Verlag OntoPrax Berlin

„Wertewechsel“ statt „Regimewechsel“?

Tony Blair und die US-Interventionspolitik

Übersicht

1. Axiologische Verklärung der Gewalt
2. Gewalt erzeugt Gewalt

Anmerkungen

„The banner was not actually >regime change<; it was >values change<.“
(Tony Blair, 2007)

1. Axiologische Verklärung der Gewalt

Mit seinem am 1. Januar 2007 in Foreign Affairs erschienenen Artikel „A Battle for Global Values“ (Ein Kampf um globale Werte) rechtfertigte der britische Premier Tony Blair (1997-2007) die Teilnahme Großbritanniens an den US-amerikanischen Interventionen in Afghanistan und im Irak mit Verweis auf die Verteidigung von „globalen Werten“ (global values).

Dass Blair es nötig hatte, sich beinahe vier bzw. sechs Jahre nach dem Kriegsausbruch in Afghanistan und im Irak mit einem umfangreichen Beitrag in einer Zeitschrift zu rechtfertigen, zeigt, unter welchem Rechtfertigungsdruck er die ganze Zeit stand und wie tief die britische Gesellschaft über die Kriegsbeteiligungen gespaltet war.

Die beiden Interventionen waren in der britischen Gesellschaft höchst umstritten und stießen auf einen heftigen Widerstand. „Als Tony Blair in der letzten Fragestunde des Premierministers vor den Osterferien ans Rednerpult des Unterhauses trat, kochten – ganz unenglisch – die Emotionen hoch. >Kriegsverbrecher! Stellt ihn vor Gericht<, brüllte ein Mann von der Zuschauergalerie. Blass und sichtlich angestrengt verteidigte Blair die überraschende, auf amerikanischen Wunsch erfolgte Entsendung von 1700 britischen Soldaten in die afghanischen Berge. Als die Abgeordneten wenig später – in der ersten Sondersitzung seit neun Jahren – die Risiken der Afghanistan-Mission und einen möglichen Angriff auf den Irak diskutierten, war der angeschlagene Premier schon wieder weg,“ berichtete Der Spiegel am 29. März 2002.

Dass die US-Interventionen ausgerechnet Anfang des neuen 21. Jahrhunderts stattgefunden haben, lag nicht allein am 9/11. Sie fielen mit der Blütezeit der unipolaren Weltordnung zusammen, in der die Führer der von George H. W. Bush 1990 ausgerufenen „New World Order“ – Bill Clinton und George W. Bush – glaubten, die ganze Welt nach eigenem Gusto domestizieren zu können.

Die Amtsjahre des Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush (1993-2009) waren „eine einzigartige Phase amerikanischer Hegemonialpolitik . . . Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht< bezeichnet.“1

Im Schlepptau dieser „Hypermacht“ sah der engste Verbündete des „neuen Rom“, der Brite Tony Blair, den Der Spiegel 2002 abschätzig als „Bushs Pudel“ denunzierte und dessen „Vasallentreue zu Washington“ stigmatisierte, offenbar keine andere Wahl, als sich der US-Kriegspolitik bedingungslos anzuschließen, versuchte aber gleichzeitig seine Kriegsbefürwortung axiologisch zu verklären:

Als Reaktion auf die Anschläge vom 9/11 reiche es nicht aus, die „fanatische Ideologie“ (a fanatical ideology) der Terroristen allein auf dem Schlachtfeld zu bekämpfen, indem wir ihre Führer einsperren oder töten. Wir müssen ihre Ideen besiegen.

Wir würden den Kampf gegen „den globalen Extremismus“ (global extremism) nicht gewinnen, wenn wir ihn nicht genauso axiologisch wie mit Gewalt bekämpfen. Wir können nur gewinnen, wenn wir zeigen, dass unsere Werte stärker, besser und gerechter seien als ihre Alternative. Das bedeutet aber gleichzeitig der Welt zu zeigen, dass wir bei der Anwendung dieser Werte unvoreingenommen und fair seien.

Dies sei kein Kampf zwischen den Zivilisationen, sondern ein Kampf um die Zivilisation. Es sei der uralte Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen jenen, die die moderne Welt begrüßen und jenen, die ihre Existenz ablehnen, zwischen Optimismus und Hoffnung auf der einen Seite und Pessimismus und Angst auf der anderen.

Im Zeitalter der Globalisierung werde der Ausgang dieses Konflikts zwischen Extremismus und Fortschritt unsere Zukunft bestimmen. Wir können uns diesem Kampf ebenso wenig entziehen wie dem Klimawandel. Die Verantwortung allein auf die Vereinigten Staaten abzuwälzen oder uns einzureden, dass dieser Terrorismus lediglich eine Reihe einzelner isolierter Vorfälle und keine globale Bewegung sei, wäre zutiefst und grundlegend falsch.

Deshalb ist es ein Fehler, die Bedeutung der Wahlen im Irak und in Afghanistan zu ignorieren. Tatsache ist, dass die Menschen Demokratie wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Von dem Moment an, als die Afghanen ihre ersten Wahlen abhielten, wurde der Mythos zerstört, dass Demokratie ein westliches Konzept sei. Auch im Irak gingen die Menschen trotz Gewalt und Einschüchterung wählen, und zwar in einer so großen Zahl, dass sie viele westliche Demokratien in den Schatten stellten.

Diese hochtrabende Rhetorik klang schon damals und klingt erst recht heute gut zwanzig Jahre nach dem Scheitern der US-Interventionen in Afghanistan und im Irak ziemlich hohl. Ein Demokratieexport mittels Gewalt hat sich als probates Mittel für noch mehr Gewalt und Terror erwiesen.

Und so konnte der ehem. Neocon, Max Boot, den die World Affairs Councils of America 2004 zu einem der „500 einflussreichsten Personen in den USA im Bereich der Außenpolitik“ ernannte – zu jener Zeit also, als die Neocon-Bewegung ihre größten Erfolge feierte, zwanzig Jahre nach dem Kriegsausbruch im Irak in seinem Aufsatz „What the Neocons Got Wrong“ (Foreign Affairs, 10. März 2023) desillusioniert feststellen: Der Irakkrieg habe ihn gelehrt, dass die amerikanische Hegemonie ihre Grenzen habe.

Freimutig gestand er nunmehr ein: Die „Regime change“-Politik habe in Afghanistan und im Irak versagt und ein regelrechtes „Fiasko“ erlitten. Dieses Erlebnis des Scheiterns führte ihn zu einem Gesinnungswandel. Zwar sei er nach wie vor „ein Befürworter von Demokratie und Menschenrechten“ (a supporter of democracy and human rights). Nachdem er aber gesehen habe, wie die „Demokratieförderung“ (democracy promotion) in der Praxis funktioniere, dürfe sie nicht mehr im Zentrum der US-Außenpolitik stehen.2

Im Gegensatz zu Max Boot des Jahres 2023 war Tony Blair 2007 noch nicht soweit. Er bestritt vehement, dass es sich überhaupt um eine „Regime change“-Politik in Afghanistan und im Irak handelte. Ganz im Gegenteil, Blair beteuerte allen Ernstes: Der entscheidende Punkt bei den Interventionen war, dass es nicht so sehr um einen Regimewechsel als vielmehr um einen Wandel des Wertesystems ging. Das Motto lautete nicht „Regimewechsel“, sondern „Wertewechsel“ (vgl.: The crucial point about these interventions is that they were not just about changing regimes but about changing the value systems governing the nations concerned. The banner was not actually „regime change“; it was „values change“).

Den Unterschied zwischen „regime change“ und „values change“ hat er freilich nicht erklären können.

Im Gegensatz zu Blair, der die Invasion im Irak axiologisch rechtfertigte und die Gewalt sozusagen werthaltig machte, bildeten seine kontinentaleuropäischen Kollegen, Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac (1995-2007) und der Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005), die sog. „Achse des Guten“ (August Pradetto)3, die sich vehement gegen den Krieg im Irak aussprachen. Sie argumentierten dabei völkerrechtlich und nicht axiologisch.

Blairs axiologische Verklärung der Gewalt führte letztlich zu dem, was wir heute tagtäglich erleben: die nicht enden wollenden Kriege und Krisen, die vor unseren Augen stattfinden und jederzeit überall neu aufflammen können.

2. Gewalt erzeugt Gewalt

Dreiundzwanzig Jahre nach dem 9/11 und ein Vierteljahrhundert nach dem Kosovo-Krieg müssen wir konstatieren: Die Welt ist weder sicherer und demokratischer noch Amerika stärker geworden. Man kann offenbar den bellizistischen Geist der US-Interventionspolitik nicht ohne Weiteres zurück in die „Büchse der Pandora“ zwingen.

Aus diesem bellizistischen Teufelskreis kommen die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen nicht mehr raus. Sie bleiben die Gefangenen ihrer „heilen Welt“ von Demokratie und Menschenrechten, wobei der Rest der Welt sich mittlerweile mit Gegengewalt gegen den axiologisch verklärten westlichen „militanten Humanismus“ (Noam Chomsky)4 wehrt.

Diese axiologische Militanz setzt sich bis heute unvermindert fort und die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Krieg und Vernichtung (noch) verschonte „heile Welt“ des Westens wird weiterhin mit Chaos, Verwüstung, Verelendung und Zerstörung der außerwestlichen Welt erkauft. Wie lange noch?

Die geschundene Außenwelt wird die westliche Welt nicht in Ruhe lassen und wie ein Bumerang rachedurstig immer wieder und immer öfter mit Attentaten, Terror und Zerstörung in den Westen zurückkommen, um dessen „heile Welt“ auch leidend sehen zu wollen.

Je elender das Innenleben der Außenwelt wird, umso strahlender erscheint der westliche Stern am geopolitischen Himmel, umso höher ist die Anziehungskraft des Westens, umso mehr strömen alle Geschundenen dieser Erde in das „gelobte Land“, um von den „westlichen Werten“ nicht nur zu hören, sondern diese auch hautnah miterleben zu dürfen, und umso „prominenter“ wird weiterhin die Rolle des Westens „im Gewaltgeschehen der Gegenwart“5 sein, bis auch er vom Krieg überzogen wird.

Das ist nur die Frage der Zeit! Blair stand freilich nicht allein auf weiter Flur mit seiner axiologischen Verklärung der Gewalt. Das war eine weitverbreitete Stimmung der Zeit, die bis heute fortlebt und gar nicht daran denkt, die Weite zu suchen.

Zwei Tage nach dem Kriegsausbruch im Irak veröffentlichte der Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007) in NZZ am 22. März 2003 einen Beitrag unter der Überschrift „Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“ und löste damit eine heftige Debatte aus.

Indem er den Krieg als die „Hoch-Zeit der Moral“ hochpreiste und damit Moral als eine modale Form der Gewalt – sozusagen als Gewaltmoral – apostrophierte, lehnte er gleichzeitig eine andere „gesteigerte Moral“ als Ausfluss des „Gebots der Gewaltlosigkeit“ ab, weil diese nur im Zustand einer der „höheren Kultur“ zugeordneten „gewaltfreien Gesellschaft“ existieren kann.

Damit unterschied Hondrich zwei völlig verschiedenen Arten von Moral: Die eine beruht auf einem illusionären, weil weltfremden „Gebot der Gewaltlosigkeit“ und die andere, realitätsnahe und unbedingt zu bejahende Moral ist ein untrennbarer Bestandteil unserer „Gewaltordnung“. Denn „je höher und schneller sich die Gesellschaft entwickelt und je weiter sie sich als Weltgesellschaft dehnt, desto verletzlicher werden die Menschen und ihre Kulturen, desto durchsetzungseifriger, desto konfliktreicher, kurz: desto gewaltträchtiger.“

Nur die USA können als die hegemoniale „Ordnungsmacht“ – schlussfolgert Hondrich – mittels der sich selbstlegitimierenden „Moral“ die immer größer werdende „Weltgesellschaft“ befrieden und sie von einer „illegitimen“, sprich: wertfremden Gewalt freihalten. Zwar haben die USA kein „Weltgewaltmonopol“, „wohl aber führen sie, in Gestalt der NATO, ein Weltgewaltkartell an,“ welches auch die axiologischen Spielregeln der Weltordnung zu bestimmen hat.

Auf diesem „moralischen“ Fundament beruht die ganze axiologische Legitimation der Gewaltanwendung einer vom US-Hegemonen geführten unipolaren Weltordnung. Getreu diesen sich selbst legitimierenden „globalen Werte“ (global values) konnte auch Blair am Ende seiner Ausführungen verkünden:

„Dies ist ein Kampf um Werte und Fortschritt und deshalb muss er gewonnen werden. … Wir müssen zeigen, dass unsere Werte nicht westlicher und schon gar nicht amerikanischer oder angelsächsischer Natur sind, sondern Werte, die der ganzen Menschheit zustehen – universelle Werte, auf die jeder Weltbürger ein Recht haben sollte. …

Globalisierung führt zu einer gegenseitigen Abhängigkeit und diese gegenseitige Abhängigkeit führt dazu, dass ein gemeinsames Wertesystem unabdingbar ist, damit sie funktioniert. So wird Idealismus zu Realpolitik. … Deshalb sage ich, dass es in diesem Kampf um Werte geht. Unsere Werte sind unser Leitfaden. Sie repräsentieren den Fortschritt der Menschheit im Laufe der Zeit. Zu jedem Zeitpunkt mussten wir für sie kämpfen und sie verteidigen. Da ein neues Zeitalter anbricht, ist es an der Zeit, erneut für sie zu kämpfen.“

Dieses verwegene Pathos ist letztlich zum Verhängnis der US-Interventionspolitik geworden, die das ganze US-Hegemonialgebäude mittel- bis langfristig ins Schwanken bringen und statt eines langandauernden Weltfriedens noch mehr Gewalt und noch mehr Kriege und Krisen produzieren wird.

Anmerkungen

1. Reinhard, W., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als
Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J., u.a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War.
Baden-Baden 2012, 11; Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen
Rivalität. Baden-Baden 2017, 29.
2. Vgl. Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der „dangerous naiveté“ in der US-Außenpolitik.
21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Pradetto, A., Die Achse des Guten, in: Internationale Politik, 20.06.2006. Näheres dazu Silnizki, M.,
„Die Achse des Guten“. Ein historisches Missverständnis? 19. Mai 2024, www.ontopraxiologie.de.
4. Chomsky, N., The New Military Humanism. Lessons from Kosovo. London 1999.
5. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: International Kontexte der
Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Schattenseiten des Demokratischen
Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).

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