Verlag OntoPrax Berlin

Vom „Kalten Krieg“ zur „heißen“ Konfrontation?

Die letzten Zuckungen der US-Hegemonie

Übersicht

1. „Die Maulwürfe der Geschichte graben blind“
2. Die Selbstisolation des „Westens“
3. Eine Zukunftsperspektive

Anmerkungen

„Russland und die USA: Die Partnerschaft ist nicht verfrüht, sondern
verspätet sich.“
(Andrej Kosyrew, 1994)1

1. „Die Maulwürfe der Geschichte graben blind“

Die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, die Auflösung des Warschauer Pakts am 1. Juli 1991 und die Selbstauflösung der Sowjetunion am 21. Dezember 1991 haben den Ost-West-Konflikt (1945-1990/91) unwiderruflich beendet. Der „Kalte Krieg“ blieb aber dessen ungeachtet voll intakt. Dass die Beendigung des Ost-West-Konflikts als ideologischer Systemwettbewerb nicht automatisch zum Ende des „Kalten Krieges“ als geopolitische Konfrontation geführt hat, diese Erkenntnis blieb der russischen Führungs- und Funktionselite der 1990er-Jahre weitgehend verborgen.

Die Bewunderung vor dem Westen schloss jeden Gedanken aus, dass der „Kalte Krieg“ nicht beendet wurde. Sie ging Hand in Hand mit dem blinden Glauben der postsowjetischen Gesellschaft an die „westliche Zivilisation“ und war Anfang der 1990er-Jahre beinahe grenzenlos.

„Damals bildete die Rückkehr nach Europa eine zentrale Achse der russischen Außenpolitik“, berichtete die Chronistin im Jahr 2000.2 „Wir streben nach einer Rückkehr nach Europa“ überschrieb Aleksandr Ruzkoj (der damalige Vizepräsident der RSFSR) seinen noch vor dem Untergang des Sowjetimperiums veröffentlichten Artikel. „Ohne jede Einschränkung diente der Westen als politisches, soziales und wirtschaftliches Modell.“3

Ein erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, wie erbittert sich die beiden bis auf die Zähne bewaffneten Militärblöcke während des Ost-West-Konflikts jahrzehntelang einander bekämpft haben. Die Bewunderung vor dem Westen wurde freilich nicht erwidert; sie war und blieb eine Einbahnstraße.

Die Pariser Charta vom 21. November 1990 verschleierte lediglich nach Meinung von Dmitrij Trenin eine neue, noch im Entstehen begriffene unipolare Weltordnung und Moskau gab sich der Illusion des gemeinsamen Sieges der UdSSR und der USA im „Kalten Krieg“ hin.4

Die Folgen des Endes der Systemkonfrontation wurde indes von Russland und dem Westen unterschiedlich bewertet. Zwar wurde der grenzenlose Glaube an den Westen in Russland nicht von allen geteilt. Und es fand eine Vertrauenskrise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bereits 1993 statt, als die Clinton-Administration das von Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen verkündete Ansinnen unterstützte, der Nato beizutreten.

Der Mainstream ging aber in Russland immer noch davon aus, dass mit dem Ende des ideologischen Systemwettbewerbs gleichzeitig auch der „Kalte Krieg“ zu Ende war. Das war aber geo- und sicherheitspolitisch eine gefährliche Illusion.

Erst allmählich fand der Wandel in der Wahrnehmung des Westens statt und manche ehem. sowjetischen und postsowjetischen Dissidenten stellten besorgt und enttäuscht fest, dass die postsowjetische Gesellschaft immer mehr auf Distanz zum Westen und der Nato ging.

Und so schrieben Jurij Orlow (1924-2020) und Galina Starowojtowa (ermordet 1998) 1997 retrospektiv in den Moskowskije nowosti: „Die Nato muss bis über den Ural hinweg erweitert werden. Am Ende des >Kalten Krieges< dominierte in Russland eine Atmosphäre des Optimismus und ein vitales Vertrauen gegenüber dem Westen. Die Menschen scherzten sogar, dass es nicht schlecht wäre, Gorbatschow gegen Reagan zu tauschen. Jetzt hört man solche Scherze nicht mehr.“5

Bereits diese Äußerung zeigt, wie begeistert und unbefangen zugleich das postsowjetische Russland anfänglich war und wie sehr man damals wie heute noch das Ende des Ost-West-Konflikts mit dem Ende des „Kalten Krieges“ gleichsetzte.

Freilich fand bereits um die Mitte der 1990er-Jahre eine außenpolitische Neubewertung der Stellung Russlands in der Welt, die mit der Ablösung von Außenminister Andrej Kosyrew und der Berufung von Jewgenij Primakow zu seinem Nachfolger im Januar 1996 einherging, statt. Primakows wichtigstes außenpolitisches Ziel war die Verhinderung der Nato-Osterweiterung.

Im Sinne dieser außenpolitischen Neubewertung beteuerte Aleksej Puschkow, der heute noch ein einflussreicher Senator und Außenpolitiker ist, 1997 selbstüberschätzend in der Nesawissimaja gaseta: „Die Nato beginnt Russland gegenüber offen eifersüchtig zu werden. Das Management der Irak-Krise durch Primakow zeigt, dass Moskau wieder ein Gegengewicht zu den amerikanischen Ansprüchen auf die Führung in der Welt bilden kann.“6

Von einem „Gegengewicht“ zu den USA im Jahr 1997 zu träumen, war allerdings nicht nur gewagt und illusionär, sondern auch ziemlich vermessen. Die unipolare Weltordnung war längst auf dem Vormarsch und Russland lag in den 1990er-Jahren ökonomisch, sozial und politisch am Boden, war viel zu schwach, um dem US-Hegemon im Wege stehen zu können. Bis heute strampelt es sich ab, um das verlorene Gegen- bzw. Machtgleichgewicht in Europa wiederherzustellen und hat dafür die Ausweitung des Krieges in der Ukraine riskiert.

Erst jetzt im Jahr 2024 kann man als Folge des Ukrainekrieges von einer möglichen Herausbildung eines Machtgleichgewichts in Europa sprechen. Der Krieg in der Ukraine löste zudem zur Überraschung aller eine geopolitische Revolution aus7 und hat das Ende und nicht den Anfang des „Kalten Krieges“, wie Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow neuerlich behauptete, eingeleitet, wodurch Europa und die Welt in noch unruhigere Gewässer mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden geraten könnten.

Freilich gab es schon Ende 1992 warnende Einzelstimmen im postsowjetischen Russland, die treffsicher diagnostizierten, dass der „Kalte Krieg“ bei weitem noch nicht zu Ende war. Er nahm ihrer Meinung nach nur eine andere Gestalt an:

„Den Interessen des Westens entspricht der Zerfall der UdSSR, die Restauration des Kapitalismus in Russland, der Verlust des Schutzschildes aus Atomraketen und des wissenschaftlich-technischen Potentials, die forcierte Verlagerung der zwischenstaatlichen Beziehungen in dem Bereich des wirtschaftlichen Wettbewerbs, in dem der Westen hofft, Russland als einen Konkurrenten auf den Weltmärkten zu schwächen und es in die Abhängigkeit einer bloß nachholenden Entwicklung zu drängen. Die beiden ersten Ziele des Westens sind – nicht ohne unsere Hilfe – schon fast erreicht. Jetzt strebt er danach, den Schutzschild Russlands aus Atomraketen zu demontieren, kommt an die Vorratskammern der russischen Wissenschaft und Technik heran und errichtet bereits Hindernisse in jenen begrenzten Bereichen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die Russland eine Perspektive weisen. Die eigennützigen Interessen des Westens in seiner Russlandpolitik sind nicht verschwunden, die entwickelten Länder sind heute und in nächster Zeit nicht bereit, in Russland einen zuverlässigen und natürlichen Verbündeten zu sehen, sie mischen sich immer häufiger in seine inneren Angelegenheiten ein, und wer weiß schon sicher, welche wahren Absichten und Ziele der Westen in Bezug auf das neue Russland verfolgt?“8

Dieser mutmaßlichen Fortsetzung des „Kalten Krieges“ folgend, veröffentlichte die Prawda am 24. Februar 1992 einen Artikel unter dem vielsagenden Titel „Die Maulwürfe der Geschichte graben blind.“9 Die 1992 nur von wenigen vermutete Fortsetzung des „Kalten Krieges“ mit anderen Mitteln dauerte praktisch bis zur Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine am 24. Februar 2022. Heute geht er erst zu Ende.

Und was auch immer danach kommt, wird nicht mehr „kalt“ bleiben, zumal es auch jetzt schon im Ukrainekonflikt ziemlich „heiß“ zugeht. Immer tiefer geraten wir in eine Konfrontation, die immer mehr außer Kontrolle gerät. Das Ende des „Kalten Krieges“ läutet zugleich das Ende der US-Hegemonie ein!

2. Die Selbstisolation des „Westens“

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine spielen erneut wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts Bedrohungsszenarien zunehmend eine große Rolle, die von interessierten Kreisen propagandistisch ausgeschlachtet werden.

Russland bedrohe Europa und die ganze Welt und wir müssen alles tun, um diese Gefahr abzuwehren, suggerieren die von den Transatlantikern beherrschten Mainstream-Medien. Die Sicherheitspolitik wurde immer schon von Gefahreneinschätzungen und Zwangsvorstellungen dominiert. Umso mehr geschieht das heute im Zeitalter des „Postfaktischen“ und der sog. „Alternativwahrheiten“, wobei Gefahren und Bedrohungen eingebildet, Obsessionen aber durch Indoktrination und ein verzerrtes Realitätsbild ziemlich real sein können.

Es liegt in der Natur aller sicherheitspolitisch indoktrinierten Zwangsvorstellungen, dass sie sich als Abwehr vermeintlicher oder eingebildeter Gefahren ausgeben, um die eigene aggressive expansionistische Außenpolitik zu verschleiern. Man schafft dadurch eine seltsame Verbindung zwischen einer imaginären Gefahr und Bedrohung und einer bewussten Inkaufnahme dieser Gefahr infolge eines unaufhaltsamen Expansionsdrangs.

Genau diese westliche bzw. US-amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik fand in den vergangenen drei Jahrzehnten statt. Man könnte darum die These wagen, dass eine instrumentalisierte Gefahrenfurcht und Expansionsbestrebungen komplementär sind. Sie prägen die US-Russlandpolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts mit steigender Tendenz. Um die vermeintliche „russische Gefahr“10 von vornherein und für alle Zeiten auszuschließen, glaubten die USA mit ihrer Nato-Allianz gen Osten expandieren zu müssen.

Schon zu Beginn der „Flitterwochen“ zwischen den USA und dem postsowjetischen Russland entwarf Paul D. Wolfowitz 1992 ein Strategiepapiere, in dem schwarz auf weiß stand: Das Ziel der US- Außenpolitik sei „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“11

Was Wolfowitz hier forderte, ist nichts anderes als eine vorweggenommene und von der Clinton-Administration schließlich auch umgesetzte Expansionspolitik sozusagen als eine US-amerikanische Variante des sog. „deutschen Drangs nach Osten“. Dieser „Drang“ endete für die Deutschen im 20. Jahrhundert bekanntlich in einer Katastrophe und er wird für die US-Amerikaner im 21. Jahrhundert auch mit einem Desaster enden. Sie haben das nur noch nicht begriffen.

Es ist wohl ein offenes Geheimnis, dass das außenpolitische US-Establishment keine Ahnung von der europäischen bzw. deutschen Geschichte hat. Sonst hätte es zweimal überlegt, Russland mit ihrer Ukrainepolitik auf den Pelz zu rücken. Sonst hätte es sich von Bismarck belehren lassen, der immer schon davon überzeugt war, dass ein Krieg mit Russland ein Unglück sein werde. Deutschland könne dabei „nichts gewinnen, nicht einmal die Kosten dieses Krieges.“

„Bismarck und Moltke betonten bei jeder Gelegenheit, dass sogar ein siegreicher Krieg gegen Russland ein Unglück und ein Fehler sein werde.“12 Umso mehr trifft dieses Urteil im nuklearen Zeitalter zu. Im Ukrainekonflikt können die USA und ihre EU-europäischen Nato-Bündnisgenossen nur verlieren und nichts gewinnen, sollten sie weiterhin auf Expansion und Eskalation setzen.

Die Biden-Administration hätte mehr erreicht, hätte sie sich, statt Russland zu provozieren und ungebrochen auf die Nato-Expansion zu setzen, Bismarcks Russlandpolitik zu eigen gemacht. In seinem Abdankungsgesuch vom 18. März 1890 zog Bismarck das Fazit seiner Russlandpolitik: „Ich habe mich stets bemüht, nicht nur die Sicherstellung gegen russische Angriffe, sondern auch die Beruhigung der russischen Stimmung und den Glauben an den inoffensiven Charakter unserer Politik zu pflegen.“13

Bismarcks Empfehlung haben sich die USA nicht nur nie zu eigen gemacht, sie haben davon auch nie gehört. Dessen ungeachtet ist nichts von Dauer. Die USA sind eingefleischte Opportunisten. Sollte es um ihr eigenes geopolitisches Überleben gehen, werden sie mit den Russen und im Zweifel zu Lasten der EU-Europäer einigen. Auf der Strecke werden dann die EU-Europäer bleiben, denen es an geo- und sicherheitspolitischer Urteilskraft mangelt.

Und was die russische Außenpolitik betrifft, so sind die Zeiten, in denen man – wie Dmitrij Trenin 2010 – das „Fehlen einer eigentlichen Strategie“ beklagte, die „unausweichlich zu einer reaktiven Außenpolitik (führt)“14, unwiderruflich vorbei. „Moskau fehlt“ – kritisierte Trenin (ebd.) „eine positive Agenda, es verfügt nur über eine negative“, die sich „auf einige wenige Positionen (konzentriert):

  1. keine Erweiterung der Nato um die Länder der GUS, weder die Ukraine noch Georgien dürfen in die Allianz aufgenommen werden;
  2. keine amerikanischen Stützpunkte in GUS-Ländern und keine amerikanischen Positionen in der Nähe der russischen Grenze, wie die Radarabwehrsysteme in Ostmitteleuropa;
  3. keine militärische Unterstützung für die Gegner Russlands …“

Diese negative Agenda wurde mittlerweile längst durch eine positive mit dem Auf- und Ausbau der internationalen Institutionen wie BRICS und SOZ ergänzt, die zu den vom Westen dominierten Einrichtungen parallel errichtet und erweitert werden, von der mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ausgelösten geopolitischen Revolution ganz zu schweigen.

Vierunddreißig Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Demontage des Eisernen Vorhangs errichtet der zur transatlantischen Gemeinschaft mutierte „Westen“ erneut einen Eisernen Vorhang, um Russland vom Rest der Welt wegen seiner Invasion in die Ukraine zu isolieren.

Sie merkt dabei nicht, dass sie sich selbst isoliert und damit das Ende des „Kalten Krieges“ besiegelt. Denn der Rest der Welt lässt sich nicht von Russland isolieren. Ganz im Gegenteil: Der „Globale Norden“ (мировой Север), wie Dmitrij Trenin Russland nennt, und der sog. „Globale Süden“ vernetzen sich, pflegen immer engere Beziehungen zueinander und bauen von der transatlantischen Gemeinschaft unabhängige internationale Institutionen auf. Die letzten Zuckungen der US-Hegemonie finden vor unseren Augen statt und die Selbstisolation der EU-Europäer und der USA ist der Beweis dafür.

3. Eine Zukunftsperspektive

Die geopolitisch gestresste Gegenwart ist Folge der zusammengebrochenen unipolaren Weltordnung, die die USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts errichtete, die aber infolge des Ukrainekrieges ihrem Ende zusteuert. Eine Transformation der unipolaren Weltordnung in eine andere ist unausweichlich geworden, wodurch zahlreiche Spannungen zwischen unterschiedlichen Machtzentren und Ordnungsgefügen entstehen.

Die mit-, neben- und gegeneinander bestehende UN-Völkerrechts- und US-Hegemonialordnung sind längst dysfunktional geworden und erleiden seit langem einen Erosionsprozess. Zwar entstehen neue internationale Einrichtungen wie BRICS und SOZ. Sie stellen aber nur eine Teilordnung dar und können den universalen Charakter der UN-Ordnung und den hegemonialen Charakter des vom US-Hegemon dominierten unipolaren Ordnungsgefüges (noch) nicht substituieren.

Diese drei parallellaufenden Ordnungen können die zahlreichen Konflikte und Krisen nicht einhegen, weil sich die sie repräsentierenden Machzentren Washington, Peking, Moskau und Brüssel gegenseitig blockieren und/oder erbittert bekämpfen.

Der entstandene ordnungspolitische Wirrwarr lässt sich nicht einfach mit einem Schlag überwinden. Die UN-Ordnung hat einerseits an ihrer Wirkungsmacht eingebüßt. Der „allmächtige“ US-Hegemon hat andererseits (noch) genügend destruktive Kraft, die Welt in Schutt und Asche zu legen, verliert aber zunehmend seine weltpolitische Gestaltungskraft. Die eurasisch-pazifischen bzw. nichtwestlichen Groß- und Mittelmächte bauen wiederum im beschleunigten Tempo international agierende Machtstrukturen, sind aber nicht soweit, um geopolitisch und geoökonomisch offensiv und wirkmächtig agieren zu können.

Und Europa? Europa ist verzwergt und ist geopolitisch bedeutungslos geworden. Das geopolitische Machtkartell des „Westens“ ist eine pure Fiktion, weil allein die USA weltpolitisch handlungs- und entscheidungsfähig sind.

Die Welt befindet sich in einer Übergangsphase und keiner weiß genau, was kommt. Wir können nur mutmaßen, was in naher Zukunft passiert. Die geopolitische Handlungsfähigkeit verdanken die USA neben ihrer militärischen Macht vor allem ihrer monetären Vormachtstellung. Das heißt aber, dass die USA ihre Weltleitwährung Dollar um jeden nur denkbaren (und undenkbaren) Preis verteidigen werden. Verlieren die USA ihre monetäre Vorherrschaft, werden sie weder geoökonomisch noch geopolitisch überleben. Betrachtet man die USA allein von diesem monetären Standpunkt aus, so geht es um Leben oder Tod der US-Welthegemonie.

Die UN-Völkerrechtsordnung, sofern es um Krieg und Frieden geht, hat keine Zukunft mehr. Sie wird womöglich in ein neues antihegemoniales Weltordnungssystem der Nach-der-unipolaren-Weltordnung transformiert und dadurch sich den neuen, geoökonomischen und geopolitischen Machtkonstellationen angepasst. Ein solches antihegemoniales Weltordnungssystem könnte das Gleichgewicht der Groß- und Mittelmächte wiederherstellen und – mit Metternich gesprochen – „uns das Schauspiel der vereinten Anstrengungen mehrerer Staaten gegen die jeweilige Übermacht eines Einzelnen (bieten), um die Ausbreitung seines Einflusses zu hemmen und ihn zur Rückkehr in das gemeinsame Recht zu zwingen.“15

Das jahrhundertelang praktizierte „Geschäftsmodell“ der europäischen Großmächte und der USA, den globalen Raum unter sich zu verteilen bzw. umzuverteilen, mittels einer ökonomischen und militärischen Expansion und dank der technologischen Überlegenheit zu beherrschen, hat mittlerweile ausgedient.

Selbst die der transatlantischen Gemeinschaft noch übrig gebliebene „friedliche Waffe“: Demokratie und Menschenrechte, mit deren Hilfe immer noch versucht wird, die als „westliche Werte“ verklärten „westlichen Standards“ je beharrlicher, umso erfolgsloser dem Rest der Welt zu oktroyieren, zieht nicht mehr.

Immer deutlicher wird, dass die weltpolitische Entwicklung der Gegenwart auf Spaltung hinausläuft und auf dem besten Wege ist, den globalen Raum mindestens in zwei antagonistischen Ordnungsstrukturen zu zerlegen: die eurasisch-pazifischen und die transatlantisch-pazifischen. Alles scheint auf einen monetären, technologischen, ideologischen, militärischen und ökonomischen Entkopplungsprozess hinauszulaufen.

Die EU läuft Gefahr mittel- bis langfristig als ein monetärer, politischer und Wirtschaftsraum nicht zu überleben und zu zerfallen, wodurch alle ärmer und dadurch aggressiver werden.

Solange es keinen globalen Krieg gibt, wird die geopolitische Rivalität „friedlich“ über Wirtschafts- und Handelskriege und/oder über einen mit „Alternativwahrheiten“ unterlegten Desinformationskrieg ausgetragen. Diese „friedlichen“ Kampfmittel haben allerdings eine erbarmungslose Logik der Eskalation, die zu regionalen Kriegen ebenso, wie zu einem globalen Krieg führen könnte.

Der Untergang des Sowjetimperiums holt heute auch den Westen ein. Der geglaubte „Sieg“ über den ideologischen Systemrivalen erweist sich immer mehr als Pyrrhussieg. Im Glauben, es kann, wie immer, so weiter gehen und der „Westen“ kann seine Dominanz über die ganze Welt ausdehnen, hat er die Zeichen der Zeit verkannt, weil er Opfer der eigenen Selbstüberschätzung und Selbstidealisierung geworden ist. „Aller Idealismus“ ist aber – lehrte uns Nietzsche – „die Verlogenheit vor dem Notwendigen“.

Die ideologische, geoökonomische und geopolitische Rivalität führt ins Nirgendwo, da ihr eine affirmative Gestaltung einer neuen Weltordnung fehlt. Was morgen entsteht, ist weder Postmoderne noch ein Gegenentwurf zur „westlichen Zivilisation“ und schon gar nicht eine erneuerte „liberale Weltordnung“.

Was morgen entsteht, sind mehrere selbstständig und global agierenden, von- und gegeneinander abgegrenzten Raummächte. Sie bleiben dauerhaft auf Konfrontationskurs unter ständiger Gefahr einer immer weiterdrehenden Eskalation oder einer gezielten Zuspitzung bis zum unvermeidbaren Zusammenprall der verfeindeten und bis auf die Zähne bewaffneten geopolitischen Rivalen. Die Welt wird ungemütlicher, immer vorausgesetzt, dass die Menschheit bis dahin überlebt.

Anmerkungen

1. Unter dem Titel „Russland und die USA: Die Partnerschaft ist nicht verfrüht, sondern verspätet sich“
veröffentlichte der russische Außenminister Andrej Kosyrew (1990-1996) einen Artikel in Izvestija am 11.
März 1994, in dem er apodiktisch beschied: „Es gibt keine vernünftige Alternative zur Partnerschaft, wenn
man nicht die historische Chance verpassen will, einen demokratischen russischen Staat zu schaffen und
die instabile postkommunistische Welt in eine stabile und demokratische zu verwandeln.“
2. Kobrinskaja, I., Der Westen in Russland: Dimensionen des außenpolitischen Diskurses, in:
Schulze, P. W. u. a. (Hg.), Die Zukunft Russlands. Staat und Gesellschaft nach der Transformationskrise.
Frankfurt/New York 2000, 367-412 (378).
3. Kobrinskaja (wie Anm. 2), 378.
4. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина
паблишер. Москва 2021, 134 f.
5. Zitiert nach Kobrinskaja (wie Anm. 2), 367.
6. Zitiert nach Kobrinskaja (wie Anm. 2), 367.
7. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
8. „Экономика России“. Spezialauflage der Zeitung Razvitije des Wirtschaftsministeriums der Russländischen
Föderation, Nr. 48, Dezember 1992. Zitiert nach Kobrinskaja (wie Anm. 2), 381.
9. Zitiert nach Kobrinskaja (wie Anm. 2), 381.
10. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022,<> www.ontopraxiologie.de.
11. Kubbig, B. W., Wolfowitz` Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK
7 (2004).
12. Zitiert nach Epstein, F. T., Der Komplex „Die russische Gefahr“ und sein Einfluss auf die deutsch-russischen
Beziehungen im 19. Jahrhundert, in: Geiss, I. u. a. (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. u. 20.
Jahrhunderts. 1973, 143-159 (152 f.).
13. Zitiert nach Epstein (wie Anm. 12), 155.
14. Trenin, D., Die Entwicklung der russischen „Westpolitik“ und ihre Lehren, in: Pleines, H. u. a. (Hrsg.),
Länderbericht Russland. Bonn 2010, 193-216 (211).
15. Zitiert nach Geiss, I., Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs
1815-1914. München/Zürich 1990, 42.

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