-Nuklearstrategie postulierte seit dem US-Verteidigungsminister Robert S. McNamara (1961-1968) eine „Symmetrie der existentiellen Interessen“ der beiden miteinander rivalisierenden Supermächte. Beide würden trotz einer harten ideologischen Konfrontation und der zahlreichen Stellvertreterkriege von einem alles beherrschenden „Überlebensinteressen“ geleitet. Diese vitalen Überlebensinteressen begründeten eine gemeinsame nuklearstrategische „Überlebensgemeinschaft“. „Überleben als Nation aber gebietet Unversehrtheit oder jedenfalls Schonung der Städte, und zwar der großen Mehrheit der Bevölkerung, das heißt die Begrenzung des Kernwaffeneinsatzes auf Ziele außerhalb der dichten Siedlungsräume.“7 Der französische Brigadegeneral und Geostratege Pierre Marie Gallois (1911-2010) zog daraus die Schlussfolgerung, dass die USA „jedenfalls das Territorium der nuklearen Gegenmacht Sowjetunion als >Sanktuarium< behandeln und deshalb einer sowjetischen Aggression gegen Westeuropa nicht mit Kernwaffeneinsatz gegen sowjetisches Staatsgebiet entgegentreten würden.“8
Diese „Sanktuarium“-Strategie setzte eine US-amerikanische Geostrategie voraus, welche zwischen dem existentiellen Sicherheitsinteresse der Sowjetunion und ihrem „Interesse an Machtexpansion, an Gewinn von politischen und strategischen Vorteilen, der im äußersten Fall durch Aggression erreicht werden könnte“, unterschied. Das bedeutete aber wiederum „einen Verzicht auf eine Bedrohung des legitimen sowjetischen Sicherheitsinteresses.“9 Die „Sanktuarium“-Strategie erwies sich somit als eine Geostrategie des Status quo.
Überträgt man nun diese geostrategischen Überlegungen auf die gegenwärtigen Spannungen zwischen Russland und dem Westen bzw. den USA, so stellt man rasch fest, dass die USA nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ein ganz anderes geostrategisches Konzept verfolgt(e): Im Zeitalter der US-amerikanischen unipolaren Weltordnung ist keine Rede mehr vom existentiellen Sicherheitsinteressen Russlands.
McNamaras „Symmetrie der existentiellen Interessen“ setzten die USA seit dem Ende des Ost-West- Konflikts ihre hegemoniale Dominanz in Europa entgegen, weil sie glaubten und offenbar immer noch glauben, auf Russland als einen insbesondere in den 1990er-Jahren und dem ersten Jahrzehnt der 2000er- Jahre militärisch und ökonomisch geschwächten geopolitischen Rivalen keine Rücksicht nehmen zu müssen. Das bedeutet(e) aber, dass die US-Hegemonialstrategie in Europa sowohl das existentielle Sicherheitsinteresse Russlands als auch eine „Überlebensgemeinschaft“ zurzeit des „Kalten Krieges“ außer Kraft setzt(e). Mehr noch: Hinter der legalistischen US-Rhetorik von dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Bündnisfreiheit verbarg und verbirgt sich nach wie vor eine knallharte US-Machtexpansionspolitik, welche wie selbstverständlich u. a. auch die Ukraine in die Nato-Allianz einbezogen sehen möchte, was das existenzielle Sicherheitsinteresse Russlands tangiert.
Damit verletzt die Biden-Administration (wie auch alle vorangegangenen US-Administrationen nach dem Ende des „Kalten Krieges“) in eklatanter Weise zwei fundamentalen Grundsätze der US-Geopolitik des „Kalten Krieges“ und setzt an deren Stelle zwei neue:
(a) Die Aufhebung einer „Symmetrie der existentiellen Interessen“ führt beinahe automatisch zur gleichzeitigen Postulierung einer hegemonialen Asymmetrie der unipolaren Weltordnung, sprich: zum Grundprinzip der hegemonialen Dysbalance10;
(b) Eine Verschmelzung vom existentiellen US-Sicherheitsinteressen mit US-Interessen an Machtexpansion (sprich: die Nato-Osterweiterung). Damit wird gleichzeitig die nuklearstrategische „Überlebensgemeinschaft“ des „Kalten Krieges“ als strategisches Fundamentalprinzip aufgehoben.
Die Angst war also lediglich ein abgeleitetes Phänomen im Zeitalter der bipolaren Weltordnung, welches die Welt vor dem Atomkrieg bewahrte. Das Fundament des „langen Friedens“ bestand im Wesentlichen in einer grundsätzlichen Übereinstimmung der Supermächte über den Verzicht auf die Bedrohung der gegenseitigen legitimen Sicherheitsinteressen und in der gleichzeitigen Postulierung eines geopolitischen Status quo, welche jede Machtexpansion als Angriff der raumfremden Macht in den eigenen existentiell selbstdefinierten Sicherheitsraum ausgeschlossen hat. Dieser fundamentale geostrategische Grundsatz des „Kalten Krieges“ wird heute mit Füssen getreten.
Anmerkungen
1. Караганов, С., „Это надо прямо назвать Отечественной войной“, in: Россия в глобальной политике, 26. September 2022.
2. Karaganov (wie Anm. 1).
3. Zitiert nach Silnizki, M., Ist die Geschichte wiederkehrbar? Zur Gefahr einer schleichenden Globalisierung des Krieges. 5. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Vgl. Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf/Wien 1981, 428.
6. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 258.
7. Vgl. Ruehl (wie Anm. 6), 255 f.
8. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 6), 256.
9. Ruehl (wie Anm. 6), 256.
10. Vgl. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.