EU-Außenpolitik im 21. Jahrhundert
Übersicht
1. „Intermezzo für die Menschheit“?
2. Außenideologie statt Außenpolitik?
3. Im Gehäuse der eigenen Unfehlbarkeit
Anmerkungen
„Europa, du falsche Kreatur!
Man quält sich ab mit der Kultur …
Die eine schiebt vorwärts, die andere retour,
So bleibt man stecken mit der ganzen Kultur,
Und Ärger hier, und Händel da
Und Prügel – Vivat Amerika …“
Joseph Freiherr von Eichendorff (1837)
1. „Intermezzo für die Menschheit“?
„Mr. Gandhi, what do you think of the civilization of the western world? – I think, that would be a very good idea.“ War Mohandas Gandhis Antwort ein Spott oder galt ihm die westliche Zivilisation als Vorbild für den Rest der Welt? Wie auch immer man dazu stehen mag, Indien und die außerwestliche Welt insgesamt hat sich seit Gandhis Ableben dramatisch verändert. Sie tritt heute viel selbstbewusster und selbstsicherer gegenüber dem Westen und hier insbesondere gegenüber Europa auf.
Auf der jährlichen, im Zeitraum vom 2. bis 4. Juni 2022 stattgefundenen Konferenz Globsec Bratislava Forum wurde der indische Außenminister Subrahmayam Jaishankar gefragt, warum Indien russisches Öl einkauft und damit den Krieg in der Ukraine mitfinanziert, wo doch der Westen alles tut, um gerade die Finanzierung dieses Krieges zu verhindern. Die Antwort des indischen Außenministers war aufschlussreich: „Wissen Sie“ – erwiderte er belehrend -, „Europa sollte endlich von der Einstellung Abstand nehmen: Europas Probleme seien Probleme der ganzen Welt, wohingegen die Probleme der ganzen Welt keine Probleme Europas seien. Wenn Dir ein Unglück widerfährt, dann ist es Dein Unglück; wenn aber mir ein Unglück widerfährt, sollte es dann etwa unser (gemeinsames) Unglück sein?“ „Ihre Frage“ – fügte der Inder maßregelnd hinzu – „spiegelt eben diese Geisteshaltung wider.“
Der schon seit langem anbahnende Verlust des geopolitischen, geoökonomischen und nicht zuletzt geokulturellen Einflusses Europas auf den Rest der Welt kommt in diesen Worten des Inders deutlich zum Vorschein. Auch die anderen Regionen der Welt koppeln sich zunehmend vom Westen ab. „Ein Warnzeichen für Europa“ betitelt Alexander Busch, der Südamerika-Korrespondent des Handelsblatts (7.06.22, S. 16) seinen Artikel, versehen mit dem Untertitel „Viele Staaten Lateinamerikas schauen mittlerweile nach Peking statt nach Washington“. „Die führende Weltmacht ruft zum Gipfel – und niemand kommt“, entrüstet er sich. „Wir in Europa sollten das als Warnzeichen sehen. Uns könnte es bald ähnlich ergehen. … Auch Europa wird sich auf eine wachsende Indifferenz Lateinamerikas einstellen müssen.“
Was für eine Entwicklung! „Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der globalen Machtachsen“, schreiben Sigmar Gabriel und Michael Hüther in einem Gaskommentar im Handelsblatt am 9. Juni 2022 und stellen gleich fest: „Der Atlantik ist nicht länger das einzige Gravitationszentrum, er steht nun im Wettbewerb mit dem Indo-Pazifik. Damit einher geht das Ende des europäischen Zeitalters, in dem der alte Kontinent gut 600 Jahre lang der zentrale Ausgangspunkt globaler Entwicklungen war.“
Merken die EU-Europäer erst jetzt diese dramatische geopolitische Machterosion Europas, obschon die Entwicklung sich im Grunde bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (und nicht erst jetzt) ansetzte und gut hundert Jahre alt ist. Max Scheler war einer der ersten, der diese Entwicklung geschichts- und kulturphilosophisch zu reflektieren suchte. 1927 hielt er bei der siebten Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin einen Vortrag „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs“, in dem er die Bedeutung Europas offenbar vor dem Hintergrund der beklagenswerten Folgen des Ersten Weltkrieges auf ein bloßes „Intermezzo für die Menschheit“ reduzierte, zugleich aber betonte: „Eine Krise Europas ist eben doch noch nicht schon ein Anzeichen für das Sterben der Menschheit, auch nicht für den >Untergang des Abendlandes<!“1
Ist Europa „eine sich allmählich auflösende Größe in einem geschichtsphilosophisch notwendigen globalen Entwicklungsprozess“2? Wird Europa zu einer Fußnote im geopolitischen Buch der Geschichte? Aus heutiger Sicht nahm Max Schelers Geschichtsphilosophie den „globalen Entwicklungsprozess“ in gewissem Sinne vorweg.
Europas geopolitischer Niedergang nahm seinen verhängnisvollen Anfang bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und erlebte seine Vollendung mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Innerhalb von nur dreißig Jahren wurde eine jahrhundertelange Weltherrschaft der europäischen Großmächte ausgelöscht und der geopolitische Abstieg Europas endgültig besiegelt, sodass dem holländischen Gelehrten Hendrich Brugmans nichts anderes übrigblieb, als 1955 lapidar festzustellen: „Die europäischen Nationen haben aufgehört, die Hauptrolle im Schicksal der Menschheit zu spielen.“3
Dem „europäischen Jahrhundert“4, dessen Blütezeit mit der Vorherrschaft des British Empire – „Tyrannen der Welt“ (Theodor Schiemann)5 – und dem „europäischen Imperialismus“ (1882–1914/1918) eng verbunden war, folgte „das amerikanische Jahrhundert“ als Folgewirkung zweier Weltkriege, welche den Untergang Europas mit der britischen Weltmacht an der Spitze und den Aufstieg Amerikas zur Welt- und Supermacht besiegelten.
Das British Empire verdankte seine Weltmachtstellung zwei Voraussetzungen: einer überlegenen Seemacht mit weitverzweigten strategischen Basen und der Politik des Machtgleichgewichts in Europa mit dem Ziel, jede europäische Großmacht daran zu hindern, eine dominierende Position auf dem europäischen Kontinent einzunehmen, die den Weltmachtstatus Großbritannien bedrohen könnte. All das wurde in zwei Weltkriegen zunächst erschüttert und dann zerstört.
1941 rief der einflussreiche US-amerikanische Verleger Henry Luce (1898–1967) das 20. Jahrhundert zum „amerikanischen Jahrhundert“ aus.6 Der Aufstiegsprozess, der die USA nach dem Ende des Kalten Krieges zu der einzig verbliebenen Supermacht machte, scheint heute zum Stillstand gekommen zu sein.
Wird dem US-Hegemon das gleiche Schicksal wie dem British Empire widerfahren? Oder steigen die USA immer höher auf, um die Spitze der geopolitischen Machtpyramide für immer und ewig zu erklimmen? Noch gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts konnte jedermann davon ausgehen, dass „das amerikanische Jahrhundert“ das 20. Jahrhundert bei Weitem überdauern wird.
Der ideologische Feind: Die Sowjetunion samt dem Weltkommunismus wurde besiegt; der geopolitische Feind – das Sowjetimperium – ist von der Weltbühne verschwunden. Das im Jahre 1991 klang- und geräuschlos untergegangene Sowjetsystem spielt also weder eine ideologische noch eine geopolitische Rolle. Keine andere Großmacht bedrohte mehr militärisch den US-Hegemon. Keine andere Großmacht verfügte gegen Ende des 20. Jahrhunderts über eine vergleichbare militärische und ökonomische Potenz. Keine andere Großmacht besaß nur annähernd eine vergleichbare geopolitische, geoökonomische und monetäre Vormachtstellung in der Welt wie die USA.
Kurzum: Die Amtsjahre der Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush (1993–2009) waren „eine einzigartige Phase amerikanischer Hegemonialpolitik … Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht> bezeichnet.“7
Und heute? Gut 10 Jahre nach dem Ende der Bush-Ära stellt man mit Erstaunen fest: „Das amerikanische Jahrhundert“ wird womöglich keine 100 Jahre alt werden. Datiert man seine Geburtsstunde mit dem Aufstieg der USA zur atomaren Supermacht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, so dauert dieses „Jahrhunderts“ gerade mal 77 Jahre und hat seine Blütezeit in den 1990er- und Anfang 2000er-Jahre bereits weit hinter sich gelassen.
Die außerwestliche bzw. außereuropäische Welt hat sich hingegen in den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts dramatisch verändert. Geopolitisch und geoökonomisch befindet sich der kollektive Westen und insbesondere Europa auf dem Rückzug und dieser Langfristtrend ist mit einem fulminanten Aufstieg Chinas zu einer ökonomischen Supermacht, Indiens zu einer einflussreichen und immer selbstbewusster werdenden Großmacht und Russlands militärischer Erstarkung unumkehrbar geworden.
2. Außenideologie statt Außenpolitik?
Als Friedrich August von Holstein (1837-1909) 1861 Attaché bei der deutschen Gesandtschaft in Petersburg wurde, stellte Bismarck ihn dem alten Reichskanzler Karl R. von Nesselrode (1780-1862) als einen „Diplomaten der Zukunft“ vor, worauf dieser antwortete: „In Zukunft wird es keine Diplomaten und keine Diplomatie mehr geben.“8
Es ist nicht überliefert, wie der 81jährige Reichskanzler zu einer solchen erstaunlichen und zukunftweisenden Äußerung gekommen ist. Gustav A. Sonnenhol führte sie im Nachhinein auf den „Druck der öffentlichen Meinung“ zurück, worin Nesselrode „das Ende der Diplomatie“ gesehen haben soll. Seit dem Ende des „Kalten Krieges“ ist es vielmehr die Axiologie, welche die Außenpolitik maßgeblich prägt und Diplomatie zunehmend durch Außenideologie9 substituiert.
Das Ende des Ersten Weltkrieges leitete das Zeitalter der Ideologien ein, wodurch die Außenpolitik dahingehend revolutioniert wurde, dass sie sich ideologisierte und in eine Außenideologie ausartete. Außenpolitik ist seit gut hundert Jahren zum Anhängsel des Ideologischen geworden und in ihrer Außenwirkung außenideologisch fundiert. Infolge dieser Ideologisierung hat ein nicht mehr aufhebbares ideologisches Vorverständnis in die Außenpolitik Eingang gefunden und ist derart zementiert worden, dass das national- bzw. eigenstaatliche Machtkalkül oft hinter den ideologischen Vorgaben zurücktrat, wodurch sich unser (Vor)Verständnis von der Außenpolitik grundlegend verändert hat. Der Außenpolitiker lässt sich als Außenideologe von seinen ideologischen Prämissen selbst dann leiten, wenn die ideologische Motivation seines Handelns im Widerspruch zu nationalen bzw. eigenstaatlichen Interessen steht.
Außenpolitik ist stets und zuallererst den eigenstaatlichen Interessen, nicht den universal postulierten Glaubenssätzen verpflichtet, machtpolitisch orientiert, nicht ideologisch geleitet, hat das Faktische, nicht das Dogmatische im Blick. Außenpolitik ist im Gegensatz zur Außenideologie Realpolitik.
Die Entwicklung der Außenpolitik zur Außenideologie setzt gegen Ende des Ersten Weltkrieges ein. Außenideologie hat mit der von eigenstaatlichen Intentionen abgeleiteten Außenpolitik nichts zu tun. Von der Entstehung des modernen (National)Staates begleitet, der durch die Territorialität, das stehende Heer, seine Bürokratisierung und durch die weltanschaulich-religiöse Homogenisierung der ihm unterworfenen Bevölkerung charakterisiert ist, lag der Außenpolitik das Grundprinzip „cuius regio, eius religio“ zugrunde, welches die Nichteinmischung eines Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates konstituierte.
Der Erste Weltkrieg hat dieses beinahe dreihundert Jahre (1648-1917/8) geltende Grundprinzip der Außenpolitik der zwischenstaatlichen Beziehungen zerstört. An dessen Stelle trat ein neues, eben außenideologisches Grundprinzip, welches die Außenpolitik von Grund aus revolutionierte und in dessen Gefolge außenideologisierte.
Wenn es noch eines weiteren Beweises für die nicht mehr neue Erkenntnis bedürfte, dass die Außenideologie dazu missbraucht wird, geopolitische und geoökonomische Ziele zu erreichen, so ist dieser Beweis mit dem seit Jahren ununterbrochen tobenden Informationskrieg zwischen dem Westen, China und Russland – neuerdings auch Kriegspropaganda zwischen Russland und dem Westen – längst erbracht worden.
Hat man zurzeit des „Kalten Krieges“ das Nationale durch das Ideologische überlagert und das Geopolitische ideologisch getarnt, so versucht man heute im Zeitalter der (noch) bestehenden US-amerikanischen Hegemonialordnung mittels des axiologisch geführten Informationskrieges die geopolitische und geoökonomische Zielsetzung der europäischen und der US-amerikanischen Außen- und Weltpolitik zu verschleiern. Insbesondere die europäische Russland- und Chinapolitik wird heute überwiegend außenideologisch konzipiert und von Außenideologen domestiziert. Außenideologie ist hier verstanden als eine Ideologie der westlichen Axiologie, mit deren Hilfe ein permanenter Druck auf die außerwestliche Welt zwecks Homogenisierung und Unifizierung der unterschiedlichen Rechts-, Verfassungs- und Lebenskulturen ausgeübt wird, um geopolitische und geoökonomische Machtinteressen durchzusetzen.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums (1991) glaubte man naiverweise einen einheitlichen Weltmarkt und ein einheitliches Weltsystem schaffen zu können. Weit gefehlt! Zwar hat die kommunistische Internationale endgültig und unwiderruflich die Weltbühne der Geschichte verlassen und nur die einzige „Internationale“ – die westliche Weltordnung mit ihrem Glauben an das „Ende der Geschichte“ und die kommende, von der westlichen Axiologie dominierte „heile Welt“ – übriggeblieben. Der Westen hat aber seine (axiologische) Rechnung ohne einen (nationalen) Wirt gemacht. Denn die Schaffung eines einheitlichen Weltmarktes bzw. einer globalisierten Weltwirtschaftsordnung führte nicht automatisch – wie man heute weiß und eigentlich von Anfang an wissen sollte – zum einheitlichen Weltsystem unter Vorherrschaft des Westens, weil die ideologische Überwindung der Systemkonfrontation weder zur Beseitigung der rechts- und verfassungshistorischen Tradition noch zur Überwindung der geopolitischen Rivalität geführt hat. Die enttäuschte, aber zu keiner Zeit realistisch bestehende westliche Hoffnung auf die ewige Weltdominanz haben Russland und China in Frage gestellt und den Westen in Anbetracht der militärischen Erstarkung Russlands und des ökonomischen Aufstiegs Chinas noch aggressiver gemacht und gegen die vermeintlichen ideologischen Rivalen in Stellung gebracht.
Diese Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre erschwert umso mehr die Großmächterivalität, als der Westen seinem geopolitischen Selbstverständnis nach – um Marx/Engels zu paraphrasieren – „nur weltgeschichtlich existieren“ bzw. „nur als >weltgeschichtliche< Existenz überhaupt vorhanden sein kann“ und darum den Ausschließlichkeitsanspruch auf seine axiologische Weltdominanz erhebt. Damit wiederholt der Westen den gleichen Fehler des Bolschewismus, das Nationalbewusstsein und die ihm innewohnende nationale Eigenart und Eigengesetzlichkeit überwinden zu wollen und es dadurch universalisieren zu können. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetstaates findet eine Art Neobolschewisierung der westlichen Axiologie statt.
Der Einbruch der Ideologie(n) in das Machtstaatsdenken des 19. Jahrhunderts hat die Außenpolitik nach dem Ende des Ersten Weltkrieges derart ideologisiert, dass sie bis heute nicht daran denkt, sich zu entideologisieren.
Zwar gehört die Sowjetideologie samt dem Weltkommunismus nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems der Vergangenheit an. Die Außenideologie der westlichen Axiologie bleibt aber dessen ungeachtet voll intakt. Ursprünglich von Wilsons Amerika repräsentiert, als Reaktion auf den europäischen Imperialismus der Jahrhundertwende entstanden und als Überwindung der Machtstaatspolitik der europäischen Großmächte gedacht, entwickelte die amerikanische Außenpolitik ihrerseits – von einem „genuinen Antiimperialismus in imperialistische Praxis“ umgeschlagen – eine Außenideologie des „>humanitären< Imperialismus“ (Theodor Schieder). Mehr noch: Sie ist heute zur Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten geworden, mit dem Anspruch, den modernen Zeitgeist für immer und ewig repräsentieren und determinieren zu wollen.
Man könnte darum nicht nur vom westlichen Neobolschewismus, sondern auch von der westlichen „Revolution in Permanenz“ sprechen. Die universalideologische Ausrichtung der westlichen und insbesondere europäischen Außenpolitik hat solche hypermoralisierenden Züge angenommen, dass sie sich in ihrer Hypermoralität der eigenen unendlichen Intoleranz gar nicht bewusst ist. Alles andere, was diesem „universalen Zeitgeist“ widerspricht, ist „moralisch“ verwerflich und darum im höchsten Maße verderblich. In dieser „Moralhypertrophie“ (Arnold Gehlen) spiegelt sich der Übermut des Westens, der sich anmaßt, dem Rest der Welt vorzuschreiben, wie und warum dieser sich so zu verhalten hat, wie die westliche „universale“ Hypermoral ihm vorschreibt. Die geopolitische und geoökonomische Zielsetzung dieser westlichen Selbstermächtigung zur Hypermoral, sollte diese tatsächlich die Oberhand gewinnen, ist so offenkundig, dass es keiner weiteren Erörterung bedarf.
Die Außenideologie der westlichen Axiologie treibt die Welt, die letzte Zeit stets an der Grenze zwischen Krieg und Frieden balanciert und der die Kontrolle darüber zu entgleiten droht, in eine geopolitische und geoökonomische Sackgasse. Dass sich die Menschenmassen und Massenmenschen bis jetzt zu ihrem Glück gar nicht darüber im Klaren sind, was sich in der Außenwelt abspielt, erklärt sich damit, dass die Außenpolitik heute immer noch ein Arkanwissen ist und die Domäne der sog. Experten und Diplomaten bleibt. Allerdings müssen sich die Außenideologen dessen bewusst sein, dass ihre axiologische „Waffe“ heute genauso, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, stumpf sein und sich nur als die „Ohnmacht der Allmacht“ (Gaddis10) herausstellen könnte. Diese Erfahrung musste bereits der US-Außenminister John F. Byrnes (1945-1947) machen, als er versuchte, die US-amerikanische
Osteuropapolitik im Sinne des amerikanischen „One-World“-Traums durchzusetzen. Er scheiterte anschließend kläglich am knallharten Widerstand der Sowjets trotz der damaligen atomaren und wirtschaftlichen Überlegenheit der USA, weil „eine wirtschaftlich-technologische Überlegenheit“ – wie Wilfried Loth11zutreffend anmerkte – eben „nicht Allmacht bedeutete“.
Die Außenideologen werden aber schon jetzt zunehmend nervös und infolge der um sich greifenden Ungewissheit über die Zukunft der westlichen Vormachtstellung in der Welt selbst verunsichert. Sie fischen zwar geopolitisch weiterhin im Trüben, ohne aber greifbare Ergebnisse vorweisen zu können. Der chinesische Gelehrter und Diplomat Hu Shih (1891-1962) hat einmal gesagt: „Es ist leicht für China, die Zivilisation des Westens zu übernehmen, aber es ist sehr schwer, ihr Barbarentum zu meistern“, worunter er „die militärische Seite der europäischen Kultur, ihren kriegerischen Geist“12 verstanden hat.
Außenideologie der westlichen Axiologie führt dazu, dass die Außenpolitik auf der Strecke bleibt, weil die geopolitische Kluft zwischen Werten und Interessen, Menschenrechten und Machtinteressen, Messianismus und Opportunismus, Diktat und Dialog unüberbrückbar bleibt. Der Westen befindet sich in einer geopolitischen Sackgasse, wodurch die Großmächterivalität Gefahr läuft, endgültig in einen globalen Krieg auszuarten.
3. Im Gehäuse der eigenen Unfehlbarkeit
Einer außenideologisch sanktionierten Außenpolitik ist die Logik der Glaubenskrieger immanent. Diese ist aber in ihrem Selbstverständnis unfehlbar und neigt zur Konfrontation und unkontrollierten Eskalation, die so einen globalen Konflikt heraufbeschwören kann und auch heraufbeschwört. Weil sich keine der geopolitischen Rivalen einen globalen Krieg wünscht, täuschen sie sich darüber, dass es dazu gar nicht kommen wird.
Niemand vermag heute zu sagen, was kommt und wie eine unkontrollierte Eskalation enden kann. Zu den entscheidenden Kennzeichen eines jeden Konflikts welthistorischen Ausmaßes gehört immer der Faktor der Beschleunigung: „Der Weltproceß geräth“ – belehrt uns Jacob Burckhardt – „plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein“.13
Und genau dieser beschleunigte „Weltproceß“ beobachten wir heute in Kriegszeiten, begleitet von einer beschleunigten Eskalation. Dazu kommt ein weiteres schwerwiegendes Problem: Indem Europa Russland in Zeiten des Ukrainekrieges als die Inkarnation des Bösen stigmatisiert, hält es sich für verpflichtet, die Ukraine gegen Russland bedingungslos zu unterstützen, dem „Bösen“ eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, seine Wirtschaft zu „ruinieren“ und natürlich militärisch zu schwächen, damit es bloß nie mehr wagt, „unsere“ europäische Sicherheits- und Friedensordnung zu gefährden.
Im Gefühl „die“ absolute Wahrheit zu besitzen und im selbstgefälligen Glauben an die eigene geoökonomische „Allmacht“ maßen sich die EU-Europäer an, Russland – einer nuklearen Supermacht – eine Lehre erteilen zu können. Offenbar hat Europa nicht nur seine eigene grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts vergessen, sondern glaubt auch vollen Ernstes – immer noch vom „Sieg“ im „Kalten Krieg“ euphorisiert -, diese historische Erfahrung wiederholen zu können, ohne zu merken, dass es sich auf einem verminten Terrain befindet, das sich jederzeit explodieren kann.
Wir leben heute in einem neuen geopolitischen Machtumfeld, indem die geopolitischen Machtinteressen und nicht die universalen Werte dominieren. Die EU-Europäer geben sich dessen ungeachtet immer noch dem Traum von universell geltenden Werten hin und werden dadurch nur noch Gefangene ihres ideologisch bedingten und geopolitisch entrückten Eskapismus. Indem sie die Außenpolitik durch die Außenideologie substituieren, folgen sie einer geopolitischen Logik, die sich aus den Denkmustern entwickelt, die ihrem eigenen kulturellen Selbstverständnis entnommen sind, die aber nicht ohne weiteres auf die außerwestlichen Kultur- und Machträume übertragbar sind. Es ist darum eine gefährliche, ja friedensgefährdende Illusion zu glauben, die Außenideologie könne sich – losgelöst von ihrer eigenen kulturellen Umwelt und ausgerüstet mit dem eigenen Wertekanon – außerhalb ihres Kulturkreises „erfolgreich“ etablieren und gedeihen.
Die kulturelle Grenze ignorierende und alle völkerrechtlichen Grenzen sprengende Außenideologie macht nicht nur das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten, indem sie den historisch gewachsenen, faktisch existierenden Wertpluralismus negiert, sondern heizt auch die Spannungen auf und eskaliert die geopolitische Großmächterivalität. Die Supermächte des „Kalten Krieges“ folgten „einem einfachen Gesetz der prä-atomaren Epoche, das der diplomatischen Tradition entsprach: nicht dort angreifen, wo der andere – der einzige Rivale, der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht. Die amerikanische Diplomatie oder Strategie gehorcht(e) ebenfalls diesem Gesetz.“14
Heute sieht es so aus, als würde ein „vitales Interesse“ eines geopolitischen Rivalen keine Rolle mehr spielen, obschon das atomare Zeitalter mit dem Ende des „Kalten Krieges“ keineswegs das Zeitliche gesegnet hat. Wohin soll das überhaupt führen? Die vergangenen dreißig Jahre waren für die EU- Europäer eine Zeit der Euphorie und des größten Optimismus als Folge des „Sieges“ über den Sowjetkommunismus im „Kalten Krieg“ und des Zerfalls des Sowjetimperiums. Der wachsende Glaube an die eigene europäische Zivilisation, sozialstaatlichen Errungenschaften und ökonomische Prosperität blendeten insbesondere in den vergangenen zehn Jahren die geopolitische Ohnmacht Europas und seinen immer deutlich werdenden geoökonomischen Machtverlust.
Je länger die EU-Europäer von Friedensdividenden profitierten und es sich im Wohlstand bequem machten, umso realitätsentrückter, indoktrinierter und selbstgefälliger wurden sie. Im Glauben, das einzig wahre Gesellschaftsmodell entwickelt zu haben, waren sie bestrebt, es außenideologisch missionieren zu können, um die ganze Menschheit damit beglücken zu wollen. Sie merkten nur nicht, dass der Rest der Welt nicht beglückt werden möchte. Ganz im Gegenteil: Die außerwestliche Welt wollte weiterhin ihr eigenes kulturelles Selbstverständnis leben und hegen.
Die Außenideologie ist keine Außenpolitik, sondern eine Obsession. Sie duldet neben sich weder ein geopolitisches Vakuum noch die anderen Wertbezüge und sucht diese zu entwerten bzw. umzuwerten. Wer aber die Werte der anderen entwertet, sie für wertlos erklärt und als „Unwerte“ postuliert, stößt auf entschiedenen Widerstand und zeigt sich dabei unfähig, die anderen auf friedlichem Wege domestizieren zu können. Im Eifer des Gefechts führt eine solche Beglückungsmission zu einer „Weltgewaltordnung“15, die ihre Wertvorstellungen gewaltsam durchzusetzen sucht. Die Folge ist die Entstehung neuer Spannungen, neuer Mächtekonstellationen und neuer Teilung der Welt in rivalisierende Machtblöcke.
Im Zeitalter der axiologischen Selbstverblendung der EU-Europäer und des Versuchs einer weitgehenden Nivellierung des Wertpluralismus durch den Westen müssen wir aufpassen, dass an Stelle der bestehenden hegemonialen Dysbalance in Europa eine posthegemoniale Dysbalance16 treten wird. Vor dem Hintergrund der Rückkehr der Großmächterivalität auf die Weltbühne der Geschichte ist eine solche Entwicklung mehr als bedenklich. Sie wird unweigerlich dazu führen, dass das europäische Staatensystem erodieren wird, an dessen Stelle ein system- und strukturloses Chaos tritt und Europa geopolitisch und geoökonomisch endgültig bedeutungslos wird.
Anmerkungen
1. Scheler, M., Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs (1927), in: ders., Philosophische Weltanschauung. 3. Aufl. Bern und München 1968, 89-118 (94); dazu Henckmann, W., Schelers Idee von Europa im „Weltalter des Ausgleichs“, in: Zeitschrift für Politik 44 (1997), 129-148.
2. Henckmann (wie Anm. 1), 130.
3. Brugmans, H., Die Mission Europas in der heutigen Weltsituation, in: Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955, hrsg. u. eingl. v. Martin Göhring. Wiesbaden 1956, 313-322 (313).
4. Lüthy, H., Das europäische Jahrhundert, in: ders., In Gegenwart der Geschichte (wie Anm. 23), 245-264.
5. Zitiert nach Konrad Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902. Berlin 1997, 228.
6. Vgl. Berg, M., Vorwort, in: ders. u. a. (Hrsg.), Macht und Moral. Festschrift f. Knud Krakau zum 65. Geburtstag. Münster 1999, 11.
7. Reinhard, W., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J. u. a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War. Baden-Baden 2012, 11; Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino- amerikanischen Rivalität. Baden-Baden 2017, 29.
8. Zitiert nach Sonnenhol, G. A., Diplomatie ohne Außenpolitik in einer unregierbaren Welt, in: Kaltenbrunner, G.-K. (Hrsg.), Wozu Diplomatie? Außenpolitik in einer zerstrittenen Welt. München 1987, 76-95 (78).
9. Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik. 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
10. Gaddis, The United States and the Origins; zitiert nach Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980.
11. Loth, W., Die Teilung der Welt, Geschichte des Kalten Krieges. München 1980, 109 FN 20.
12. Zitiert nach Oskar P. Trautmann, Die Sängerbrücke. Gedanken zur russischen Außenpolitik von 1870-1914. Stuttgart 1941, 133.
13. Zitiert nach Leonhard, J., Krise und Transformation: Die Dekolonisation Frankreichs und Großbritanniens und der Wandel der transatlantischen Konstellation, in: Rausch, H. (Hrsg.), Transatlantischer Kulturtransfer im „Kalten Krieg“. Perspektiven für eine historisch vergleichende Transferforschung. Leipzig 2007, 58-88 (59).
14. Aron, R., Zur Entwicklung des strategischen Denkens (1945-1968), in: ders., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 341-374 (350).
15. Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
16. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.