Verlag OntoPrax Berlin

Vom „Kalten Frieden“ zum „Kriegsfrieden“?

Zwischen Hochmut und Ratlosigkeit

Übersicht

1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Frieden“?
2. Zwei Perioden des „Kalten Krieges“
3. Auf dem Wege zum „Kriegsfrieden“?

Anmerkungen

„Zwischen dem Gleichgewichtsfrieden und dem imperialen Frieden liegt der
hegemoniale Frieden. Das Fehlen des Krieges ist nicht auf die ungefähre
Kräftegleichheit zurückzuführen, die zwischen den politischen
Einheiten herrscht …, es liegt ganz im Gegenteil an der
unbestreitbaren Überlegenheit einer dieser Einheiten.“
(Raymond Aron)1

1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Frieden“?

Die spannungsgeladenen russisch-transatlantischen Beziehungen analysierend, schreibt Martin A. Smith (Senior Lecturer in Defence and International Affairs at the Royal Military Academy Sandhurst) 2009:

Es sei „passender, den derzeitigen Stand der Beziehungen zwischen der NATO und Russland mit Jelzins Begriff vom >Kalten Frieden< zu beschreiben. Einerseits besteht keine echte Bedrohung durch einen großen Krieg zwischen beiden Seiten und auch keine echte globale, ideologische Konkurrenz. Das waren zwei der Hauptmerkmale des Kalten Kriegs. Auf der anderen Seite haben es die NATO und Russland während ihrer achtzehnjährigen Koexistenz noch nicht geschafft, eine Partnerschaft aufzubauen, die stark genug wäre, um von Kontroversen in wichtigen Themen nicht mehr beeinträchtigt zu werden, oder, besser noch, als Instrument zu dienen, um Kontroversen auszuräumen und gemeinsame Lösungen zu finden.“2

Achtzehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts diagnostiziert Smith mit Verweis auf Boris Jelzin einen Wandel vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Frieden“. Definiert er den Zustand des „Kalten Krieges“ durch zwei „Hauptmerkmale“ einer nuklearen Bedrohung und eines ideologischen Systemwettbewerbs, so fällt die Definition des „Kalten Friedens“ aus. Es wird lediglich auf die fehlende „Partnerschaft“ hingewiesen, „die stark genug wäre, … um Kontroversen auszuräumen und gemeinsame Lösungen zu finden“.

Dass diese fehlende „Partnerschaft“ heute in eine regelrechte Feindschaft ausartete, konnte Smith im Jahr 2009 noch nicht erahnen. Oder doch? Hätte er das voraussehen können, so müsste er gewusst haben, was eigentlich genau im Jahr 1991 zu Ende gegangen ist und welche geo- und sicherheitspolitische Ordnung sich in den Jahren 1991-2009 herausgebildet hat, die Jelzin auf der am 5./6. Dezember 1994 stattgefundenen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Budapest verärgert als „Kalten Frieden“ bezeichnete.

Bereits im Vorfeld der Konferenz haben zwei Ereignisse das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Budapest überschattet: die Rede des US-Außenministers Warren Christopher (1993-1997) und die demonstrative Weigerung des russischen Außenministers Andrej Kosyrew (1990-1996), das Russland-Nato-Programm zu „starten“.

Am 1. Dezember 1994 hielt Christopher bei der Tagung im Nato-Hauptquartier in Brüssel eine Rede, in der er zwei Prinzipien der „transatlantischen Sicherheit“ (wohl gemerkt: der „transatlantischen“ und nicht der gesamteuropäischen Sicherheit) verkündete: (1) Die Nato bleibe der Anker des US-Engagements in Europa und der Kern der transatlantischen Sicherheit und (2) das fortdauernde US-Engagement für die europäische Integration. Die Zusammenarbeit zwischen der Nato und der EU sind entscheidende Elemente dieses Engagements.

Dies vorausgeschickt, stellte Christopher fest: „Die Nato war schon immer weit mehr als nur eine vorübergehende Antwort auf eine vorübergehende Bedrohung. Sie war ein Garant für die europäische Demokratie und die Kraft für die europäische Stabilität.“ Aus dieser Feststellung zieht er eine weitreichende Schlussfolgerung, die auf die Nato-Expansionspolitik hinausläuft:

„Wie Präsident Clinton und Vizepräsident Gore betont haben, muss die Nato für eine Expansion offen sein (As both President Clinton and Vice President Gore have emphasized, NATO must be open to expansion). Eine Ausgrenzungspolitik würde Gefahr laufen, die alten Trennlinien in ganz Europa zu erhalten bzw. neue zu schaffen. … Die USA sind der Ansicht, dass es an der Zeit ist, diesen Prozess in Gang zu setzen. … Es ist zwingend erforderlich, dass wir uns als Allianz auf unsere Ziele und unseren Zweck in dieser historischen Entwicklung einigen. Wir beschließen heute, dass die Allianz mit ihren internen Beratungen über die Expansion beginnt (We are deciding today that the Alliance begin its internal deliberations on expansion). … Der Expansionsprozess sollte stetig, wohlüberlegt und transparent sein. Jede Nation sollte individuell betrachtet werden. Kein Land außerhalb der Nato wird ein Vetorecht über die anderen haben (The process of expansion should be steady, deliberate, and transparent. Each nation should be considered individually. No country outside of NATO will have a veto over any other).“

Dreierlei machen Christophers Äußerungen deutlich: (a) Die Nato-Osterweiterungspolitik war für die Clinton-Administration bereits in den Jahren 1993/94 eine beschlossene Sache. (b) Es ging der US-Führung einzig und allein um die transatlantische und nicht um eine gesamteuropäische Sicherheit, von der die russische Führung unter Jelzin träumte. Die Überwindung der „alten Trennlinien in ganz Europa“ betraf ausschließlich Ostmitteleuropa, das zur transatlantischen Sicherheitsarchitektur gehören sollte. Russland gehörte nicht dazu. (c) Russland wird, ohne es beim Namen zu nennen, kein Vetorecht über den Nato-Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten eingeräumt. „No country outside of NATO will have a veto over any other.“

Genau diesen letzten Satz „No country outside of NATO …“ wiederholte Bill Clinton, als er auf der erwähnten Konferenz in Budapest vier Tage später am 5. Dezember 1994 erklärte: „Kein einziges Land außerhalb des Blocks darf ein Veto gegen die Nato-Erweiterungspläne einlegen“. Verärgert sprach Boris Jelzin daraufhin vom „Kalten Frieden“.

Am 6. Dezember 1994 berichtete die russische Tageszeitung Kommersant unter der Überschrift „В >холодном мире< не обойтись без новой стены“ (In einem „Kalten Frieden“ kommt man ohne eine neue Wand nicht aus) ausführlich und aufschlussreich über den Stimmungswandel in den russisch-amerikanischen Beziehungen an der stattfindenden Konferenz:

Die Unterschiede zwischen Russland und dem Westen werden immer deutlicher. In den letzten Tagen hat Moskau versucht, den KSZE-Beschluss (der nur einstimmig gefasst werden kann) zu blockieren, die KSZE-Friedenstruppen nach Karabach zu entsenden. Dies war eine Reaktion auf die Weigerung Europas, Russland in seinem eigenen „Hinterhof“ freie Hand zu geben. Die Motivation der KSZE ist einfach: Moskau hat keinen Anspruch auf den internationalen Status als Friedensstifter, weil es nicht bereit ist, dem allgemein anerkannten Grundsatz einer solchen Friedenssicherung zu folgen. …

Wir sprechen bereits über die Meinungsverschiedenheiten Moskaus mit dem Westen nicht allein in Bezug auf sein geopolitisches Verständnis. Gestern haben die baltischen Länder bei einem Treffen mit Christopher gedrängt, sie in die Nato aufzunehmen (ihnen wurde versichert, dass ihre Bitten ernsthaft geprüft würden). Und die Nato-Allianz ist bereit, Osteuropa in naher Zukunft in ihre Reihen zu integrieren.
Russland bleibt also fast der einzige blockfreie Staat in Europa (die GUS-Republiken nicht mitgerechnet). In Budapest waren Schlagworte und Begriffe zu vernehmen, die in Europa bereits in Vergessenheit geraten zu sein schienen, wenn man etwa an Christophers Äußerung denkt, dass von einem „Bruch mit Russland“ (о разрыве с Россией) keine Rede sein kann. Noch nicht.

Der US-Außenminister bestreitet, dass eine „Rückkehr zur Konfrontation im Kalten Krieg“ bereits begonnen habe. Wie weit sind wir schon gekommen, wenn eine solche öffentliche Widerlegung erforderlich erscheint. Es stellt sich nämlich heraus, dass „keine Rückkehr“ für manche doch nicht offensichtlich ist.

Der Präsident der EG-Kommission Jacques Delors warnt vor „einer neuen Isolation Russlands“. Es gäbe also noch keine Isolation, aber die Leute haben bereits begonnen, darüber zu reden … Und obwohl Jelzin selbst die Möglichkeit einer Rückkehr des Kalten Krieges bestreitet, schließt er einen „Kalten Frieden“, der die neuen Blöcke entstehen lässt, nicht aus. Und die neue Mauer wird weit östlich der Berliner Mauer verlaufen (Да и сам Ельцин, хотя и отрицает возможность возобновления холодной войны, „холодный мир“, расколотый на новые блоки, не исключает. И новая стена пройдет намного восточнее берлинской).

Nach Bill Clinton sprach Boris Jelzin. Und viele Journalisten, die über den Gipfel berichteten, sprachen alle davon, dass die beiden „aneinandergeraten“ sind. Der US-Präsident ließ alle diplomatischen Feinheiten beiseite und sagte: „Kein Land außerhalb des Blocks darf ein Veto gegen NATO-Erweiterungspläne einlegen.“ Der Adressat der Erklärung ist offensichtlich: Russland, das seit dem Frühjahr ein solches Recht anfordert. …

Mit anderen Worten: Die US-Haltung und die des Westens wurden klar definiert: Keine Kompromisse mit Moskau in Bezug auf die für Moskau grundlegendste Frage der Nato-Osterweiterung….

Jelzin sprach seinerseits von der Schaffung eines „umfassenden gesamteuropäischen Sicherheitssystems“ und betonte insbesondere, dass Blöcke und Koalitionen keine echten Sicherheitsgarantien bieten würden. Ihm zufolge widersprechen die Nato-Erweiterungspläne „der Logik“ der europäischen Einheit, weil sie neue Demarkationslinien schaffen und „Misstrauen säen“. Es ist auch schwer, der Tatsache zu widersprechen, dass Europa nach dem Ende des Kalten Krieges nicht in einen Zustand des „Kalten Friedens“ verfallen sollte.

Soweit der kenntnisreiche Bericht der russischen Zeitung Kommersant. Der Bericht macht deutlich, was Jelzin unter einem „Kalten Frieden“ verstanden hat: die US-amerikanische bzw. transatlantische Sicherheitspolitik, die kein Interesse an einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung hat und auf die Nato-Expansionspolitik gerichtet ist. Das war die russische Sicht auf die stattfindende Entwicklung der US-Sicherheitspolitik in Europa.

Die US-Geostrategen waren freilich einer ganz anderen Meinung. Für sie bedeutete die transatlantische Sicherheitsordnung und die gesamteuropäische Sicherheitsordnung, in der Russland außen vor war, ein und dasselbe. Hier prallten zwei sicherheitspolitischen Philosophien gegeneinander.

Der „Kalte Krieg“ setzte sich im Grunde unvermindert fort, ohne dass die beiden Seiten die ganze Entwicklung so richtig reflektiert haben. Die USA setzten sich aus ideologischen und geopolitischen Gründen über die russischen sicherheitspolitischen Bedenken hinweg und Russland musste seinerseits ohnmächtig zusehen, wie sich die Nato-Infrastruktur allmählich, aber unaufhaltsam Richtung Osten bewegt.

Jelzin blieb freilich auch nichts anders übrig, als den in Gang gesetzten Nato-Expansionsprozess euphemistisch als einen „Kalten Frieden“ zu bezeichnen. Nicht nur die russische Führung unter Jelzin, sondern auch manche westlichen Sicherheitsexperten haben selber, wie der oben zitierte Martin A. Smith auch zeigt, die ganze Tragweite des geo- und sicherheitspolitischen Wandels in Europa falsch eingeschätzt und nicht so richtig verstanden, was da eigentlich mit dem Zusammenbruch des Sowjet- und Weltkommunismus passierte.

2. Zwei Perioden des „Kalten Krieges“

Nicht der „Kalte Krieg“ war zu Ende; es fand lediglich dessen Transformation statt. Erst mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 neigt sich der sog. „Kalte Krieg“, der nunmehr neunundsiebzig Jahre lang dauert, dem Ende zu. Er teilt sich in zwei ungleiche Perioden:

  • Die erste, abgeschlossene Periode war die Periode des ideologischen Systemwettbewerbs unter den Bedingungen der bipolaren Weltordnung (1945-1991), innerhalb derer zwei Super- bzw. Nuklearmächte zwei verfeindete Militärblöcke anführten, ein labiles Machtgleichgewicht – das sog. „Gleichgewicht des Schreckens“ – gewährleisteten und eine gewisse geopolitische Stabilität in Europa garantierten. Das war die bipolare Weltordnung der zwei Status quo-Mächte, die ein Eindringen der einen in den Einflussbereich der anderen von vornherein ausschloss.
  • Die zweite, noch nicht ganz abgeschlossene Periode ist eine Periode der geo- und sicherheitspolitischen Expansionspolitik unter den Bedingungen der unipolaren Weltordnung (1992-2022) als Folge des Untergangs des Sowjetimperiums und der Selbstauflösung des Warschauer Pakts. Diese Periode zeichnet sich durch die Entstehung eines neuen sicherheitspolitischen Ordnungsprinzips in Europa – des Machtungleichgewichts3 – aus, das die Expansionspolitik des einzig verbliebenen transatlantischen Militärblocks ermöglichte und dadurch eine immer schon latent vorhandene labile geo- und sicherheitspolitische Instabilität in Europa weiter destabilisierte.

Wurde die erste Periode des „Kalten Krieges“ (1945-1991) durch den Ost-West-Konflikt geprägt, so steht die zweite Periode (1992-2022) ganz im Zeichen einer Expansion der militärischen, zivilen und ideologischen Infrastruktur der transatlantischen Gemeinschaft gen Osten. Diese Expansionspolitik wurde von Russland mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine gewaltsam gestoppt und damit das Ende des „Kalten Krieges“ eingeläutet.

Die These vom Ende des „Kalten Krieges“ bedarf freilich einer genaueren Erläuterung. Der „Kalte Krieg“ begann als ideologische und geopolitische Konfrontation der zwei aus dem Zweiten Weltkrieg als Siegermächte hervorgegangenen Supermächte, die die Welt mehr oder weniger unter sich geteilt und dann die Spielregeln dieser bipolaren Weltordnung maßgeblich bestimmt haben.

Die Folge war die Teilung Europas, die vom Ost-West-Konflikt geprägt wurde, und die Teilung des globalen Raumes in zwei verfeindete ideologische Systeme, die oft am Rande einer direkten militärischen Konfrontation standen.

Diese erste Periode des „Kalten Krieges“ endete selbst zur Überraschung der meisten Sowjetexperten mit einem klang- und geräuschlosen Untergang einer der beiden Supermächte, womit der Ost-West-Konflikt und die bipolare Weltordnung das Zeitliche gesegnet haben. Das Kennzeichnen dieser ersten Periode – eine ideologische und geopolitische Konfrontation der zwei Supermächte – wurde damit gegenstandslos.

Nun schickte sich die einzig verbliebene US-Supermacht an, eine neue – unipolare – Weltordnung zu errichten. Euphorisch sprach der US-Präsident George Bush in seiner Rede vor dem US-Kongress am 11. September 1990 von „New World Order“ bezogen auf die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

In seiner Rede entwickelte er die Vision von einer „Neuen Weltordnung“, die „freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in dem Bestreben nach Recht und sicherer in der Suche nach Frieden“ sein sollte.

Unter der Führung der USA sollte laut Bush eine „beispiellose weltweite Kooperation“ entstehen. Diese „Neuen Weltordnung“ entpuppte sich bald als eine Weltordnung, die auf Konfrontation statt auf Zusammenarbeit, auf Expansion statt auf Kooperation setzte. Zu stark war die einzig verbliebene Supermacht zu Beginn dieser „Neuen Weltordnung“, zu schwach und ohnmächtig waren die anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Rivalen und Gegner.

Im Glauben, der ganzen Welt die Bedingungen dieser neuen Welt diktieren zu können, haben sich die USA übernommen. Vierunddreißig Jahre nach Bushs Rede, nach zahllosen Kriegen und Krisen, einem gigantischen Schuldenberg von mittlerweile mehr als 35 Billionen Dollar wurde aus einem Traum von einer „Neuen Weltordnung“ ein Alptraum für die US-Hegemonie.

Die unipolare Weltordnung erodiert in einem atemberaubenden Tempo: China fordert den schwächelnden US-Hegemonen geoökonomisch und technologisch heraus. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 stellte Russland sowohl die USA als hegemoniale Ordnungsmacht als auch die transatlantische Sicherheitsordnung in Europa in Frage.

Die Nato-Expansionspolitik, die die europäische Sicherheit eigentlich garantieren sollte, erwies sich als ein Bumerang, der statt Sicherheit Unsicherheit produzierte und statt Frieden Krieg in Europa provozierte.

Als wäre das nicht schon genug, wendet sich auch der sog. „Globale Süden“ immer mehr von den USA ab und es entstehen darüber hinaus parallel zu den von den USA und der transatlantischen Gemeinschaft dominierten Weltinstitutionen neue unabhängige Weltorganisationen wie die BRICS oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ).

Alles in Allem ist festzustellen, dass die unipolare Weltordnung ihrem Ende zusteuert und die USA alle Chancen haben, das Schicksal der Sowjetunion zu erleiden. Geht aber die US-Hegemonie unter, dann geht auch das Zeitalter des „Kalten Krieges“ zu Ende.

War die Ursache des „Kalten Krieges“ eine ideologische und geopolitische Konfrontation der zwei Supermächte und geht die übrig gebliebene Supermacht zugrunde, wofür einiges spricht, so würden dann zwei Hauptakteure des „Kalten Krieges“ fehlen. Die eigentliche Frage ist darum nicht, ob der „Kalte Krieg“ zu Ende geht, sondern was danach kommt.

3. Auf dem Wege zum „Kriegsfrieden“?

Wurden die globalen Prozesse in der ersten Periode des „Kalten Krieges“ (1945-1991) von den zwei Supermächten als Status-quo-Mächten maßgeblich bestimmt, die die Welt unter sich geteilt haben, und trat die einzig verbliebene US-Supermacht in der zweiten Periode (1992-2022) als eine Expansionsmacht auf, die sich anschickte, eine Hegemonialordnung ohne Rücksicht auf jedwede Status-quo-Allüren der dahindarbenden ehem. Supermacht zu errichten, so findet gerade vor unseren Augen, nachdem die Errichtung der Unipolarität als hegemoniales Weltordnungsprinzip missglückt war, ein Versuch der Errichtung eines globalen Machtgleichgewichts statt.

Dieser Versuch einer Globalisierung der europäischen Machtgleichgewichtsidee ist ein einmaliger Vorgang in der Menschheitsgeschichte, den es so noch nie gegeben hat. Ob dieser Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, ist alles andere als sicher. Nach dem Untergang der bipolaren Weltordnung und der gescheiterten Errichtung der unipolaren Welt stehen wir vor einer neuen ordnungspolitischen Entwicklung mit ungewissem Ausgang.

Der „Kalte Krieg“ neigt sich dem Ende zu. Die beiden weltbeherrschenden Hauptakteure des „Kalten Krieges“ spielen keine weltweit allein beherrschende Rolle mehr. Die Sowjetunion hat sich selbst freiwillig aufgelöst und trat von der Weltbühne der Geschichte bereits 1991 ab.

Die USA denken zwar nicht daran, ihre seit dem Untergang des ideologischen und geopolitischen Rivalen etablierte Hegemonialstellung freiwillig zu räumen. Es bleibt ihnen aber nichts anderes übrig, als ihre erodierende Weltmachtstellung zu akzeptieren. Zu stark sind die potenziellen Rivalen und Herausforderer geworden, zu schwach werden die USA mittlerweile auch militärisch.

Erst jüngst unterzogen Mark A. Milley (ehem. Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, 2019-2023) und Eric Schmidt (ehem. CEO von Google) in ihrer Studie „America Isn’t Ready for the Wars of the Future“ für Foreign Affairs vom 5. August 2024 die US-Kriegsfähigkeit einer eingehenden Analyse und kamen zu dem Schluss, dass die USA auf den Krieg der Zukunft „leider noch nicht vorbereitet sind“.

„Ihre Truppen sind nicht vollständig bereit, in einer Umgebung zu kämpfen, in der sie selten das Überraschungsmoment genießen. Ihre Jets, Schiffe und Panzer sind nicht ausgerüstet, um sich gegen einen Ansturm von Drohnen zu verteidigen. Das Militär hat sich die künstliche Intelligenz noch nicht zu eigen gemacht. Das Pentagon verfügt nicht annähernd über genügend Initiativen, um diese Versäumnisse zu korrigieren und seine derzeitigen Bemühungen kommen zu langsam voran. In der Zwischenzeit hat das russische Militär viele KI-betriebene Drohnen in der Ukraine eingesetzt. Und im April kündigte China seine größte militärische Umstrukturierung seit fast einem Jahrzehnt mit einem neuen Schwerpunkt auf dem Gebiet der technologiegetriebenen Streitkräfte an.

Wenn die USA die dominierende Weltmacht bleiben wollen, müssen sie schnell umsteuern. Das Land muss die Struktur seiner Streitkräfte reformieren. Das US-Militär muss seine Taktiken modernisieren und seine Führungsqualitäten weiterentwickeln. Es braucht neue Wege bei der Beschaffung von Ausrüstung. Es muss neue Arten von Ausrüstung kaufen und Soldaten besser für die Bedienung von Drohnen und den Einsatz von KI ausbilden.“

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Auflösung der US-Hegemonie friedlich oder kriegerisch verlaufen wird. Krieg oder Frieden? Das ist die Gretchenfrage. Momentan befinden wir uns in einer Übergangszeit, die man als einen friedlosen Frieden bezeichnen kann, der in einen „Kriegsfrieden“ übergehen könnte.

„Kriegsfrieden“ nannte der liberale Politiker und ehem. italienische Ministerpräsident Francesco S. Nitti (1919/20) einst eine geopolitische Gemengelage in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. In seinem 1925 erschienenen Werk „Der Friede“ stellte er mit Verbitterung fest: „Es ist nicht wahr, dass wir dem Frieden entgegengehen. Nie gab es in Europa so viele Gründe für einen Krieg wie jetzt, nie haben die Ungerechtigkeiten und die nach dem Kriege begangenen Irrtümer solch gärenden Hass vorbereitet wie jetzt.“4

Und er fügt warnend hinzu: „Nach dem Kriegsbankrott erlebten wir den Bankrott des Friedens. Der gegenwärtige Frieden ist nur eine Täuschung. Er bereitet die Elemente neuer, noch schlimmere Kriege vor.“ Denn „die im Jahre 1919 vollzogenen Friedensschlüsse waren Kriegsfrieden … Die Besiegten glauben nicht an ihre Aufrechterhaltung und auch die Sieger trauen ihnen nicht. Das gegenwärtige Europa ist voller Hassgefühle.“5

„Das gegenwärtige Europa ist voller Hassgefühle“! Diesen Satz können wir auch heute mit Fug und Recht behaupten. Der Ukrainekrieg hat einen angestauten, jahrzehntelang unterdrückten Hass in Europa gegen Russland an die Oberfläche gespült. Die ehemals besiegten und besetzten Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges können offenbar der Sowjetmacht und deren Nachfolger Russland bis heute nicht verzeihen, dass sie besiegt und besetzt wurden.

Und der „siegreiche“ Triumph über die Sowjetmacht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts war von kurzer Dauer. Jetzt haben die Triumphierenden nicht nur das Gefühl, dass „Putins Russland“ ihnen den Sieg „gestohlen“ hat, sondern auch die Angst (oder sie tun so, als hätten sie Angst) davor, dass Putin das Sowjetimperium wiederherstellen will.

Nach dem althergebrachten Schlachtruf des „Kalten Krieges“: „lieber tot als rot“ möchten sie zum einen beinahe um jeden Preis Rache nehmen am „gestohlenen“ Sieg und zum anderen alles tun, um den imaginären „Neoimperialismus“ Putins zu unterbinden. Je weniger ihnen aber diese Rache gelingt, da es ja auf dem ukrainischen Schlachtfeld für sie nicht gut aussieht, umso lauter schreien sie nach Rache und Vergeltung.

Der „Kriegsverbrecher“ Putin müsse in der Ukraine gestoppt werden, damit er nicht die Nato-Länder angreife, ist das Credo der einen, wohl wissend, dass diese zur Schau gestellte Besorgnis unbegründet ist. Und die anderen fordern hasserfüllt Bestrafung und „Endsieg“ über den „Friedensstörer“ Putin.

Sie beharren auf die Fortsetzung des Krieges, um ihren „Frieden“ wiederherzustellen, befürworten einen „gerechten Krieg“, um einen „gerechten Frieden“ zu erzwingen und ihre Friedensbeute, die der „Westen“ infolge seiner militärischen, zivilen und ideologischen Expansion „erbeutet“ hat, nicht schon wieder zu verlieren.

Und so haben wir angeblich genügend Gründe den Krieg in Europa gegen „Putins Russland“ fortzusetzen, ohne freilich selbstkritisch zu fragen, ob wir vielleicht selber nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht vieles falsch gemacht haben. Diese Frage weisen wir stets weit von uns zurück und zeigen mit erhobenem Zeigefinger auf den „Aggressor“ Putin, der angeblich allein an allem Schuld ist.

Wie Nitti zu seiner Zeit steif und fest behauptete, dass der Franzose Clemenceau an allem schuld ist, so suchen die Transatlantiker heute dem unaufgeklärten Publikum weiszumachen, dass die Quelle allen Übels Putin sei. Die Friedensverträge seien nach Clemenceau nichts anderes „als eine Art, den Krieg fortzusetzen“, empörte sich Nitti. Sie seien „weniger eine Beschimpfung der Besiegten als eine Ironie auf den Frieden selbst.“6

Und so können wir – Nitti paraphrasierend sagen: Die Fortsetzung des Krieges ist weniger eine Bestrafung Putins als eine Selbstbezichtigung des Versagens der eigenen errichteten Friedens- und Sicherheitsordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Denn die unipolare Weltordnung hat statt des „ewigen Friedens“ nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ nur noch mehr Kriege und Krisen erzeugt.

Mit dem absehbaren Ende der US-Hegemonialordnung geht ein gut dreißig Jahre andauerndes Machtungleichgewicht in Europa zu Ende, das freilich keineswegs einen Frieden verspricht. Vielmehr müssen wir mit dem Kriegsfrieden als einer Fortsetzung des „Friedens“ mit militärischen Mitteln rechnen. Dieser Kriegsfrieden wäre (in Kants Worten gefasst) nichts anderes als ein „Naturzustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.“

       

Anmerkungen

1. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. S. Fischer Verlag 1986, 184.
2. Smith, M. A., Partnerschaft, Kalter Krieg oder Kalter Frieden? Die Beziehungen zwischen Russland und
der NATO sind anfällig für Spannungen. Beide Seiten erkennen, dass sie es sich nicht leisten können, ihre
Beziehungen scheitern zu lassen, in: APuZ, 1.04.2009.
3. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Nitti, F., Der Friede. Frankfurt 1925, 17.
5. Nitti (wie Anm. 4), 71 f.
6. Nitti, F., Der Niedergang Europas. Die Wege zum Wiederaufbau. Frankfurt 1922, 42.

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