Weder Krieg noch Frieden
Übersicht
1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Frieden“
2. Vom „Kalten Frieden“ zum heißen Frieden
3. Europas Kolonialpolitik der Gegenwart
Anmerkungen
„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt,
der ist ein Verbrecher.“
(Bertold Brecht)
1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Frieden“
„Nicht Konfrontation, sondern Dialog“ (Не конфронтация, а диалог)! Unter dieser Überschrift veröffentlichte das Zentralorgan des russischen Verteidigungsministeriums „Красная звезда“ (Roter Stern) am 20. Februar 2001 ein Interview mit dem damaligen Nato-Generalsekretär, George Robertson (1999-2003). Darin widersprach er all jenen, die meinten, die Beziehungen zwischen der Nato und Russland als „Kalten Frieden“ zu bezeichnen.
Das Schlagwort hat eine lange Vorgeschichte und dessen Urheber war kein geringerer als Boris Jelzin, der die im Entstehen begriffene „transatlantische Sicherheitsordnung“ in Europa auf der am 5./6. Dezember 1994 stattgefundenen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Budapest verärgert als „Kalten Frieden“ charakterisiete.1
Die Spannungen zwischen Russland und der Nato-Allianz zeichneten sich bereits wenige Jahre nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ab.2 Robertson war also darüber bestens informiert, als er die Spannungen in seinem Interview herunterzuspielen versuchte.
„Moskau hat wiederholt gewarnt, dass eine weitere Osterweiterung der Nato Russlands militärpolitischen Interessen schaden würde“, sagte der Interviewer und fragte Robertson daraufhin: „Inwieweit ist die Nato bereit, Russlands Standpunkt in dieser Frage zu berücksichtigen? Wann könnten die nächsten Phasen der Allianzerweiterung stattfinden, und wen sehen Sie als mögliche Kandidaten für eine Aufnahme?“
Robertsons Antwort war erwartbar. Wie viele anderen vor und nach ihm sagte er beschwichtigend: „Es ist kein Geheimnis, dass die Nato-Erweiterung ein dringendes Thema in unseren Beziehungen bleibt. Dieses Problem ist jedoch eher eine Frage der Wahrnehmung als der Realität. Die Nato-Erweiterung als Ausweitung eines feindlichen Militärblocks darzustellen, der Russland >einkreisen< will, wie es manche in Russland immer noch gerne glauben, ist völlig falsch. Die Nato-Erweiterung ist ein organischer Prozess, ein Element der entstehenden neuen Sicherheitsarchitektur in Europa. Wie die Erweiterung der Europäischen Union soll dieser Prozess die Sicherheit aller in Europa stärken und nicht die Sicherheit eines einzelnen Landes gefährden. … Wir leben in einem Europa, das von Integrations- und von Kooperationsprozessen erfasst ist. In diesem neuen Europa gilt die alte Logik, der zufolge der Gewinn des einen der Verlust des anderen bedeuten muss, nicht mehr. Tatsächlich hat der Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik zur Nato zu einer allgemeinen Stärkung der Sicherheit und Stabilität in Europa geführt.“
Keine „Einkreisung“ Russlands! Die Nato-Osterweiterung bedeute eine „neue Sicherheitsarchitektur in Europa“, „Sicherheit aller in Europa“ und keine Gefährdung der „Sicherheit eines einzelnen Landes“! Und natürlich ist in „diesem neuen Europa … die alte Logik“ des „Kalten Krieges“ passe!
Hinter diesen wohlklingenden Worten verbarg sich eine klare Vernebelungsstrategie. Nichts stimmte an diesen beschwichtigenden und nichtssagenden Worten schon im Jahr 2001. Und das wussten alle: die Nato-Führung unter ihrem Generalsekretär, George Robertson, und die russische Führung unter Vladimir Putin.
Zuletzt hat Putin auf der 22. Jahrestagung des Internationalen Diskussionsklubs Valdai am 2. Oktober 2025 seine schon 2017 gemachte Äußerung wiederholt, dass Bill Clinton im Jahr 2000 auf seinen Vorschlag, der Nato beizutreten, einen solchen Beitritt Russlands zur Nato als „unrealistisch“ bezeichnet hat. Putin fügte hinzu, Clinton habe diese Möglichkeit während ihres Treffens zunächst in Erwägung gezogen, sie später aber verworfen.
Ob diese Erzählung stimmt oder nicht, sie hatte keinen Einfluss auf die langfristig angelegte Nato-Expansionsstrategie, die die ganze Zeit von der Vernebelungs- und Verschleierungstaktik begleitet wurde, sodass Martin A. Smith (Senior Lecturer in Defence and International Affairs at the Royal Military Academy Sandhurst) noch 2009 vom „Kalten Frieden“ gesprochen und unumwunden zugegeben hat: Es sei „passender, den derzeitigen Stand der Beziehungen zwischen der Nato und Russland mit Jelzins Begriff vom >Kalten Frieden< zu beschreiben.“3
2. Vom „Kalten Frieden“ zum heißen Frieden
Und dieser „Stand der Beziehungen“ dauerte nach 2009 noch dreizehn lange, quälende Jahre. Erst am 24. Februar 2022 ist der „Kalte Frieden“ zu Ende gegangen und in einen >heißen Frieden< übergegangen. Die seit dreißig Jahren andauernde Nato-Expansionspolitik hat Russland mit dem Krieg in der Ukraine gestoppt und die „Expansionsphase des Westens“ – den „Kalten Frieden“ -, die nahtlos in eine erneute „Konfrontationsphase“ (Carroll Quigley)4 übergegangen ist, die wir einen >heißen Frieden< nennen, beendet.
Die seit dem 24. Februar 2022 ausgebrochene „Konfrontationsphase“ findet mittlerweile nicht mehr nur zwischen Russland, Europa und den USA statt, sondern ist auch auf die ganze Welt übergegangen, hat daher eine planetarische Dimension eingenommen und ist darum mehr als nur ein sog. „hybrider Krieg“.
Die Welt befindet sich (noch) nicht in einem „Dritten Weltkrieg“ im herkömmlichen Sinne des Wortes, sondern (noch) im Zustand des Friedens, allerdings in dessen >heißer<, konfrontativer Phase, die wir eben >heißen Frieden< nannten. Was ist aber darunter zu verstehen?
Auf die Frage, wie hoch er die Kriegsgefahr für Deutschland einschätzt, reagierte Friedrich Merz am 29. September 2025 beim „Ständehaus-Treff“ der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf sichtlich verlegen mit der nichtssagenden Feststellung: „Ich will’s mal mit einem Satz sagen, der vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen schockierend ist, aber ich meine ihn genau, wie ich ihn sage: Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im Frieden“.
Ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, wiederholte Merz Trotzkis berühmten Slogan „Weder Krieg noch Frieden“ – eine Verhandlungstaktik, womit dieser bei den Friedensverhandlungen mit der deutschen Obersten Heeresleitung versuchte, ausgerechnet in der Frage der Gebietszugehörigkeit der Ukraine solange wie möglich eine Übereinkunft hinauszuzögern.
Die Reaktion der deutschen Seite ließ nicht lange auf sich warten. Am 18. Februar 1918 überschritten deutsche Truppen die russisch-deutsche Frontlinie, die seit dem Waffenstillstand vom 15. Dezember 1917 Bestand hatte, und besetzten die Ukraine, die sich bereits im Januar 1918 für unabhängig erklärt hatte.
Aufgrund der militärischen Überlegenheit des Deutschen Kaiserreichs musste der junge Sowjetstaat am 3. März 1918 einen sehr nachteiligen Friedensvertrag von Brest-Litowsk schließen, der den Verlust der Ukraine und weiterer Gebiete zur Folge hatte.
„Weder Krieg noch Frieden“ war freilich schon in der Antike ein Thema, das bereits Cicero in der 8. Philippika mit seinem berühmten Spruch problematisiert hat: „Inter pacem et bellum nihil est medium“ (Zwischen Frieden und Krieg gibt es nichts Mittleres).
Gibt es aber wirklich „nichts Dazwischen“ (nihil medium)? Diese Frage wurde Merz nicht gestellt. Er hätte auch große Schwierigkeiten, sie beantworten zu können. Denn dieses „nihil medium“ ist, will man Carl Schmitt folgen, eine „Situationsfrage. Es müsste also vorher gefragt werden, ob es denn in der gegebenen Sachlage wirklich kein Drittes gibt. Eine solche Zwischenmöglichkeit und Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden wäre natürlich eine Abnormität, aber es gibt eben auch abnorme Situationen.“5
Befindet sich Europa heute ebenfalls in einer solchen „abnormen Situation? Wenn ja, wie sieht sie denn aus? Es herrscht jedenfalls kein Frieden im Zustand der Friedlosigkeit an dessen Peripherie und wir leben mittlerweile schon wieder unter den Bedingungen einer feindseligen Koexistenz zwischen Russland und der EU wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“.
Es herrscht aber auch kein Krieg weder innerhalb der EU noch zwischen Russland und der EU, wohl aber ein Proxykrieg zwischen Russland und der transatlantischen Gemeinschaft – eine militärische Konfrontation auf dem an die EU angrenzen Gebiet und eine nichtmilitärische (propagandistische, ökonomische und finanzielle) Konfrontation, die man nichtssagend als „hybriden Krieg“ bezeichnet.
Die Nato-Allianz ist Kriegsteilnehmerin, aber keine Kriegspartei; in den Kämpfen indirekt involviert, ohne direkt zu kämpfen; gegenüber Russland feindselig eingestellt, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen.
Sie hat es mit ihren exzessiv geführten Wirtschafts-, Sanktions-, Informations- und Propagandakrieg und nicht zuletzt mit tonnenweisen Waffenlieferungen so weit getrieben, dass dadurch nicht nur die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischt werden, sondern auch die Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten irrelevant geworden ist.
Der „Kalte Frieden“ ist längst >heiß< geworden und in die Entmenschlichung des „aggressiven Russen“6 umgeschlagen. Diese „abnorme Situation“ eines Zwischenzustandes zwischen Krieg und Frieden ist kein „Normalzustand“, der sich irgendwann von selbst und automatisch auflöst.
Der „Normalzustand“ ist, wie schrecklich das auch klingen mag, ein Kriegs- und nicht Friedenszustand der Menschheit und in diesem Sinne ist auch Hobbes´ berühmter Satz zu verstehen: „homo homini lupus est“.
Diese historische Binsenwahrheit haben wir nach dem achtzig Jahre andauernden Frieden in Europa, sieht man von den Kriegen der 1990er-Jahre auf den Balkan mal ab, vergessen und/oder nicht mehr wahrhaben wollen. Dass der sog. „Normalzustand“ Kriegszustand ist, beweisen die um uns herum permanent tobenden Kriege, an die wir gewohnt sind und nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen.
Je nach Zählung gab es weltweit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 285 Konflikte. Ob all diese Konflikte als „Krieg“ zu bezeichnen wäre, ist nicht ganz klar, zumal die Grenzen zwischen Krieg und Frieden längst verwischt wurden.
Carl Schmitt nannte ein solches undefiniertes und undefinierbares Dazwischen einst die „berühmte englische Kunst der >indirekten Methode<“. „Jede abgrenzende Kennzeichnung militärischer sowohl wie nichtmilitärischer Aktionen als >friedlich< oder >kriegerisch< wurde sinnlos, weil nichtmilitärische Aktionen in wirksamster, unmittelbarster und intensivster Weise feindlicher Aktionen sein können, während umgekehrt militärische Aktionen unter feierlicher Verneinung jeder kriegerischen Gesinnung, jedes animus belligerandi vor sich gehen.“7
Und so können wir resümierend sagen: Der >heiße Frieden< ist ein Zwischenzustand, in dem feindselige Aktionen bereits in Friedenszeiten mit Kriegsführungsabsicht durchgeführt werden, ohne als „animus belligerandi“ (Kriegsführungswille) gelten zu wollen.
3. Europas Kolonialpolitik der Gegenwart
Es sei zu befürchten, dass ein solcher Zwischenzustand früher oder später eher in eine direkte militärische Konfrontation denn in eine friedliche, diplomatische Lösung des Konflikts übergeht. Die Zukunft bleibt, wie immer, ungewiss und Europa muss sich bald entscheiden: „Entweder – Oder“. „Weder Krieg noch Frieden“ ist keine Option mehr.
Aber weiß Europa überhaupt, was es realpolitisch will? Und sind die EU-Machteliten in der Lage, sich den Herausforderungen der sich rasant verändernden Welt gerecht zu werden?
Zu behaupten, dass die nach dem Untergang der Sowjetunion entstandene unipolare Weltordnung, die am 24. Februar 2022 abrupt zu Ende ging, ein Zeitalter des Friedens war, wäre gewiss eine große Übertreibung. Die EU-Europäer leben nicht erst seit 2022 in einem friedlosen Umfeld.
Spätestens seit dem Kosovo-Krieg 1999 gab es kein einziges Jahr mehr ohne Krieg und der letzte noch schwelende, von den USA und der Nato geführte Krieg im Afghanistan endete erst Ende August 2021 kurz vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine.
Die EU-Europäer nehmen freilich die Zeiten zwischen dem Ende des „Kalten Krieges“ und dem Kriegsausbruch in der Ukraine (1989/91-2022) nicht als Kriegszeiten, sondern ganz im Gegenteil als das Zeitalter von Frieden, Wohlstand und Prosperität wahr.
Sie betrachten die unter der US-Führung und mit ihrer tatkräftigen Beteiligung durchgeführten zahlreichen „humanitären Interventionen“ und Invasionen nicht als Kriege, sondern, wie zu Zeiten des europäischen Kolonialismus, lediglich als „legitime Strafexpeditionen“ zur „Befriedung“ der sog. „Schurkenstaaten“ (rogue states) im Namen der Demokratie und Menschenrechte.
Man erinnert sich nur an die Jahre lang andauernde, quälende Diskussion in Deutschland darüber, ob das, was in Afghanistan stattfindet, überhaupt ein „Krieg“ sei oder nicht. Erst nach dem Tod von drei deutschen Soldaten bei dem sog. „Karfreitagsgefecht“ bei Isa Khel in der Provinz Kunduz in Afghanistan am 2. April 2010 hat der jüngste Bundesverteidigungsminister der Republik, Karl-Theodor zu Guttenberg (2009-2011), den „Tabu-Bruch“ (Der Spiegel) begangen und verschämt von „Krieg“ in dem Land gesprochen.
Bei der Realität in der Region „kann man umgangssprachlich von Krieg reden“, sagte Guttenberg vor Journalisten in Bonn, berichtete Der Spiegel am 4.04.2010. „Umgangssprachlich“? Immerhin! Sein Amtsvorgänger, Franz J. Jung (2005-2009) sprach noch verharmlosend vom „Stabilisierungseinsatz“.
Wie auch immer, die EU-Europäer wollten bis heute nicht wahrhaben, wie sehr sie sich mit der Militarisierung ihrer Außenpolitik in den vergangenen dreißig Jahren immer mehr und immer tiefer in den Kriegen verwickelt und verstrickt haben.
Schlimmer noch: Sie merken gar nicht, dass sie infolge der propagierten Implementierung von Demokratie und Menschenrechten ihr koloniales Bewusstsein und ihr koloniales Gehabe reaktiviert haben, das nie verschwunden ist und immer schon im Verborgenen schlummerte.
Das Ende des europäischen Kolonialismus hat zwar „den Firnis allgültiger europäischer Ordnung zerstört, der für eine kurze Zeitspanne die Vielfalt der Welt überdeckte und vor den Augen allzu viele Europäer verbarg.“8 Das koloniale Bewusstsein blieb aber dessen ungeachtet genauso intakt, wie die Denkmuster des „Kalten Krieges“, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nie verschwunden sind und heute wieder voll und ungehemmt zum Vorschein kommen.
Der Irrweg der EU-Europäer, die sich von der Biden-Administration und den Briten unter ihrem Premier, Boris Johnson, in einen ostslawischen Konflikt auf ukrainischem Boden hineinziehen ließen9 und jetzt nicht wissen, wie sie daraus kommen, zeigt zur Genüge, wie wenig sie aus den Lektionen des europäischen Kolonialismus und den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gelernt haben und wie verhängnisvoll es ist, ihre aus dem „Kalten Krieg“ stammenden Ressentiments gegen Russland nicht überwunden zu haben. Und nun kam ein reaktiviertes Kolonialbewusstsein noch hinzu.
Der Beginn dieser Entwicklung hat ein genaues Datum und einen Tatort: Der Kosovo-Krieg 1999. „Gerade der Kosovo ist in vielerlei Hinsicht das Pilotprojekt dieses Neoliberalen Kolonialismus, der mittlerweile auch in anderen Ländern durchexerziert wird“, schrieb Jürgen Wagner in seiner 2007 veröffentlichten und immer noch lesenswerten Studie „Europas erste Kolonie“10.
Seit dem Kosovo-Krieg 1999 wurde der Kosovo von der UNO verwaltet, bis es die EU infolge des sog. „Ahtisaari-Plans“ 2007 in ihre Obhut genommen hat. Sollte der Ahtisaari-Plan umgesetzt werden, würde mit dem Kosovo „eine dauerhaft von der Europäischen Union kontrollierte Kolonie“ entstehen, sagte Wagner (ebd.) 2007 voraus und sprach von der „Kolonisierung des Kosovo“.
„Direkt im Anschluss an den Angriffskrieg der Nato im Jahr 1999 wurde im Kosovo unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen ein Besatzungsregime etabliert, das sich von einer klassischen Kolonialverwaltung allenfalls dem Namen nach unterscheidet“ (ebd., 12). Bis heute wird die Nato-geführte KFOR (Kosovo Force) in Kosovo stationiert. 33 Staaten stellen aktuell rund 4.649 Soldaten, darunter auch die Bundeswehr.
Eine ähnliche Situation ist auch in Bosnien und Herzegowina zu beobachten, die auch zu einer Art EU-Protektorat geworden sind und derzeit von einem deutschen „Hohen Repräsentanten“, Christian Schmidt, >beaufsichtigt< wird, der über weitreichende Vollmachten in der Gesetzgebung und bei der Besetzung und Abberufung von öffentlichen Ämtern verfügt.
Zwar sind die Kosovo-Frage und die Probleme in Bosnien und Herzegowina in der medialen Öffentlichkeit kaum noch vernehmbar. Das koloniale Gehabe der EU-Machteliten ist dadurch aber nicht geringer geworden. Das zeigt sich insbesondere im seit 2014 schwellenden Ukrainekonflikt zwischen Russland und Europa bzw. den USA, der 2022 in einen Krieg ausartete.
Die EU verklärt den Ukrainekrieg als einen Kampf zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“ gegen den russischen „Neoimperialismus“, der angeblich eine Wiederherstellung des Russischen bzw. Sowjetimperiums anstrebe und Europa bedrohe.
In Wirklichkeit verfolgt die EU aber eine knallharte Machtpolitik und will ihre ukrainische „Beute“ nicht einfach aufgeben, nachdem sie bereits hunderte Milliarden Euro in den Krieg „investiert“ hat.
Deswegen wehrt sie sich so vehement sowohl gegen eine neue Ukraine- und Russlandpolitik der Trump-Administration, die auf Diplomatie setzt, als auch gegen eine Teilbesetzung der Ukraine durch Russland. Russlands Hinweis darauf, dass die Abspaltung des Kosovo von Serbien als Vorbild dienen kann, lässt die EU nicht gelten und lehnt rigoros diesen Vergleich als unzulässig ab.
Sie begründet es damit, dass „die Lösung im Kosovo keinen Präzedenzfall im internationalen Recht“ sei, „da er sich seit 1999 unter UN-Verwaltung befindet (und damit) keinesfalls vergleichbar ist mit der Situation in anderen Konfliktregionen, die nicht unter der Verwaltung der Vereinten Nationen stehen.“11
„Es ist geradezu dreist“, empörte sich Wagner (ebd., 17), „den Nato-Angriffskrieg und die UN-Kolonialbesatzung als Vorbedingungen für die Teilung eines souveränen Staates zu deklarieren. Ziel ist es deshalb …, anhand der Kosovo-Statusfrage einen Präzedenzfall zu schaffen, mit dem die Europäische Union allenfalls noch in Absprache mit den USA, das alleinige Recht für sich reklamiert, je nach Opportunität darüber zu befinden, wann das Selbstbestimmungsrecht und wann das staatliche Souveränitätsrecht in bestimmten Konflikten greifen soll.“
Das ist genau der springende Punkt, vor dem wir heute im Ukrainekonflikt stehen. Die EU maß sich an, auch jetzt allein darüber zu entscheiden, wann das Selbstbestimmungsrecht und wann das völkerrechtliche Grundprinzip der territorialen Integrität gelten soll und darf. Weil es im Kampf gegen Russland, opportun erscheint, das territoriale Integritätsprinzip vorrangig zu behandeln, wird eine Teilung der Ukraine mit Verweis auf dieses völkerrechtliche Grundprinzip kategorisch abgelehnt.
Damit wird der Gleichheitsgrundsatz in Kolonialherren-Manier durch ein Opportunitätsprinzip substituiert und entlang der eigenen Machtinteressen angewandt. Hier kommt das koloniale und imperiale Machtgehabe aus der Versenkung zurück.
Es ist gar nicht lange her, dass man von Europa als „Imperium der Zukunft“ (Alan Posener) träumte12. Kein geringerer als der ehem. Präsident der Kommission, Jose Manuel Barroso (2004-2014), hat sich einst diese Sprachregelung zu eigen gemacht: „Europa ist ein Imperium.“13
Seine imperialen Träume konnte der Portugiese gegen Ende seiner Amtszeit in der sog. „Maidan-Revolution“ voll verwirklicht sehen. Bereits Ende November 2013 war er aufgebracht, als er nach dem Scheitern des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine in Richtung Russland schimpfte: „Wir können kein Veto eines anderen Landes akzeptieren.“ Die Zeit der „eingeschränkten Souveränität“ sei in Europa vorbei.
Seine Amtsnachfolgerin, Ursula von der Leyen, stand ihm in nichts nach, als sie am 27. Juni 2022 am Rande des G7-Gipfels auf Schloss Elmau in Bayern hochtrabend verkündete: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Präsident Putin diesen Krieg nicht mehr gewinnen kann. Putin müsse in der Ukraine eine „strategische Niederlage“ erleiden.
Nun ja, die Deutsche wird heutzutage eines Besseren belehrt. All die Träume von Europa als „Imperium“ sind wie eine Seifenblase geplatzt, längst ausgeträumt und gehören der Vergangenheit an. Die EU sitzt bei den Friedensverhandlungen am Katzentisch und wird, wie die Verhandlungen zwischen Trump und Putin unter Ausschluss der EU zeigen, auf ihr (verzwergtes) Normalmaß reduziert.
Nur eines ist noch übriggeblieben: ein unzeitgemäßes koloniales Bewusstsein und die verbalen Drohgebärden der Eurokraten in Richtung Russland, die nach innen gerichtet sind und den Völkern Europas eine globale Handlungsfähigkeit suggerieren, hinter der sich nichts weiter als Ohnmacht verbirgt, vermischt mit einer kaum zu übertreffenden Selbstüberschätzung und Hochmut.
Anmerkungen
!. Zitiert nach Silnizki, M., Vom „Kalten Frieden“ zum „Kriegsfrieden“? Zwischen Hochmut und Ratlosigkeit.
17. August 2024, www.ontopraxiologie.de.
2. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 1).
4. Siehe zur Zivilisationstheorie von Carroll Quigley Silnizki, M., Von der „Expansionsphase“ zur
„Konfrontationsphase“, in: des., Im Wandel der Nachkriegsordnungen. Auf dem Wege zu einem
zivilisatorischen Pluriversums? 28. September 2025, www.ontopraxiologie.de.
5. Schmitt, C., „Inter pacem et bellum nihil est medium“, des., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum
Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978. Berlin 1979, 629-641 (631).
6. Vgl. Silnizki, M., „Der aggressive Russe“. Die ewige Wiederkehr des Gleichen. 27. September 2025,
www.ontopraxiologie.de.
7. Schmitt (wie Anm. 5), 632.
8. Lüthy, H., In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln Berlin 1967, 268.
9. Vgl. Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022,
www.ontopraxiologie.de; des., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-
Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
10. Wagner, J., Europas erste Kolonie. Der Ahtisaari-Bericht zur Kosovo-Statusfrage und der völkerrechtliche
Amoklauf der „internationalen Gemeinschaft“, in: IMI-Magazin – Dezember 2007, 11- 18 (11).
11. BERICHT zur Zukunft des Kosovo und die Rolle der EU 2007, S. 5; zitiert nach Wagner (wie Anm. 10), 17.
12. Posener, A., Imperium der Zukunft: Warum Europa Weltmacht werden muss. 2007.
13. Zitiert nach Wagner (wie Anm. 10).