Cheney, Trump und die Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns
Übersicht
1. Dick Cheney als Trumps Vorläufer und Ideengeber?
2. Die Theorie der einheitliche Exekutive und der Demokratiebegriff
3. Der „Nixon-Schock“ und Trumps Amerika
Anmerkungen
„In our nation’s 246-year history, there has never been an individual
who is a greater threat to our republic than Donald Trump.“
(In der 246-jährigen Geschichte unserer Nation gab es noch nie eine Person,
die eine größere Bedrohung für unsere Republik als Donald Trump war.)
(Dick Cheney, 2022)
1. Dick Cheney als Trumps Vorläufer und Ideengeber?
In einem US-amerikanischen Actionfilm „Stirb langsam“ (1988) sagte ein CIA-Agent einem Journalisten: „Wir sind Amerikaner, wir sind eine Nation ohne Erinnerung. Wir haben ein kurzes Gedächtnis. Und das, wissen Sie, hilft uns. Es gibt uns die Möglichkeit, mit unserem Leben weiterzumachen.“ Daraufhin entgegnet der Journalist: Wenn die Amerikaner einen ähnlichen Verlust wie den von 20 Millionen Menschen erlebt hätten, hätten sie auch ein „langes Gedächtnis“.
Dieser Dialog aus einem US-Thriller zeigt den unterschiedlichen Stellenwert der historischen Erfahrung mit Krieg und Vertreibung. Er zeigt, dass die Geschichte der US-amerikanischen Nation im Gegensatz zu vielen anderen Nationen nicht jene Verheerungen des Krieges wie Völkermord, Massenmord, Vertreibung und Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ in eigenem Land und auf eigenem Territorium erlebt hat, um ein langes historisches Gedächtnis zu haben.
Die Verwüstungen und Verheerungen des Krieges kennt die US-Geschichte nicht im Gegensatz zu Europa und insbesondere Russland und Deutschland. Die schwere Last der Vergangenheit liegt darum nicht auf US-Schultern und sie sind viel zu schnell bereit, sich in ein Kriegsabenteuer zu stürzen.
Am Beispiel des Irakkrieges wird deutlich, mit welcher Unbekümmertheit und welchem Leichtsinn die Bush-Administration 2003 die USA und die Welt in den Krieg gestürzt hat. Es ist ein großes Verdienst von Max Boot ein politisches Leben von Dick Cheney (ehem. Verteidigungsminister (1989-1993) unter George Bush Senior und Vizepräsident (2001-2009) unter George W. Bush Junior) anlässlich seines Todes am 3. November 2025 Revue passieren zu lassen, indem er im gleichen Atemzug eindrucksvoll die US-Außenpolitik der vergangenen fünfzig Jahre skizzierte.
Als ehem. Neocon, der vor gut zweieinhalb Jahren vom Saulus zum Paulus wurde und selbstkritisch mit dem Irakkrieg ins Gericht ging1, macht Boot erneut mit seiner am 5. November 2025 in Foreign Affairs veröffentlichten kenntnis- und lehrreichen Studie „The Cheney Effect“ auf sich aufmerksam.
Gleich im Untertitel formuliert er die Kernthese seiner Veröffentlichung: „How Dick Cheney Became the Accidental Architect of Trump’s Power“ (Wie Dick Cheney zum beiläufigen Architekten von Trumps Macht wurde). Mit seiner „manischen“ Politik der „einheitlichen Exekutive“ (unitary executive), die „Macht des Präsidenten auszuweiten“, war Dick Cheney der Vorläufer und Ideengeber für Trumps exzessive Machtausübung, formuliert Boot seine Hypothese und meint anschließend:
Cheney trug dazu bei, nicht nur den Weg für Trumps Aufstieg zu ebnen, sondern auch für Trumps beispiellose Ausübung der Exekutivgewalt. „Es war (zwar) nicht das, was Cheney beabsichtigt hat, es ist aber das, was passiert ist“ (It was not what Cheney intended, but it is what happened).
Als „der mächtigste Vizepräsident der US-Geschichte“ (the most powerful vice president in history) wollte Cheney Amerikas Rückkehr zur „imperialen Präsidentschaft“ (imperial presidency), die bis zu Nixons Rücktritt vorherrschte. Bereits in den 1970er-Jahren beklagte Cheney die Bemühungen des Kongresses die „imperiale Präsidentschaft“ wegen den Folgen des Vietnamkrieges und des Watergate-Skandals zu zügeln.
Als US-Vizepräsident hat er seine Politik der „einheitlichen Exekutive“ derart radikal vorangetrieben, was selbst seine ehem. Kollegen aus der Ford- und Bush-Administrationen „schockierte“, schreibt Boot. Im US-amerikanischen Verfassungsrecht gründet die Theorie der einheitlichen Exekutive auf der Auffassung, dass der US-Präsident die alleinige Autorität über die Exekutive besitzt.
Cheney hat sich nach Beobachtungen seiner Parteifreunde durch 9/11 radikalisiert. Und selbst Bush Senior meinte: Er sei unnachgiebig, „ausgesprochen kompromisslos und ein ganz anderer Dick Cheney geworden als der, den ich kannte und mit dem ich zusammenarbeitete“, berichtet Boot.
Unbeirrt und beharrlich verfolgte er die Politik der „einheitlichen Exekutive“. Als Cheney 2005 das Abhören von Amerikanern ohne richterliche Anordnung verteidigte, erklärte er gegenüber Reportern seine weitreichenden Ansichten über die „präsidiale Macht“ (presidential power): „Ich bin der Ansicht, dass es im Laufe der Jahre eine Erosion der Macht und Autorität des Präsidenten gegeben hat … Viele der Dinge rund um Watergate und Vietnam, beide in den 1970er-Jahren, dienten dazu, die Autorität zu untergraben. Ich glaube an eine starke, robuste Exekutive (I believe in a strong, robust executive authority). Und ich denke, die Welt, in der wir leben, verlangt das.“
In diesem Glauben wurde Cheney von zwei Richtern am Obersten Gerichtshof der USA, John Roberts und Samuel Alito, die von George W. Bush 2005/06 nominiert wurden, gestärkt. Sie waren zwei der konservativen Richter, die 2023 auch im Fall Trump gegen die Vereinigten Staaten dafür stimmten, dem Präsidenten praktisch unbegrenzte Immunität vor Strafverfolgung bei der Ausübung seiner „offiziellen Pflichten“ zu gewähren.
„Dieses Urteil hat Trump zweifellos ermutigt, seine Macht von einer imperialen zu einer autoritären Präsidentschaft auszuweiten“ (That ruling has, no doubt, emboldened Trump as he expands his power from an imperial presidency to an authoritarian presidency), glaubt Boot.
Man könnte bei Trumps Amtsverständnis auch weitergehen und so formulieren: Aus Cheneys Politik der „einheitlichen Exekutive“ wurde Trumps Politik der eigenmächtigen Exekutive. Basiert die Theorie der einheitlichen Exekutive im Wesentlichen auf der Vesting Clause, die dem Präsidenten die „Exekutivgewalt“ überträgt und das Amt an die Spitze der Exekutive stellt, so geht Trump weit darüber hinaus.
Er erweitert eigenmächtig seine Befugnisse durchaus im Sinne der in den 2020er-Jahren erfolgten Entscheidung des Oberste Gerichtshofs, wonach „die gesamte Exekutivgewalt allein dem Präsidenten zusteht“. Folgt man diesem Urteil, so kann man, zu Ende gedacht, nicht einfach von der Ausweitung einer präsidialen zu einer autoritären Präsidentschaft sprechen.
Vielmehr geht es hier um ein Amts- bzw. Machtverständnis, das in der Theorie der Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns seinen Ursprung hat. Dieses Machtverständnis entzieht sich im Grunde jeder verfassungsrechtlichen Überprüfung und steht in seinem Selbstverständnis gleichwertig und gleichursprünglich – wenn nicht über, so doch zumindest – neben der Verfassung.
Folgt man der Theorie der Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns, so handelt der Präsident nicht kraft der Verfassung, sondern kraft seines ihm zwar von der Verfassung verliehenen, aber erst vom Wahlvolk demokratisch legitimierten Amtes.
Ein solches Machtverständnis transzendiert bei weitem sowohl die „Theorie der einheitlichen Exekutive“ als auch eine wie auch immer geartete „autoritäre Präsidentschaft“.
2. Die Theorie der einheitlichen Exekutive und der Demokratiebegriff
Bei der Stärkung der „Macht des Präsidenten“ (presidential power) plädierte Cheney für ein „Exekutivprivileg“, um dem Präsidenten nicht zuletzt im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen großen Spielraum zu geben.
Trump geht aber weit darüber hinaus und beseitigt verfassungsrechtliche Kontrollschranken der Exekutive, was im krassen Gegensatz zum Demokratieverständnis der Grand Old Party (GOP) steht. Damit bestätigt sich nach Boots Meinung nur die Erfahrung der Nachkriegszeit, dass „jede Generation von Republikanern sich radikaler als die vorherige erweist“ (Each generation of Republicans turns out to be more radical than the last). Ronald Reagan sei radikaler als Richard Nixon, und Trump sei radikaler als Reagan und Bush.
Am Lebensabend wurde Cheney zu einem erbitterten Gegner von Trumps MAGA-Bewegung. Dessen ungeachtet war er derjenige, der mit seiner Politik der einheitlichen Exekutive Trump den Weg zu seiner „autoritären Präsidentschaft“ bereitet hat, behauptet Boot und fordert die Verfassungskonservativen (constitutional conservatives) der Grand Old Party das Festhalten an der „uneingeschränkten Exekutivgewalt“ (untrammeled executive authority) zu überdenken, um die Gewaltenteilung nicht weiter aushöhlen zu lassen.
Die Theorie der einheitlichen Exekutive hat ihre Wurzeln in der „imperialen Republik“ (Raymond Aron) des 20. Jahrhunderts, die zu Nixons Zeit ihre Blüte und Niedergang zugleich erlebte. Unter Bush/Cheney gewann die Theorie nach 9/11 erheblich an Bedeutung, da sie dazu diente, beispiellose präsidiale Entscheidungen (wie der Einsatz militärischer Gewalt, staatlich geförderte Entführungen, die Inhaftierung und Vernehmung von Gefangenen, unorthodoxe Informationsbeschaffung usw.) zu legitimieren.
Es gibt keine einheitliche Interpretation der Theorie. Ihre Befürworter glauben im Allgemeinen, dass Artikel II dem Präsidenten erlaubt, alle Beamten der Exekutive zu entlassen. Trump und seine Anhänger sind gar der Ansicht, dass der Präsident die gesamte Exekutivgewalt behält und alle Beamten und Behörden kontrollieren kann.
Frank Bowman (Experte für Verfassungs- und Strafrecht an der juristischen Fakultät der Universität Missouri) ist davon überzeugt, dass diese Theorie „schon bei einer rudimentären Prüfung“ zusammenbreche und dass sie mit den grundlegenden Kontrollmechanismen der Exekutivgewalt, die der Verfassung innewohnen, in Konflikt stehe.2
Was Trumps Amtsverständnis angeht, so geht es, wie gesehen, weit über die Theorie der einheitlichen Exekutive hinaus, worauf Noah Rosenblum (Prof. an der New York University School of Law) zutreffend hingewiesen hat.
„Bis vor kurzem hätten die meisten von uns wohl gesagt, dass die Theorie der einheitlichen Exekutive offensichtlich enorm weitreichende Befugnisse der präsidialen Macht einräumt. Mehr geht doch gar nicht! Oder doch?“, fragte Rosenblum.
Bei Trump ist jedoch alles denkbar und dehnbar. Das Weiße Haus hat nämlich neben der Berufung auf Artikel II versucht, Trumps Exekutivanordnung vom 18. Februar 2025 gegen unabhängige Behörden zu rechtfertigen, indem es ihn als „den demokratisch gewählten Präsidenten“ bezeichnete.
„Das ist aber ein Appell an die demokratische Legitimität, nicht an die Verfassung“, zeigt sich Rosenblum irritiert. „Er besagt: >Ich wurde von euch zum Anführer gewählt, also habe ich das Sagen. Ich kann tun, was ich will<“ („That is an appeal to democratic legitimacy, not the Constitution,“ Rosenblum said. „He’s saying, >I was chosen by you to be the leader, so I’m in charge. I can do whatever I want<”).3
Recht geht hier in Macht auf und der Machtinhaber hat sein (präsidiales) Recht kraft seines Amtes und nicht der Verfassung. Es ist darum nur konsequent, wenn die Trump-Administration auch offen damit droht, die Befugnis der Gerichte zu ignorieren, die die Handlungen der Administration auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen, wie Vizepräsident JD Vance Anfang Februar 2025 erklärte: „Richter dürfen die legitime Macht der Exekutive nicht kontrollieren“ (Judges aren’t allowed to control the executive branch’s legitimate power).4
„Am brisantesten war Trumps Aussage vom 15. Februar 2025, dass er mit Napoleons Behauptung >Wer sein Land rettet, verstößt gegen kein Gesetz< die Rechtsstaatlichkeit – die Grundlage unserer verfassungsmäßigen Ordnung – unter die Guillotine stellte“ (Most incendiary, Trump on Feb. 15 put the rule of law — the foundation of our constitutional order — under the guillotine with a Napoleonic assertion that „He who saves his Country does not violate any Law“), empörte sich Knutson (ebd.).
Was die US-amerikanischen Verfassungsrechtler hier kritisieren, ist ein Demokratieverständnis, dem allein die direktdemokratischen Vorstellungen von der Volkssouveränität und dem Mehrheitsprinzip zugrunde liegt, ohne dass dazu auch solche unentbehrlichen Bestandsteile eines liberalen Verfassungsstaates wie Rechtsstaatlichkeit oder eine verfassungsrechtliche Kontrolle der Exekutive angehören.5
Ein solches Demokratieverständnis nannte Karl Loewenstein einst „demoautoritär“6. Die darauf gegründete Machtausübung der Exekutive bedeutet in letzter Konsequenz eine rechtlich entbundene Herrschermacht, die auf die Mitwirkung weder des Einzelnen noch der Gesellschaft angewiesen ist.
Hier geht es um ein Demokratieverständnis im Sinne der potestas legibus absoluta und nicht im Sinne einer verfassungsmäßigen Bindung der rechtsetzenden und der gesetzdurchsetzenden Gewalt.
Der westeuropäische Demokratiebegriff speist sich im Übrigen aus zwei völlig konträren Quellen: aus einer Verfassungstradition englischer Provenienz und aus einer vulgär-demokratischen bzw. egalitären Verfassungsideologie französischer Herkunft7.
Der westliche Parlamentarismus ist eine Verfassungsform britischer Provenienz, die „geschichtlich und theoretisch . . . aus der Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozess der Gesetzgebung“ zu begreifen ist. „Das Common Law gab es als Richterrecht vor den Gesetzen: Recht entsteht überhaupt als Richterrecht.“8
Das US-amerikanische Demokratieverständnis, das aus der englischen Verfassungstradition hervorgegangen ist, ist seiner Genesis nach bereits rechtlich fundiert. An Stelle von voluntas tritt hier ratio, weil es eben im politischen Prozess keine neutrale Instanz gibt. „Jeder denkbare Schiedsrichter ist . . . doch zugleich Mitglied der Gesellschaft, als solches in Interessen, Ideologien, Traditionen verstrickt und also notwendigerweise Partei.“9
Folgt man hingegen allein einem egalitären, von der rechtlichen Bindung der Exekutivgewalt losgelösten Demokratieverständnis als Identität von Regierenden und Regierten, wodurch das Volk seine Machtbefugnisse seinen gewählten Repräsentanten, dem Parlament, delegiert und das Parlament sie sodann der Regierung anvertraut, dann bekommt man eine rechtlich entbundene, aber demokratisch legitimierte Macht.
Genau dieses Demokratieverständnis macht sich Trump und seine Anhänger zu eigen. Hier wird unter Berufung auf die demokratische Legitimation der US-Präsidentschaft die Alleinzuständigkeit der durch den Präsidenten verkörperte Exekutive konstruiert, weil diese eben demokratisch legitimiert ist. Und deswegen stellt Rosenblum, wie oben gesehen, zutreffend fest, dass Trump mit seinem verfassungsrechtlich entbundenen Amtsverständnis „an die demokratische Legitimität, nicht an die Verfassung“ appelliert und damit letztlich die demokratische Legitimierung der Exekutivgewalt priorisiert und über die Verfassung stellt.
Dabei zeigt sich die ganze Inkongruenz des dem liberalen Verfassungsstaat innerwohnenden Dualismus, dem zwei sich ausschließende verfassungsrechtlich gebundene und demokratisch legitimierte Grundprinzipien der Machtausübung zugrunde liegen, die in Konfliktsituationen auf- und gegeneinander prallen.
Darin besteht auch das Dilemma der Exekutivgewalt, die in ihrer Machtausübung einerseits an das Verfassungsrecht gebunden, andererseits aber der Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns unterworfen ist, die wiederum in ihrem Selbstverständnis jedwede verfassungsrechtliche Bindung per definitionem ausschließt.
3. Der „Nixon-Schock“ und Trumps Amerika
Welche Auswirkung hat Trumps Machtverständnis auf die US-Außenpolitik? Wie merkwürdig das auch klingen mag, Trumps Außenpolitik kann die Spannungen zwischen den Großmächten USA, China und Russland eher abbauen als verschärfen. Ein Vergleich zwischen der Nixon- und Trump-Administration macht das deutlich.
Nixons Politik der einheitlichen Exekutive fand in einem geo- und sicherheitspolitischen Machtumfeld statt, in dem die angeschlagene US-Supermacht angesichts des langandauernden, verlustreichen und letztlich erfolgslosen Vietnam-Krieges schwächelte.
Diese Schwächung führte das Tandem Nixon/Kissinger zu einer radikalen Änderung der US-Außenpolitik, die man später „Entspannungspolitik“ genannt hat. Die Nixon-Administration ging von einem realpolitischen und ideologiefreien Leitgedanken aus, dass die Verfassungsordnung der Großmächte als legitim erachtet und deren Existenz getreu dem Motto anerkannt wird: „Nicht der Kommunismus, sondern die internationale Anarchie sei die größte Gefahr.“10
Von diesem Grundgedanken ausgehend, hat Nixon seine Überlegungen in einem Pressegespräch auf Guam am 24. Juli 1969 dargelegt, die zu einem amtlichen Dokument der amerikanischen Regierung erhoben und offiziell als „Nixon-Doktrin“ verkündet wurden.
Sie formulierte drei um den Begriff des Friedens zentrierten Maximen, die die US-Außenpolitik prägen sollten: Partnerschaft – Stärke – Verhandlungsbereitschaft11. Die auf Partnerschaft, Stärke und Bereitschaft zum Verhandeln basierende Vision von Frieden ist der rote Faden, der sich durch den Bericht des US-Präsidenten Richard M. Nixon an den Kongress vom 18. Februar 1970 über die amerikanische Außenpolitik für die 1970er-Jahre zieht.
Was wollte Nixon aber genau mit seiner neuen Außenpolitik erreichen? In einem am 3. Januar 1972 in Time erschienenen Interview sagte er:
„Wir sollten bedenken, dass der einzige Abschnitt der Weltgeschichte, in dem wir eine längere Friedensphase hatten, in eine Zeit des Gleichgewichts der Kräfte fiel. Die Gefahr eines Krieges entsteht, wenn eine Nation sehr viel stärker wird als ihre potentiellen Konkurrenten. Ich glaube deshalb an eine Welt, in der die Vereinigten Staaten ein machtvolles Land sind. Ich denke, die Welt wird sicherer und besser sein, wenn die Vereinigten Staaten, Europa, Sowjetunion, China und Japan stark und gesund sind und sich gegenseitig das Gleichgewicht halten, ohne den einen gegen den anderen auszuspielen, wenn es also ein wirkliches Gleichgewicht gibt.“12
Nun ja, Täuschung und List wurden im (außen)politischen Geschäft nicht erst seit Trump erfunden. Auch das Nixon/Kissinger-Gespann wussten damit einiges anzufangen. Zwar verfolgte Nixon getreu seinen öffentlichen Bekundungen mit der Sowjetunion eine Gleichgewichtspolitik, zur gleichen Zeit betrieb Kissinger aber eine Geheimdiplomatie mit der Volksrepublik China, um die zwei ideologischen Rivalen China und die Sowjetunion trotz Nixons anderweitigen Beteuerungen erfolgreich gegeneinander auszuspielen.
Auch Trump betreibt mit seiner China- und Russlandpolitik eine Doppelstrategie13. Trotz seiner bombastischen, theatralen und aggressiven Rhetorik strebt er nicht zuletzt vor dem Hintergrund des so gut wie verlorenen Ukrainekriegs im Verhältnis zu Russland einen gewissen Ausgleich zu erzielen und versucht gleichzeitig Russland gegen China bis dato erfolgslos auszuspielen.
Je mehr Trump von der „Politik der Stärke“ spricht, umso deutlicher wird, dass sein Annährungsversuch an Russland u. a. auch aus einer Schwäche erfolgt, die sich am immer deutlich werdenden geopolitischen, geoökonomischen und ja militärischen Erosionsprozess der US-Hegemonie nicht zuletzt auch gegenüber China zeigt.
Verblüffend ist in diesem Zusammenhang auch eine beinahe gleiche wirtschafts- und finanzpolitische Einstellung Nixons und Trumps zu Europa festzustellen. Neben einem außenpolitischen „Nixon-Schock“ fand im Jahr 1971 auch ein geldpolitischer Schock statt. Beide verkündete Nixon völlig überraschend.
Am 15. Juli 1971 verkündete er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China und damit verbunden den Abbruch der Beziehungen zur Republik China (Taiwan). Dies geschah für die gesamte Weltöffentlichkeit überraschend, stellte es doch eine grundsätzliche Neuausrichtung der US-Außenpolitik im Pazifik dar.
Der zweite „Nixon-Schock“ war eine weitreichende geldpolitische Entscheidung, die Nixon in einer Rede an die Öffentlichkeit einen Monat später im amerikanischen Fernsehen und Radio am Sonntag, dem 15. August 1971, verkündete. Er erklärte eine Frist von 90 Tagen für die Fixierung von Löhnen und Preisen im Inland sowie die Verhängung eines Einfuhrzolls von 10 Prozent auf Importwaren.
Die größte Auswirkung hatte die Aufhebung der Konvertierbarkeit des Dollars in Gold mit der Schließung des Gold-Fensters bei der US-Notenbank, die das Ende des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse besiegelte.
Parallelen zu Trumps Außenwirtschafts- und Finanzpolitik sind auffallend. Wie unfein und unsanft Nixon mit den europäischen Bündnispartnern umging, zeigt die berühmte Äußerung seines Finanzministers John Connally (1971): „The dollar is our currency, but it’s your problem“.
Kenneth Rogoff hat uns in seinem gerade erschienenen Werk Our Dollar, Your Problem (2025) bereits im Titel an die Aktualität von Connallys Äußerung aus dem Jahr 1971 erinnert.
In Europa lösten jedenfalls die beiden Entscheidungen Nixons damals genauso, wie Trumps Handelspolitik von heute, die er vorrangig im eigenen nationalen Interesse auf Europas Kosten verfolgt, Besorgnis aus. Wie zu Nixons Zeit fürchten die Europäer auch heute, dass Trumps Amerika seinen Bündnisverpflichtungen wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Annährungsversuche an Russland nicht nachkommt und die EU-Verbündeten fallenlässt.
Nicht erst seit Trump treten wirtschaftliche Rivalitäten und Streitigkeiten unter Verbündeten zutage. Mit dem „Nixon-Schock“ kam es, schreibt Raymond Aron 1973:
„zwischen Europäern, Japanern und Amerikanern zu immer erbitterteren Auseinandersetzungen über das internationale Währungssystem, über die Ursachen des Außenhandelsüberschusses der Bundesrepublik und Japans, über die Wechselkurse, über die diskriminierenden Maßnahmen und über einen offenen oder versteckten Protektionismus. Die Abwertung des Dollars, die – Stunde der Wahrheit – wie die Reise nach Peking historische Bedeutung annimmt, hat wirtschaftspolitische Meinungsverschiedenheiten in den Rang der hohen Politik erhoben. Tatsächlich musste sich zuerst den Japanern und anschließend den Europäern die Frage aufdrängen, ob nicht im gleichen Augenblick, da die Feinde – China und die Sowjetunion – zu Gesprächspartner und möglicherweise zu echten Partnern der Vereinigten Staaten geworden waren, die Europäische Gemeinschaft und Japan auf dem Weltmarkt zu Rivalen oder gar Gegnern der Amerikaner wurden. Musste man nicht befürchten, dass die beiden Bündnisse, auf welche die amerikanische Diplomatie sich seit 1950 in erster Linie stützte – das eine mit Japan, das andere mit Westeuropa -, zugleich der Entspannung zwischen den ehemaligen Feinden und der Spannung zwischen den Verbündeten zum Opfer fielen?“14
Die Geschichte wiederholt sich, wie man sieht! Die gleichen Fragen stellen die EU-Europäer auch heute an die Trump-Administration. Und sie müssen sich in Zeiten der wie noch nie stattfindenden tektonischen geopolitischen, geoökonomischen und militärischen Umwälzungen die Frage gefallen lassen, ob sie nicht nur die Zeichen der Zeit richtig deuten, sondern ihnen auch gerecht werden.
Alles deutet indes darauf hin, dass der europäische politische Mainstream immer noch nicht begreifen will und/oder kann, dass die Zeiten sich dramatisch zu Lasten Europas geändert haben und dass es mit seiner antirussischen Hysterie zuallererst sich selbst schadet und statt auf einen Modus Vivendi mit Russland auf Konfrontation gegen Russland setzt und damit ungewollt und unbewusst nur seinen eigenen Niedergang heraufbeschwört.
Und Trumps Amerika? Es wird der EU keineswegs um jeden Preis zu Hilfe eilen. Trumps Amerika ist weder Freund noch Feind, weder Rivale noch Gegner der EU-Europäer. Es ist vielmehr einzig und allein in eigener Sache unterwegs und handelt nach dem Motto: „Rette sich, wer kann“15.
Trumps Amerika hat längst die Zeichen der Zeit erkannt und verfolgt mit oder ohne Europa wie zurzeit des „Nixon-Schocks“ rücksichts- und skrupellos seine eigenen nationalen Interessen.
Anmerkungen
1. Max Boot, What the Neocons Got Wrong. And How the Iraq War Taught Me About the Limits of American
Power, Foreign Affairs, 10. März 2023. Näheres dazu Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der
„dangerous naiveté“ in der US-Außenpolitik. 21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Zitiert nach Jacob Knutson, What Is Unitary Executive Theory? How is Trump Using It to Push His Agenda?
Democraty Docket, February 20, 2025.
3. Zitiert nach Knutson (wie Anm. 2).
4. Zitiert nach Knutson (wie Anm. 2).
5. Vgl. Maier, H., Können Begriffe die Gesellschaft verändern? In: Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten
Wörter. Herderbücherei 1974, 55-68 (59).
6. Zitiert nach Fraenkel, E., Deutschland und die westliche Demokratie. Stuttgart 1964, 16.
7. Vgl. Fraenkel, E., Deutschland und die westliche Demokratie. Stuttgart 1964, 53.
8. Kriele, M., Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des
demokratischen Verfassungsstaates. Hamburg 1975, 106.
9. Kriele (wie Anm. 8), 108.
10. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 108.
11. Vgl. Nixons „Neue Friedensstrategie“, in: Europa-Archiv 25 (1970), 145-174.
12. Zitiert nach Aron, F., Die imperiale Republik. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die übrige
Welt seit 1945. Stuttgart/Zürich 1975, 214.
13. Näheres dazu Silnizki, M., Trumps „Grand Strategy“. Im Kriegsschatten der Großmächte. 25. Oktober 2025,
www.ontopraxiologie.de.
14. Aron (wie Anm. 12), 216.
15. Silnizki, M., Rette sich, wer kann? Stimmen und Stimmungen jenseits des Mainstream-Denkens.
28. Januar 2024, www.ontopraxiologie.de.