Setzen die Friedensverhandlungen einen Waffenstillstand voraus?
Übersicht
1. Begriffsdeutung und -missdeutung
2. Die „Chlestakovščina“ der EU-Machteliten
3. Friedensgespräche im Spiegel des Vietnamkrieges
Anmerkungen
„Die mediale Berichterstattung sind lediglich die Folge eines viel umfassenderen Prozesses, der sich in den politischen
Systemen der Alten Welt abspielt. Das Wichtigste ist der Übergang fast der gesamten europäischen Politik zu einem
(pseudo)intellektuellen Spiel, das völlig losgelöst von der Realität ist. … Europa wird nicht länger als ein aktiver
Teilnehmer der Weltpolitik angesehen, dessen Handeln etwas Fundamentales verändern kann. Die einzige Frage
ist: Wie lange dieses Spiel noch weitergehen kann und was die nächste Stufe im Niedergang unserer ewigen
Gegner in einen Zustand völliger geopolitischer Bedeutungslosigkeit sein wird?“1
1. Begriffsdeutung und -missdeutung
Wie fahrlässig und sorglos wir mit Begriffen herumjonglieren, ohne sich oft dessen bewusst zu sein, zu welch gefährlichen Konsequenzen dieses Herumjonglieren führen kann, hat der angesehene US-Kolumnist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Walter Lippmann, inmitten des Zweiten Weltkrieges im Frühjahr 1944 an den Begriffen „Demokratie“ und „Faschismus“ deutlich gemacht:
„Die Ursachen zukünftiger Störungen liegen in der Schwierigkeit, wie man sich über dasjenige einigen soll, was notwendig ist, um den Faschismus zu zerstören. Maßnahmen, die der Sowjetunion notwendig erscheinen, um den Faschismus zu zerstören, mögen anderswo als Maßnahmen gedeutet werden, die den Kommunismus begünstigen; Maßnahmen, die nicht-sowjetische Staaten als eine angebrachte Verteidigung gegen den Kommunismus betrachten, mögen in Russland als Unterstützung des Faschismus angesehen werden … Im Lebensinteresse sowohl des russischen Volkes als auch in unserem eigenen müssen wir diesen Teufelskreis durchbrechen. Sonst ist es möglich, dass die Russen, indem sie den Faschismus (wie sie ihn definieren) bekämpfen – und die Abendländer, indem sie den Kommunismus (wie sie ihn definieren) bekämpfen – als Todfeinde in einem Weltkrieg enden.“2
Diese Sensibilität für den engen Zusammenhang von Politik und Sprache, die in der Außenpolitik zur gefährlichen und unnötigen Zuspitzung und Eskalation führen kann, scheint heute verlorengegangen zu sein. Unbekümmert und bewusst provozierend, verunglimpfend und verleumdend äußern sich die europäische Außen- und Sicherheitspolitiker über die geopolitischen Rivalen Russland, China und Co. und zeigen damit eher die eigene Macht- und Ratlosigkeit als die Fähigkeit zum machtvollen Handeln.
Wenn man sich im Ton vergreift, muss man sich dann über die entsprechenden Gegenreaktionen nicht wundern. Aus einer verbalen Entgleisung und persönlichen Verunglimpfung erwachsen nur Feindschaft und Hass und sonst gar nichts. Dass sich hinter jeder verbalen Attacke und verbalisierter Gewalt in der Außenpolitik meistens ideologische und geopolitische Machtinteressen verbergen, die schnell in eine unbeabsichtigte und ungewollte Eskalation umschlagen können, versteht sich beinahe schon von selbst und bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Ganz anders sieht es mit der Deutung von Begriffen aus, die in den außenpolitischen bzw. diplomatischen Auseinandersetzungen ganz gezielt und verschlagen umgedeutet, missdeutet und uminterpretiert werden, um die Gegenseite unter Druck zu setzen, zu Zugeständnissen zu bewegen, zu erpressen und/oder einfach zu manipulieren.
In concreto stellt sich dann die Lage viel verworrener und undurchsichtiger dar. Denn wir bedienen uns meistens allgemeinen und unbestimmten Begriffen, bilden uns aber gleichzeitig ein, mit klaren und eindeutig definierten Worten zu operieren.
In der Außen- und Sicherheitspolitik kommt es aber weder auf eine begriffliche Klarheit und Eindeutigkeit noch darauf an, was die Begriffe an und für sich bedeuten, sondern wer sie interpretiert, deutet und anwendet, sodass der Begriffsmanipulation Tür und Tor geöffnet ist.
Wer im konkreten Handeln bestimmt, was Krieg, Frieden und dergleichen ist, und sich letztlich damit durchsetzt, besitzt die Deutungshoheit und die Macht über die Begriffsdeutung und -missdeutung.
Wer die begriffliche Deutungshoheit hat, beherrscht die außenpolitische Szene und dominiert folgerichtig auch die Friedensverhandlungen. Nur vor diesem Hintergrund wird es verständlich, wenn Carl Schmitt einst den römischen Spruch: „Caesar non est supra grammaticos“ (Caesar steht nicht über den Grammatikern) in „Caesar dominus et supra grammaticam“ (Caesar ist Herr über die Grammatik) umdeutete, womit er mit Bezug auf die USA das Selbstverständnis einer Weltmacht charakterisierte, sich selbst über die „Grammatik“ hinwegzusetzen, sobald es um seine Machtinteressen geht.
Wörtlich schreibt er: „Der Imperialismus schafft sich seine eigenen Begriffe, und ein falscher Normativismus und Formalismus führt nur dahin, dass am Ende niemand weiß, was Krieg und was Frieden ist.“3
Es ist ein Ausdruck der Superiorität, wenn eine Weltmacht wie die USA die Deutungshoheit über die Begriffe für sich beansprucht, um deren Inhalte von sich aus bestimmen und den anderen Ländern und Völkern oktroyieren zu können. Dieser Deutungshoheitsanspruch ist das Ergebnis einer merkwürdigen Symbiose von Überlegenheitsgefühl, Machtarroganz und Weltordnungspolitik, die mit dem universal postulierten Wertekanon untrennbar verbunden ist.
Das war der Fall zurzeit der Weltherrschaft des British Empire im 19. Jahrhunderts, der Systemkonkurrenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Weltmachtdominanz des US-Hegemonen in den Jahren 1990/91 – 2022.
Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine beobachten wir indes eine allmähliche Herausbildung von Konkurrenzordnungen der unterschiedlichen Raummächte, die ihre raumgebundene Machtstellung vom universalistischen Deutungshoheitsanspruch zu entkoppelt trachten.
Das hat zufolge, dass das vom Westen dominierte Weltordnungssystem und die mit ihm verbundene Deutungshoheit erodiert und sich partikularisiert. Was dann an seine Stelle tritt, ist kein allgemein verbindliches Ordnungssystem, sondern ein systemloses Nebeneinander von Ordnungen, die unabhängig voneinander ihre eigenen Ordnungs- und Begriffsvorstellungen durchsetzen wollen.
Die bisherige trans- bzw. euroatlantische Deutungsmacht, die getreu ihrer kolonialen Vergangenheit den universellen Anspruch, wie selbstverständlich, postuliert, verliert unaufhaltsam ihre Gestaltungs- und Anziehungskraft.
An die Stelle des euroatlantischen Universalismus treten antiuniversalistische, eigengesetzliche und selbstgenügsame Ordnungs- und Begriffssysteme, die ihrer eigenen Machtstellung bewusstwerden und sie auch durchzusetzen vermögen.
Der US-amerikanische Anspruch, nach dem Ende der Systemkonfrontation des „Kalten Krieges“ das Machtzentrum des Universums zu sein bzw. zu werden, hat sich, wie man heute feststellen kann, nicht verwirklichen lassen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen angesichts der immer mächtiger werdenden geopolitischen Rivalen China und Russland und in Anbetracht des immer selbstbewusster auftretenden sog. „Globalen Südens“ weit auseinander.
Was heute noch als universales Weltordnungssystem erscheint, ist nichts weiter als eine Reihe zusammenhangsloser normativer Vorschriften des Völkerrechts, die man befolgen kann, aber nicht unbedingt befolgen muss. Der Zerfallsprozess der universal angelegten Weltordnung und die anhaltende Erosion des US-amerikanischen bzw. euroatlantischen Deutungshoheitsanspruchs sind im vollen Gange und keiner weiß heute, was an deren Stelle kommen wird.
Nur eins ist sicher: Die Begriffsdeutung und -missdeutung werden weiter fortbestehen, da sie einer nie enden wollenden machtpolitischen Opportunität unterliegen.
2. Die „Chlestakovščina“ der EU-Machteliten
Mit einem fortschreitenden Verlust der euroatlantischen Deutungsmacht erleben wir seit einiger Zeit ein erstaunliches Phänomen: eine zunehmende Depravierung des Bildungsniveaus, der diplomatischen und außenpolitischen Kompetenz sowie ein kaum zu überwindbarer Mangel am geostrategischen Denkvermögen seitens der EU-europäischen Machteliten, das dazu befähigt wäre, die geo- und sicherheitspolitische Realität so, wie sie ist und nicht wie man sie gerne hätte, zu analysieren und dementsprechend zu handeln.
Diese intellektuelle und strategische Privation (lat. privatio, gr. στέρησις), die einem Eskapismus bzw. einer Realitätsverweigerung gleichkommt, führt zu einer Geisteshaltung und Verhaltensweise, die man in Anlehnung an Gogols berühmte, 1836 verfasste Komödie „Der Revizor“ als „Chlestakovščina“ (хлестаковщина) charakterisieren könnte.
Der Begriff leitet sich vom Nachnamen der Hauptfigur der Komödie, Ivan Chlestakov – einer der berühmtesten Gestalten der russischen Literaturgeschichte – ab und ist ein Symbol für einen schamlosesten Lügner, unerträglichen Prahler und eine Verkörperung der Vulgarität.
„Chlestakov“, sagt Gogol, ist „die schwierigste Figur im Stück“ (самый трудный образ в пьесе). Warum? Weil er alles gedankenlos und ohne Absicht macht. Indem er alle betrügt, ist er davon überzeugt, niemanden betrogen zu haben. Nachdem er die Rolle eines „Revizors“ (Inspektor) gespielt hat, versteht er nicht, was er gerade gemacht hat.
Erst in der Mitte des vierten Aktes der Komödie wird Chlestakov klar, dass man ihn für einen „Staatsmann“ hält, der er nicht war. In seiner Unbedachtheit, Gedanken- und Ahnungslosigkeit liegt aber gerade seine Stärke. Alle sind über sein Verhalten verblüfft. „Er wird nicht einmal rot,“ sagt einer über Chlestakov. „Bei ihm muss man immer auf dem Hut sein. Er lügt, lügt und hört damit nie auf.“
Beeindruckend ist, wie dreist er lügt. In seiner Dreistigkeit glaubt er dabei aufrichtig an seine eigenen Lügen. Gogol präsentiert uns mit dieser bizarren Gestalt nicht etwa einen gewöhnlichen Lügner, sondern einen verwegenen Draufgänger und Rollenspieler, der jede beliebige Rolle spielen kann.
Die Leichtigkeit, mit der sich Chlestakov in seinem Umfeld bewegt, sei geradezu „genial“. Für ihn gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur die (geschichtslose) Gegenwart. Was gestern war, ist nicht von Belang. Entscheidend ist ein Moment des Augenblicks, the art of the moment, in ständiger Verwandlung seiner selbst.
Was aber leicht zu erwerben ist, geht auch schnell wieder verloren. Chlestakov verwendet gerne eine hochtrabende Bildungssprache und literarische Klischees, um seine Gelehrsamkeit vorzutäuschen, wird aber gleichzeitig respektlos und vulgär, was seine wahre Natur verrät.
Seine Sprache ist holprig, holzartig und verwirrend, was seine geistige Armut und intellektuelle Unzulänglichkeit bezeugen.
Gogols Zeitgenosse, Lyriker und Literaturkritiker, Apollon A. Grigorjev (1822-1864), schrieb einst abfällig:
„Chlestakov bläst sich wie eine Seifenblase unter dem Einfluss der günstigen Umstände auf, wächst in seinen eigenen Augen und in den Augen der Beamten, wird immer dreister im Prahlen … Würde Chlestakov aber seine Prahlerei überwinden, dann würde er aufhören, Chlestakov zu sein“ (Хлестаков, как мыльный пузырь, надувается под влиянием благоприятных обстоятельств, растет в собственных глазах и глазах чиновников, становится все смелее и смелее в хвастовстве … Но придайте Хлестакову хоть немного расчета в хвастовстве, — и он перестанет уже быть Хлестаковым).
Diese „Chlestakovščina“ – ein schamloses, hemmungsloses Prahlen, ungezügelte Frivolität und Phrasendrescherei – breitet sich heute unter den EU-europäischen Machteliten, die für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständig sind und über Krieg und Frieden entscheiden wollen, rasant aus und spiegelt sich in erschreckender Weise in ihrem ungezügelten und hemmungslosen außenpolitischen Verhalten wider, das von den Gegenspielern nur auf Unverständnis und Verachtung stößt.
Eine solche Verhaltensweise macht die EU-Außenpolitik angreifbar und die EU-Außen- und Sicherheitspolitiker als Verhandlungspartner unzumutbar. Denn unter Friedensverhandlungen verstehen sie keine Diplomatie, sondern Diktat, das nicht auf Verständigung und Übereinstimmung abzielt. Sie fordern neuerdings – man sehe und staune – Friedensgespräche, nehmen aber deren Ergebnis bereits vorweg, indem sie einen „bedingungslosen Waffenstilstand“ verlangen, ohne zu verhandeln, was sie aber auch nicht beabsichtigen; denn sie tun nur so, als würden sie verhandeln wollen.
Und wenn die Gegenseite zunächst verhandeln will, um erst dann zum Waffenstillstand als Verhandlungsergebnis zu kommen, sprechen sie ihr die Bereitschaft zum Frieden ab. So vertauschen sie die Begriffe und täuschen zugleich selbst die Bereitschaft zum Frieden vor, indem sie ihr Diktat mit Verhandlung verwechseln und den Waffenstillstand als Friedensinitiative verklären.
Das bedeutet, dass diese als „Diplomaten“ verkleidete Draufgänger eine Verhandlungsbereitschaft nur simulieren und gar nicht vorhaben, zu einem Ergebnis zu kommen. Sie möchten diktieren, nicht verhandeln, was eigentlich eine Verleugnung des Zwecks der Diplomatie darstellt. Denn das Ziel ihrer vermeintlichen „Verhandlungen“ ist nicht etwa eine Hoffnung auf ein bald zu erreichendes Ergebnis, das weder erwartet noch erwünscht wird, sondern Täuschung und Tarnung der wahren Absichten.
Das ist nichts anderes als eine reine „Chlestakovščina“ und wird von der Gegenseite mit Verachtung, Unverständnis und schroffer Ablehnung quittiert.
3. Friedensgespräche im Spiegel des Vietnamkrieges
Seit nun mehr als drei Jahren ist Europa zur Hauptgefahrenzone der Weltpolitik geworden, die den europäischen und Weltfrieden massiv gefährdet. Und wie das „Chlestakovščina“-Phänomen zeigt, werden die EU-Europäer der Aufgabe der Friedenssicherung in keinerlei Weise gerecht. Drei Jahre lang haben sie auf Krieg statt auf Diplomatie gesetzt und sind mit ihrer erfolgslosen Kriegspolitik kläglich gescheitert.
Jetzt, wo die neue US-Administration versucht, den Krieg zu beenden, täuschen sie ihre Verhandlungsbereitschaft nur vor und legen Stolpersteine in den Weg, damit es bloß nicht zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts kommt, die sie als „Friedensdiktat“ diskreditieren.
Mal sprechen sie Russland die Friedensbereitschaft ab, täuschen aber gleichzeitig ihren eigenen Friedenswillen vor; mal fordern sie einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand als Voraussetzung für Friedensverhandlungen, um hinter der vorgetäuschten Verhandlungsbereitschaft nach ihren eigenen Verlautbarungen der Ukraine eine Feuer- und Verschnaufpause zu verschaffen, anschließend Waffen zu liefern, die sog. „Friedenstruppen“ aus den Nato-Staaten zu stationieren und danach weiter zu kämpfen. Und all das bezeichnen sie schamlos und unverfroren als eine europäische und ukrainische Friedensbereitschaft. Das ist eben eine pure „Chlestakovščina“.
Weil Russland aber dieses durchsichtige Täuschungsmanöver durchschaut und nicht bereit ist, eine dauerhafte Friedensregelung durch einen Frieden vortäuschenden und Krieg einfrierenden Waffenstillstand zu substituieren, wird es mit dem unhaltbaren Vorwurf konfrontiert, am Frieden nicht interessiert zu sein, als hänge der Einstieg in die Friedensverhandlungen vom bedingungslosen Waffenstillstand ab.
Diese EU-europäische „Chlestakovščina“ hat aber weder mit Verhandlungsbereitschaft noch mit Diplomatie etwas zu tun. Es soll nun skizzenhaft am Beispiel der Beendigung des Vietnamkrieges gezeigt werden, wie die USA selber Friedensverhandlungen zur Beilegung der von ihnen angezettelten Kriege führen.
Am 13. Mai 1968 begannen geheime Friedensgespräche zur Beendigung des Vietnamkrieges unter Leitung des US-Sonderberaters Henry Kissinger und des nordvietnamesischen Chefdelegierten Le Duc Tho. Bedingung zur Aufnahme der Pariser Verhandlungen war das Einstellen des US-Bombardements auf Nordvietnam. Im Süden gingen die Kämpfe allerdings weiter. Im hier tobenden Kampf gegen die Guerilla führten die USA einen regelrechten „Helikopterkrieg“.
Erst nach viereinhalb Jahren Friedensverhandlungen wurde am 27. Januar 1973 schließlich der Pariser Friedensvertrag (Paris Peace Accords) von Nord- und Südvietnam, den Vietkong sowie den USA unterschrieben.
Dem Friedensvertrag ging also ein jahrelang andauernder Verhandlungsprozess voraus, der immer von massiven US-Bombardements und Kriegshandlungen begleitet wurde. Am 1. Januar 1969 veröffentlichte Kissinger seinen Plan für das US-Disengagement in Vietnam in Foreign Affairs unter dem Titel „The Vietnam Negotiations“.
Unter dem gleichen Titel „Die Vietnam-Verhandlungen“ wurde Kissingers Plan sodann von der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) in Deutsch übertragen und am 29. März 1969 abgedruckt.
Gleich eingangs seines Verhandlungsplans schreibt Kissinger:
„Es ist unwahrscheinlich, dass ein Bürgerkrieg, der seit zwanzig Jahren eine Gesellschaft zerfleischt und in den die Großmächte hineingezogen worden sind, mit einem einzigen dramatischen Streich beendet wird. Selbst wenn es gegenseitiges Vertrauen gäbe …, wäre mit langwierigen Verhandlungen zu rechnen.“
Damit hat er auch recht behalten. Die Verhandlungen dauerten, wie gesagt, viereinhalb Jahre. Interessant ist Kissingers Schilderung von Pro und Contra der Verhandlungen innerhalb der US-außenpolitischen Establishments, die sich stark der heutigen Auseinandersetzung zwischen der Friedens- und Kriegspartei ähnelt:
„Im Vorbereitungsstadium einer Konferenz wirken gewöhnlich zwei Gruppen in der amerikanischen Bürokratie zusammen, um die Ausarbeitung einer Verhandlungsposition zu vereiteln: diejenigen, die gegen Verhandlungen sind, und diejenigen, die dafür sind. Die Gegner pflegen Verhandlungen mit Kapitulation gleichzusetzen; wenn sie sich überhaupt zur Diskussion von Bedingungen bereitfinden, dann nur, um die Kapitulationsbedingungen für den Feind festzulegen. Die Befürworter von Verhandlungen kennen diese Tendenz und wissen auch, dass die Spitze Aufwand zur Klärung von Streitigkeiten ohne unmittelbare praktische Folgen scheut; so weichen sie gleichfalls der Frage aus. Zudem dient eine Verzögerung ihren eigenen Zwecken, denn dadurch gewinnen sie Handlungsfreiheit im Konferenzsaal.“
Auch von einem „bedingungslosen Waffenstillstand“ war die Rede, die Kissinger, wie folgt, beschreibt:
„Der Bombardierungsstopp nahm die ersten sechs Monate der Pariser Gespräche in Anspruch. Die offiziellen Positionen waren verhältnismäßig unkompliziert. Der amerikanische Standpunkt war in der sogenannten Formel von San Antonio enthalten, die Präsident Johnson im September 1967 verkündet hatte: >Die Vereinigten Staaten sind bereit, alle Bombardierungen Nordvietnams aus der Luft und von der See aus einzustellen, wenn dies sofort zu produktiven Diskussionen führt. Wir setzen natürlich voraus, dass Nordvietnam, während die Diskussionen ihren Verlauf nehmen, keinen Vorteil aus der Einstellung oder Begrenzung der Bombenangriffe zieht<. In der Hauptsache blieb der amerikanische Standpunkt während der ganzen Verhandlungen unverändert.
Hanois Reaktion war ebenfalls einfach und hart. Einen klaren Punktgewinn erzielte es mit dem Hinweis, dass es nützliche, aber nicht >produktive< Gespräche garantieren könne, da dies auch von den Vereinigten Staaten abhänge. Aber was den Kern der Sache betraf, bestand Hanoi unerbittlich darauf, dass die Bombenangriffe >bedingungslos< eingestellt werden müssten. Alle amerikanischen Wünsche nach Gegenleistungen wies es zurück, so zum Beispiel die Vorschläge von Außenminister Rusk: Respektierung der entmilitarisierten Zone, keine Angriffe auf südvietnamesische Städte, Reduzierung des Maßstabs der militärischen Operationen. Dass es zu diesem toten Punkt kam, hatte viele Ursachen; aber ein zentrales Problem lag zweifellos darin, dass beide Seiten Schwierigkeiten hatten, ihre wirklichen Sorgen zu artikulieren. Washington fürchtete, >hereingelegt< zu werden; es glaubte, wenn die Bombenangriffe erst einmal eingestellt wären, würde es politisch schwierig, wenn nicht unmöglich sein, sie selbst angesichts einer großen Provokation wieder aufzunehmen. Es brauchte auch gewisse Zusicherungen darüber, wie die Verhandlungen nach einem Bombenstopp vorangehen würden. Washington wusste, dass ein Bombenstopp, der nicht rasch zu substantiellen Gesprächen führte, innenpolitisch nicht zu vertreten war.
Die legalistische Formulierung dieser Sorgen verdunkelte, worum es eigentlich ging. Wenn die Bombenangriffe unter Bedingungen großer öffentlicher Empörung wiederaufgenommen wurden, würde es viel schwerer sein, Zurückhaltung in der Wahl der Ziele zu üben, und bedeutend schwieriger, sie wiederum einzustellen, um Hanois Absichten zu erkunden. Der häufig zu hörende Ratschlag, >Risiken für den Frieden auf sich zu nehmen<, ist nur dann vertretbar, wenn man weiß, dass die Folge eines unvorsichtig eingegangenen Risikos vermutlich eher Eskalation als Friede sein wird.
Hanoi seinerseits hatte einen besonderen Grund, auf bedingungsloser Einstellung der Bombenangriffe zu bestehen …“
Diese Verhandlungen über die „bedingungslose Einstellung der Bombenangriffe“ kommentierend, meinte Kissinger: Hanoi müsste wissen, „dass es in den Beziehungen zwischen souveränen Staaten keine >bedingungslosen< Akte gibt, schon deshalb, weil zur Souveränität das Recht gehört, veränderte Verhältnisse einseitig neu einzuschätzen“.
Es gälte zudem als Axiom, dass ein Bombenstopp fast automatisch zu einer Waffenruhe führen werde. Das Aushandeln eines Waffenstillstands könne jedoch gleichbedeutend mit der Herstellung der Vorbedingungen für eine politische Regelung sein. Ein Waffenstillstand sei mithin „nicht so sehr ein Schritt auf dem Wege zu einer endgültigen Regelung als vielmehr eine Form dieser Regelung selbst“.
Diese Auffassung vertritt heute auch der Kreml, der einen „bedingungslosen Waffenstillstand“ entschieden ablehnt, da er eine Torpedierung der Verhandlungen, massive Aufrüstung des ukrainischen Militärs und anschließend die Fortsetzung der Kriegshandlungen, kurz: eher eine „Eskalation als Friede“, befürchtet.
Am Schluss seiner Überlegungen über die bevorstehenden Verhandlungen meinte Kissinger: „Es mag paradox erscheinen, aber wo das Misstrauen so tief sitzt und die Probleme so verwickelt sind, da erzielt man Fortschritte vielleicht am ehesten dadurch, dass man sich zunächst über die Endziele zu verständigen sucht und erst dann im Detail erörtert, wie man diese Ziele erreichen kann.“4
Und genau hier besteht das Hauptproblem der Friedensgespräche zwischen Moskau und Kiew. Die Endziele der Verhandlungen sind derart diametral entgegengesetzt, dass eine Verständigung so gut wie unmöglich erscheint.
Die Kriegshandlungen und immer wieder massive Bombardements fanden ungeachtet der Friedensgespräche statt. Das letzte, als „Operation Linebacker II“ genannte strategische Bombardement erfolgte kurz vor dem Friedensabschluss und dauerte vom 18. bis zum 29. Dezember 1972, weshalb sie auch December Raids und Christmas Bombings bezeichnet wurde.
Es waren die schwersten Bombenangriffe der US Air Force seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Insgesamt 741 B-52-Einsätze wurden befohlen, 729 davon wurden ausgeführt. 15.237 Tonnen Bomben wurden abgeworfen, dazu weitere 5.000 Tonnen Bomben von Jagdbombern. 212 zusätzliche B-52-Einsätze wurden im gleichen Zeitraum zur Unterstützung von Bodenoperationen geflogen.
Das brutale Bombardement brachte dessen ungeachtet keinen nennenswerten Erfolg. Und kurz danach, am 27. Januar 1973, wurde schließlich der Pariser Friedensvertrag (Paris Peace Accords) von Nord- und Südvietnam, den Vietkong sowie den USA unterschrieben.
Wenn nun die EU-europäischen Kriegsfalken, die drei Jahre lang Krieg predigten und in dieser Zeit zu gar keinen Friedensgesprächen bereit waren und heute so tun, als hätten sie schon immer den Frieden gewollt, und jetzt auf einmal der russischen Führung vorwerfen, an Friedensverhandlungen nicht interessiert zu sein, so müssen diese „Friedensapostel“, da sie offenbar die US-Militärgeschichte nicht kennen, ihre „amerikanischen Freunde“ fragen, ob diese an Stelle der Russen ohne Wenn und Aber dem „bedingungslosen Waffenstillstand“ zugestimmt hätten.
Wie auch immer, heute verfolgt Trump offenbar die gleiche Strategie zur Beendigung des Ukrainekonflikts, wie Nixon seinerseits die Kriegsbeendigungsstrategie in Vietnam verfolgte. Die Grundzüge seiner Vietnam-Strategie enthüllte der Nixon-Ghostwriter Richard Whalen in seinem Werk „Catch the Falling Flag“ (1972).
„Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es keine Möglichkeit gibt, den Krieg zu gewinnen“, erklärte Nixon Whalen. „Aber das können wir natürlich nicht sagen. Vielmehr müssen wir das Gegenteil behaupten, um uns einen gewissen Verhandlungs-Vorsprung zu sichern.“ Wenn es keine Möglichkeit gab, den Krieg zu gewinnen, dann musste es doch eine Chance geben, den Frieden zu gewinnen.
In Nixons diplomatischen Erwägungen nahm Moskau eine zentrale Rolle ein. „Wenn die Sowjets daran interessiert sind, dass der Krieg beendet und eine Kompromisslösung ausgehandelt wird, so haben sie die Macht, Ho Chi-Minh an den Verhandlungstisch zu bringen.“ Die Sowjets sind allerdings „nicht daran interessiert, und vom Standpunkt ihres unmittelbaren Eigeninteresses ist es auch schwer einzusehen, warum sie daran interessiert sein sollten.“
Die Russen, analysierte Nixon weiter, „haben einen möglicherweise entscheidenden Einfluss auf die Dauer des Krieges und entziehen sich dennoch den normalen Risiken, wichtiger noch: der Verantwortung eines Engagements“.
Nixon war entschlossen, diesen „unfairen Zustand“ zu ändern: Die USA brachten alle Opfer, die Sowjetunion stiftete aber aus sicherer Distanz ihren Verbündeten, Nordvietnam, zu neuem Unheil an. Die sowjetische Führung musste daher überzeugt werden, dass es in ihrem eigenen Interesse liege, den Amerikanern zu einem ehrenhaften Abzug aus Indochina zu verhelfen.
Vietnam konnte der erste entscheidende Test einer Zusammenarbeit der Supermächte werden, eines „linkage“, das zum Eckpfeiler der Außenpolitik Nixons werden sollte.5 Heute scheint sich die Geschichte unter umgekehrten Vorzeichen zu wiederholen!
Anmerkungen
1. Vgl.: „Однако СМИ – только следствие более масштабного процесса, происходящего с политическими системами Старого Света. Самое важное – это переход почти всей европейской политики в форму интеллектуальной игры, совершенно оторванной от реальности „на земле“. … Однако во всех случаях общим остается одно – на Европу больше нельзя смотреть как на действующего участника мировой политики, поступки которого могут что-либо фундаментально изменить. Вопрос только в том, насколько долго может продолжаться эта игра и что станет следующим этапом падения наших старинных противников в состояние полного геополитического ничтожества?“ (Тимофей Бордачев, Европа решила поиграть в войну, 30.05.2025).
2. Bodensieck, H., Arnold J. Toynbee Analyse der internationalen Politik vom Mai 1947, in: Weltpolitik III.
1945-1953, hrsg. v. Oswald Hauser. Göttingen 1978, 212-258 (225).
3. Schmitt, C., Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932), in: des., Positionen und Begriffe-
im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939. Berlin 1988, 162- 180 (179).
4. Vgl. Kalb, M/Kalb, B., Henry Kissinger Supermacht, Der Spiegel 27 (1974).
5. Vgl. Kalb (wie Anm. 4).