Walerij Salužnyjs Kriegsanalyse
Übersicht
1. Verrückte Welt der Kriegspropaganda
2. Der Stellungskrieg 2022/23
3. Die ukrainische Kursk-Offensive
4. Der Zermürbungskrieg 2024/25
Anmerkungen
„Die Heftigkeit eines Konflikts kann weder der Kampftechnik noch den
Leidenschaften der Kriegführenden zugeschrieben werden, sondern
nur dem Parallelogramm der Kräfte.“
(Raymond Aron)1
1. Verrückte Welt der Kriegspropaganda
Wenn man manche Publikationen der jüngsten Zeit liest und/oder manchen Reden zuhört, so erwecken sie den Eindruck, als würde die Ukraine den Krieg gewinnen und Russland den Krieg verlieren.
Das jüngste Beispiel ist die Äußerung von Keith Kellogg (US-Sondergesandter für die Ukraine). Auf dem Warschauer Sicherheitsforum behauptete er am 30. September 2025, dass Putin den Ukrainekrieg nicht gewinnen kann und dass er es auch weiß. Wörtlich sagte Kellogg: „Ich denke, in seinem Innersten weiß er, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Langfristig ist das ein aussichtsloser Kampf für ihn.“
Als wäre das nicht genug, beteuerte er allen Ernstes, dass Russland mittlerweile „alte Panzer aus Museen“ holen müsse, um sie im Krieg einzusetzen. Das zeige, wie sehr die russische Armee unter Druck stehe.
Kelloggs Äußerung ist derart aberwitzig, dass man sich fragt, ob er tatsächlich jemals Generalleutnant der US-Army war.
Will er etwa sagen, dass Russland mit „alten Panzern aus Museen“ gegen die modernsten Nato-Waffen kämpft? Wenn das so wäre, würde das bedeuten, dass das für die US-Militärausrüstung des 21. Jahrhunderts nicht gerade schmeichelhaft wäre.
Bereits am 15. September 2025 schlug Kellogg in die gleiche Kerbe, als er auf einer Konferenz in Kiew beteuerte: Russland gewinne nicht wirklich auf dem Schlachtfeld, es verliere den Krieg. „Wenn Putin gewonnen hätte, wäre er in Kiew, westlich des Dnjepr, in Odessa und hätte die Regierung bereits ausgetauscht.“
Und der französische Präsident, Emmanuel Macron, behauptete auf dem Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Kopenhagen am 2. Oktober 2025: „Russland gewinnt nicht, die Ukraine verliert nicht. Das ist eine Tatsache.“ Frankreichs Oberbefehlshaber hat gesprochen: Es herrsche eine Pattsituation im Ukrainekrieg.
Verrückte Welt der Kriegspropaganda! Derartige Stimmen und Stimmungen hört man in der letzten Zeit immer öfter und immer lauter in den europäischen Hauptstädten und Massenmedien. Und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Die Bereitschaft der europäischen Nato-Verbündeten zur Eskalation und Drohgebärden nimmt exponentiell zu. Nach dem Vorfall mit Drohnen über Polen breitet sich die Kriegshysterie wie Feuer aus, Europa wittert wie eh und je „die russische Gefahr“ und kommt nicht zur Ruhe.
Während Warschau behauptet, dass die Drohnen, die in das Land geflogen seien, russisch waren, bezeichneten die Repräsentanten der russischen Politik und Medien den Drohnenvorfall über Polen als Provokation.
Das Eindringen der Drohnen in den polnischen Luftraum war höchstwahrscheinlich eine Provokation der Nato- und EU-Länder, um die polnische Regierung zur Entsendung von Truppen in die Ukraine zu bewegen, berichtete man in den russischen Staatsmedien.
Das russische Verteidigungsministerium nahm ebenfalls dazu Stellung und erklärte:
„Auf polnischem Territorium waren keine Angriffsziele geplant. Die maximale Reichweite der bei dem Angriff eingesetzten russischen Drohnen, die angeblich die polnische Grenze überschritten haben, beträgt nicht mehr als 700 km. Wir sind jedoch bereit, uns in dieser Angelegenheit mit dem polnischen Verteidigungsministerium zu beraten.“
Europa und Russland befinden sich auf Kollisions- und Konfrontationskurs und die allerseits tobende Kriegspropaganda greift ungehemmt und ungebremst um sich. Der russische Außenminister, Sergej Lawrow, erklärte Ende September, dass die Nato und die EU Russland über die Ukraine den Krieg erklärt hätten. Der finnische Präsident, Alexander Stubb, reagierte darauf in einem Interview mit CNN mit den Worten: „Wir befinden uns nicht im Kriegszustand mit Russland“.
Stubb glaubt, dass Putins Ziel darin bestehe, zwei Arten von Krieg zu führen: einen traditionellen Krieg in der Ukraine und einen hybriden Krieg gegen den Westen. „In solchen Situationen haben wir zwei Möglichkeiten, entweder Ruhe zu bewahren oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um eine Wiederholung zu verhindern und bloß nicht zu überreagieren.“
Der eigenen Empfehlung, Ruhe zu bewahren, folgte Stubb freilich selbst in keiner Weise, als er am 1. Oktober 2025 in einem Interview mit Politico die aufgeheizte Stimmung mit den Worten aufpeitschte: Trump sei „von einer Zuckerbrot-Politik zu einer Peitsche-Politik übergegangen“. „Jetzt ist nur noch die Frage, wie groß die Peitsche sein wird.“
Auf die Frage, welchen Schlägertyp Trump wählen würde, um Putin zu schlagen, scherzte Stubb deplatziert, es könnte ein Driver sein (der längste und kraftvollste Schläger, mit dem man den Ball beim ersten Schlag am weitesten schlagen kann).
In ganz Europa ist von einer Deeskalation des Drohnenvorfalls keine Spur. Ganz im Gegenteil: Die Eskalation geht weiter. Die EU-Europäer benehmen sich wie Halbstarken: Der verbalen Gewalt folgen statt Taten noch mehr verbale Gewalt.
So forderte der ehem. britische Verteidigungsminister, Ben Wallace (2019-2023), auf dem bereits oben erwähnten Warschauer Sicherheitsforum am 30. September die Unbewohnbarkeit der Krim. „Wir müssen der Ukraine helfen, über weitreichende Fähigkeiten zu verfügen, um die Krim unbewohnbar zu machen. Wir müssen die Krim erdrosseln“, erklärte Wallace und verlangte den Einsatz von Langstreckenraketen zur Zerstörung der Krim-Brücke.
„Wir brauchen Taurus aus Deutschland, wir müssen die Kertsch-Brücke zerstören, denn sie ist ein Denkmal für Putins Selbstwertgefühl. Und ich glaube, wenn wir das tun, wird Putin plötzlich erkennen, dass er etwas zu verlieren hat“, sagte Wallace.
Der blutrünstige britische „Menschenfreund“, der die Krim unbewohnbar machen bzw. die Bevölkerung auslöschen will, merkt nicht, dass er heute im Little Britain des 21. Jahrhunderts und nicht im Great Britain des 19. Jahrhunderts lebt und kein Kolonialherr mehr ist, der nach Belieben seine Untertanen bestrafen kann.
Allmachtsphantasien sind, wie man sieht, Tür und Tor geöffnet, wenn es darum geht, sich wenigstens rhetorisch profilieren bzw. am „Erzfeind“ Russland abarbeiten zu können. Die Kriegsfalken des Little Britain und Kontinentaleuropas leiden unter maßloser Selbstüberschätzung, was die Gefahr in sich birgt, die militärische Lage in der Ukraine falsch einzuschätzen und infolgedessen unüberlegte Entscheidungen zu treffen.
Die Europäer sind offenbar mit Macron, Stubb, Wallace und Co. an der Spitze lebensmüde geworden. Sie wissen nicht, worauf sie sich da einlassen.
2. Der Stellungskrieg 2022/23
Dass Russland den Krieg verliere bzw. nicht gewinne, wie Kellogg und Macron behaupten, wird nicht nur von der russischen „Kriegspropaganda“ bestritten. Selbst der ehem. Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Salužnyj, ist sich dessen alles andere als sicher.
Am 24. September 2025 unterzog er den nunmehr seit mehr als dreieinhalb Jahren andauernden Krieg in der Ukraine in einem Artikel für die ukrainische Zeitung „Zerkalo Nedeli“ (Spiegel der Woche) einer eingehenden Analyse und stellte eine ziemlich düstere Prognose für die Ukraine betreffend eines weiteren Kriegsverlaufs auf.
Nachdenklich fragte er zunächst rückblickend: „Was ist in den (ersten) zwei Jahren geschehen? Hatte ich wirklich Recht, als ich schrieb, der heutige Krieg werde so dynamisch und technologisch hochentwickelt sein? Und vor allem: Gibt es heute überhaupt ein Verständnis dafür, was in den zwei Jahren geschehen ist?“
In den ersten beiden Kriegsjahren herrschte ein Stellungskrieg vergleichbar mit dem Ersten Weltkrieg, schreibt Salužnyj. Während dieses Stellungskriegs war in Ermangelung offener Flanken die einzige Form eines Angriffsmanövers ein frontaler Durchbruch der feindlichen Verteidigungslinien, deren Tiefe aufgrund der zunehmenden Feuerkraft und Reichweite des Artilleriefeuers aus einer großen Anzahl gestaffelter defensiver Stellungen bestand.
Das Ergebnis war eine relative Ruhe in einem bestimmten Frontabschnitt, während die beiden Seiten keine Angriffsoperationen durchführen konnten, da sich entlang der gesamten Kampflinie eine durchgehende Front bildete, die folgende Merkmale besaß: (1) die Truppenstellungen waren mit mächtigen Befestigungen sowie einem dichten und komplexen System technischer Hindernisse ausgestattet; (2) die Kriegsparteien wurden durch einen Gebietsstreifen, die sog. Grauzone, getrennt, den keine der beiden Seiten kontrollieren konnte; (3) Neben militärischen Einrichtungen verfügten die Verteidigungsstellungen über eine Infrastruktur für den längerfristigen Aufenthalt einer großen Zahl von Menschen (Toiletten, Wäschereien, Feldlazarette usw.).
Bei der Analyse der ersten zwei Kriegsjahre kommt Salužnyj zu dem Ergebnis, dass die Streitkräfte Russlands und der Ukraine ähnlich wie im Ersten Weltkrieg in eine Pattsituation geraten sind und die Militäroperationen im Donezk seit Herbst 2022 den Charakter eines Stellungskriegs angenommen haben.
Ungeachtet der allgemeinen Stabilität der Frontlinie kam es hin und wieder zu kleineren und größeren Übergriffen, die einen schleichenden Charakter angenommen und unverhältnismäßig große Verluste mit sich gebracht haben. Ein solch lokaler Vorstoß der russischen Streitkräfte erfolgte während der Kämpfe um die Städte Bachmut und Awdijiwka.
Ein weiteres Merkmal eines Stellungskriegs bestand darin, dass das Ausbleiben eines schnellen Durchbrechens der Frontlinie eine mögliche Einkreisung der Truppen verhinderte. Darüber hinaus verhinderte die Unmöglichkeit, die feindliche Luftabwehr vollständig zu unterdrücken, jegliche luftgestützten Aktionen, die insbesondere in den Nato-Doktrinen von entscheidender Bedeutung sind.
Der Hauptfaktor, der zu einer solchen Erstarrung der Kampfhandlungen während der Durchführung der Offensive 2023 führte, war in erster Linie der Mangel an Kräften und Ressourcen der Truppe, die die Offensivoperationen durchführte, schreibt Salužnyj, der die Sommeroffensive 2023 anführte, zur Selbstentlastung und beteuert anschließend: Die unzureichende und manchmal sogar fehlende Mindestbewaffnung der kämpfenden Militäreinheiten hing vollständig von der Vision, Planung und konzeptionellen Umsetzung unserer Nato-Partner ab.
Der entscheidende Faktor war jedoch die hohe Effektivität der Drohnen, vor allem als Mittel zur Luftaufklärung auf taktischer Ebene, die es dem Feind ermöglichte, die Konzentration unserer Panzerfahrzeuge und unserer Mannstärke in Echtzeit zu erkennen und Reserven in die zu erwartenden Richtungen unserer Angriffe und Vorstoße zu verlegen.
Resümierend stellt Salužnyj fest, dass der Stellungskrieg nicht nur die feindlichen Verteidigungslinien zu durchbrechen verunmöglichte, sondern auch operative Aufgaben zu erfüllen, einschließlich des Eindringens in den feindlichen Operationsraum.
Die Erfahrungen der ersten zwei Kriegsjahre zeigen, dass die präzisionsgelenkten Raketen im rasanten Tempo aufgebraucht, groß angelegte Luftoperationen durch Luftabwehrsysteme behindert werden und dass im Kriegsjahr 2023, wie schon im Zweiten Weltkrieg, klassische groß angelegte Bodenkampfoperationen die führende Rolle spielten.
3. Die ukrainische Kursk-Offensive
Nur ein Ausweg aus dem Stellungs- und Grabenkrieg eröffnet den Kriegsparteien die Chance auf einen Sieg, da der Stellungskrieg für die Ukraine allein schon aus Ressourcenmangel inakzeptabel sei, betont Salužnyj und versucht die stattgefundenen Umwälzungen in der Kriegskunst nach der gescheiterten Sommer-Offensive 2023 näher zu erläutern.
Während die ukrainischen Streitkräfte im Zuge des Führungswechsels Anfang 2024 eine umfassende Reorganisation ihres Kommandosystems einleiteten, unternahm die russische Militärwissenschaft ihrerseits umfangreiche Anstrengungen, um einen Ausweg aus der Sackgasse des Stellungskriegs zu finden. Bei Diskussionen an verschiedenen russischen Hochschulen wurde erkannt, dass die wichtigste Innovation bei den Kampfeinsätzen in der SVO der weit verbreitete Einsatz von Drohnen auf taktischer Ebene ist. Bis dahin hat Russland im Gegensatz zur Ukraine Drohnen lediglich als Unterstützungsinstrument für Raketentruppen und Artillerie eingesetzt.
Erst ein Jahr später als das ukrainische Militär haben die Russen im Frühjahr 2024 begonnen, die kleinen Quadrocopter einzusetzen. Sie sahen laut Salužnyj einen möglichen Ausweg aus dieser Sackgasse in der verdeckten Anhäufung und dem anschließenden massiven Einsatz kleiner FPV-Drohnen und Loitering-Munition, um sowohl Verteidigungslinien zu durchbrechen als auch Personal, Befestigungen und Panzerfahrzeuge zu zerstören.
Die praktische Umsetzung dieser Methode weckte jedoch bald Zweifel, da unsere elektronischen Kampfsysteme sich schnell und rasant weiterentwickelten und den anfänglichen Vorteil der Russen effektiv zunichtemachten. Die Russen mussten daher ein neues Kommunikations- und Kontrollsystem für diese Drohnen und Loitering-Munition neu erfinden.
Dies gab unseren Truppen zunächst die Möglichkeit, Panzerfahrzeuge für Angriffsoperationen in Kursk einzusetzen, wo westliche Ausrüstung, gut geschützt durch unsere elektronischen Kampfsysteme, in feindliches Gebiet vordringen konnte. Dies löste aber auch einen weiteren Impuls zur Überwindung des Stellungskriegs aus.
Salužnyj äußerte sich zugleich sehr kritisch zum „unverhältnismäßig hohen Preis“, den das ukrainische Militär für seine Aktionen in der Region Kursk seit dem Sommer 2024 gezahlt habe. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein isolierter taktischer Durchbruch auf einem schmalen Frontabschnitt der angreifenden Seite letztlich nicht den nötigen Erfolg bringt. Ich kenne die Kosten solcher Aktionen nicht, aber sie waren offensichtlich zu hoch.“
Ihm zufolge konnten die sich verteidigenden russischen Streitkräfte technologische und taktische Vorteile ausnutzen und infolgedessen nicht nur „verhindern, dass sich der taktische Durchbruch (der ukrainischen Angriffstruppen) zu einem operativen Erfolg entwickelt, sondern später auch selbst einen taktischen Erfolg erzielen.“
Salužnyj weiß allerdings mehr, als er uns hier sagen will. Denn die Opferzahlen der ukrainischen Streitkräfte sowie die Zerstörung des Kriegsmaterials bei der Kursk-Offensive wurden von der russischen Seite längst veröffentlicht. Der russische Generalstabchef, Walerij Gerassimow, den Salužnyj nach eigenen Angaben hochschätzt, hat bei seinem Treffen mit Putin am 12. März 2025 in der Grenzregion Kursk die Opferzahl der ukrainischen Streitkräfte seit dem Beginn der ukrainischen Invasion in Kursk im August 2024 genannt: 67.000 Tote.
Des Weiteren wurden laut Gerassimow in Kursk insgesamt 7000 Kriegsgeräte und Waffensysteme (darunter 391 Panzer, 316 Infanterie-Kampffahrzeuge, 274 gepanzerte Personentransporter, 2191 gepanzerte Kampffahrzeuge, 2415 Wagen und 545 Artilleriegeschütze) zerstört.2
Die russischen Angaben machen deutlich, dass Salužnyj mit seiner vagen Kritik den katastrophalen Ausgang des Kursk-Abenteuers verharmloste. Alles in allem ist die Analyse des Scheiterns der Kursk-Offensive viel zu oberflächlich und wenig ergiebig.
4. Der Zermürbungskrieg 2024/25
Russland fand schließlich einen Weg, mit FPV-Drohnen, die mit Glasfaser betrieben werden, dem entgegenzuwirken, was „Auswirkungen auf die Infanterietaktik“ hatte.
„Speziell zur Bekämpfung unserer Ausrüstung und zur Überwindung der elektronischen Kampfführung entstand im Sommer 2024 ein neuer FPV-Typ, der Befehle nicht per Funk, sondern per Kabel übertrug und damit eine neue Ära der Konfrontation und neuen Herausforderungen im Stellungskrieg einläutete. Das hinterließ natürlich seine Spuren in der Taktik der Infanterie, die die Kriegshauptlast zu tragen hat“, schreibt Salužnyj.
Im Kriegsverlauf stellte sich zudem heraus, dass eine große Personenkonzentration, selbst in der Verteidigung, absolut unmöglich geworden ist.
Jede Erhöhung der Personalstärke in den Stellungen führt unmittelbar zu deren Zerstörung durch Angriffe von Drohnen oder durch von Drohnen gelenkte Artillerie. Die Verteidigung basiert daher mittlerweile zum einem darauf, die Stellungen aufzulösen und sie mit relativ kleinen Gruppen zu besetzen, die gezwungen sind, für einen bestimmten Zeitraum unter wirklich schwierigen Bedingungen autonom zu operieren.
Das Zerstörungsgebiet bzw. die „Todeszone“ weitete sich zum anderen wegen der sich verbesserten Angriffsdrohnentechnologie und der Artillerie, die gemeinsam operieren, ständig aus, wie die jüngsten russischen Angriffe auf die Eisenbahnlinien in den Logistikzentren Slawjansk-Isjum und Slawjansk-Barwenkowo zeigten.
Dadurch werden nicht nur die Versorgungswege unterbrochen, sondern es ist auch aufgrund der ständigen russischen Angriffe schwerer geworden, die Verteidigung im Umkreis von 40 Kilometern von der Kampflinie intakt zu halten.
Diese Art der Verteidigungsstruktur führt im Ergebnis zum Verschwinden der klaren Frontlinien und einem mangelhaften Verständnis für die eigenen Positionen, was die russischen Einheiten erfolgreich ausnutzen, um die Verteidigungslinien zu durchbrechen.
Offensichtlich führt dies nicht nur zur Unterbrechung der Logistikrouten, sondern auch zum allmählichen Verschwinden des Konzepts der Nachhut, da ihre traditionelle Aufstellung in Gefechtsformationen auf einer Entfernung von weniger als 40 Kilometern wegen des ständigen feindlichen Feuerbeschusses nicht mehr möglich ist.
Infolgedessen wandelt sich die Verteidigung allmählich vom aktiven Halten der Stellungen in Zusammenarbeit mit der zweiten Staffel und Reserven zum Überleben kleiner Gruppen, die ständig unter Druck sowohl durch Fernaufklärungs- und Kampfmittel als auch durch das „Einschlafen“ kleiner Infanteriegruppen stehen.
Im Ergebnis führt eine solche Verteidigungsstruktur dazu, dass die vermeintlich durchgehende Frontlinie verschwimmt und der tatsächliche Kenntnisstand über die eigenen Stellungen entlang der Verteidigungslinien dadurch verunklart wird.
Die Frontlinie wird mit anderen Worten nicht mehr lückenlos kontrolliert bzw. geschlossen, sondern ist ziemlich löchrig bzw. durchlässig geworden. Dies ermöglicht den russischen Truppen, tief in die ukrainische Verteidigung ein- und vorzudringen. Da eine hohe Truppenkonzentration in Stellungen aufgrund der Gefahr einer sofortigen Vernichtung durch Artillerie und FPV-Drohnen unmöglich geworden sei, habe das zur Erosion der vordersten Frontlinie und zu einer massiven Beeinträchtigung der Nachschubwege geführt.
Die Russen wenden dabei die Methode der sog. „Infiltration“ – das Eindringen einzelner Soldaten und Infanteriegruppen tief hinter unseren Verteidigungslinien an, was die Lücken in den Gefechtsformationen möglich machen. Wir haben dies deutlich im Dobropolski-Bogen, in Pokrowsk und jetzt in Kupjansk gesehen, berichtet Salužnyj.
Da der Feind einerseits unsere Verteidigungsstellungen mit kleinen Angriffstruppen überwältigt und andererseits unsere Logistik durch Drohnen zerstört, kommt es regelmäßig zum Verlust der Stellungen unserer Einheiten. Ohne es offen zuzugeben, diagnostiziert Salužnyj, anders gesagt, einen einschleichenden und unaufhaltsamen Erosionsprozess der ukrainischen Front und damit einhergehende territoriale Verluste.
Dies führt mittel- bis langfristig zur Veränderung des gesamten Kriegsbildes und zu einer nachhaltigen strategischen Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Lasten der Ukraine. Salužnyj bestätigt nur indirekt diese dramatische Entwicklung, als er gezwungenermaßen zugeben muss, dass „sich die Frontlinie leider durch die Taktik, unsere Stellungen mit zahlreichen kleinen Angriffen zu bombardieren, ständig in unsere Richtung verschiebt.“
Ungeachtet seiner durchaus zutreffenden Analyse schreibt Salužnyj beschwichtigend und verharmlosend: Es gäbe nach wie vor eine Pattsituation, auch wenn die Russen sich stets darum bemühen, aus dieser „Sackgasse“ auszubrechen.
Die Russen befinden sich indes schon lange auf dem Vormarsch und es gibt folglich weder eine Pattsituation mehr noch einen Stellungskrieg. Salužnyj verschweigt hier wider besseres Wissen die Berichte des russischen Verteidigungsministeriums über territoriale Verluste der Ukraine. Zuletzt teilte es gegen Ende September mit, dass Russland allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2025 4700 Quadratkilometer erobert hat.
Das ist, wie gesagt, schon lange keine Pattsituation mehr, auch wenn die ukrainischen Streitkräfte selbst nach russischen Berichten einen heftigen Widerstand leisten. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass in diesem Krieg Slawen gegen Slawen kämpfen.
Spätestens seit der Eroberung von Awdijiwka am 17. Februar 2024 gibt es keinen Stellungskrieg mehr. Der Krieg ist schon längst zu einem offensiv geführten Zermürbungskrieg geworden.
Deswegen schreibt auch Salužnyj, dass Russlands Strategie zum Ziel habe, „unsere Truppen physisch zu zermürben, indem es Angriffe kombiniert, um maximale Verluste zu verursachen.“
Russlands Kampfhandlungen seien darauf angelegt, „ein für uns inakzeptables Verlustniveau zu erreichen und gleichzeitig durch die Verschärfung unserer Mobilmachungsmaßnahmen, die soziale Spannungen zu erzeugen. Folglich wird eine solche systematische Zermürbung von Kräften und Ressourcen früher oder später zum völligen >Burnout< der verteidigenden Streitkräfte führen.“
Dieser Zermürbungskrieg sei laut Salužnyj „aus Sicht des Ressourcenverbrauchs für die Ukraine völlig inakzeptabel.“
Die Ukraine verliert immer mehr Ressourcen, wofür Salužnyj die Nato-Doktrinen verantwortlich macht, die sowohl für die Gegenoffensive 2023 als auch für das Kursk-Abenteuer angewandt wurden. Nicht Salužnyj und Syrskyj haben sie geplant, sondern das Nato-Hauptquartier, beteuert der ehem. Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, um nicht zuletzt sein eigenes Versagen beim Scheitern der Gegenoffensive 2023 herunterzuspielen.
Tod, Verletzung und Nervenzusammenbruch sind die unvermeidlichen Folgen eines langandauernden Zermürbungskrieges. Im schlimmsten Fall wird sich die Situation weiter verschärfen. Besser könnte es erst durch die Entwicklung künstlicher Intelligenz werden, die zunächst zur Entstehung teilautonomer und schließlich vollautonomer Angriffssysteme führt, wodurch Menschen von der Front entfernt und durch Robotersysteme ersetzt werden könnten.
Eine solche Entwicklung würde die Personalverluste durch Angriffe mit Drohnen sowie Aufklärungs- und Feuersystemen minimieren. Allerdings muss anerkannt werden, dass der Mangel an Technologie und der aktuelle Entwicklungsstand unbemannter und autonomer Systeme es noch nicht ermöglichen, Menschen auf dem Schlachtfeld in nennenswertem Umfang zu ersetzen.
„Wir brauchen Roboter, wir brauchen Chips (aus China und den USA) und wir brauchen eine vollständige wissenschaftliche und technologische Isolation Russlands“ sowie eine „technologische Überlegenheit der Ukraine“, schreibt Salužnyj zum Schluss seiner Ausführungen.
Hier zeigt sich ein ernüchternder und desillusionierter Feldherr in Ruhestand, der unausgesprochen eine Kriegsniederlage auf die Ukraine zukommen sieht. Als Feldherr kann er sich im Gegensatz zu europäischen und transatlantischen Kriegsfalken, die vom konkreten Kriegsgeschehen entlang der Frontlinie und der Brutalität des Krieges insgesamt keine Ahnung haben, nichts vormachen und muss realistisch bleiben, will er seinen guten Ruf nicht aufs Spiel setzen.
Dass die Ukraine auf dem besten Wege ist, den Krieg zu verlieren, kann er unmöglich offen sagen. Immerhin spricht er von der „Sackgasse“ und „Zermürbung“ der ukrainischen Streitkräfte. Summa summarum kann man abschließend sagen: Salužnyjs Kriegsanalyse ist realistisch und beschönigend zugleich. Sie unterschlägt eine militärstrategische und militärtechnologische Überlegenheit der russischen Streitkräfte, die eine Kriegsniederlage der Ukraine unausweichlich macht.
Der Zermürbungskrieg geht dessen ungeachtet bis zum bitteren Ende weiter und das Ende ist (noch) nicht in Sicht.
Anmerkungen
1. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. S. Fischer Verlag 1986, 186.
2. Zitiert nach Silnizki, M., Kriegspartei versus Friedenspartei. Wer obsiegt in diesem Schaukampf?
16. März 2025, www.ontopraxiologie.de.