Verlag OntoPrax Berlin

Vom „globalen Frieden“ zum „globalen Krieg“

Am Vorabend des Undenkbaren?

Übersicht

1. Die Aggressoren und Revisionisten sind immer die anderen
2. „Suizid der Supermacht“?
3. Die Zwischenkriegszeit und die Gegenwart

Anmerkungen

„Wer die Entfaltung der Zeitalter überblickt, dem
erscheint der Krieg als das eigentliche
Wesen staatlicher Tätigkeit.“
(Bertrand de Jouvenel)1

1. Die Aggressoren und Revisionisten sind immer die anderen

Die nach dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandenen „Visionen eines globalen Friedens“ (visions of global peace) enden dreißig Jahre danach „mit der wachsenden Gefahr eines globalen Krieges“ (with surging risks of global war), diagnostiziert Hal Brands in seinem für Foreign Affairs am 26. Januar 2024 verfassten Beitrag „The Next Global War“. Und er erinnert seine Landsleute daran, dass dem letzten globalen Krieg (the last global war) genauso wie heute zahlreiche Konflikte vorausgegangen sind.

Will er damit sagen, dass sich die Geschichte wiederholen kann? Wenn ja, dann stellt sich die Frage: Wer trägt die Verantwortung für diese gefährliche Entwicklung? Brands weicht dieser Frage keineswegs aus; er stellt sich ihr und zeigt (wie könnte es auch anders sein?) mit erhobenem Zeigefinger auf die geopolitischen Rivalen der USA.

In der gegenwärtigen geopolitischen Gemengelage mit ihren zahlreichen Kriegen, Krisen und Konflikten sieht er „unangenehme Parallelen“ zur Situation am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und warnt vor „einer strategischen Interdependenz in einer vom Krieg zerrütteten Welt“ (strategic interdependence in a war-torn world).

Gleichzeitig betont er die Unvergleichbarkeit der Entwicklungen insofern, als die USA heute nicht – wie er es nennt – „einem formalisierten Bündnis von Gegnern“ (a formalized alliance of adversaries) gegenüberstehen, wie es im Zweiten Weltkrieg der Fall war.

Da in Osteuropa und im Nahen Osten bereits Kriege toben und die Verbindungen zwischen den revisionistischen Staaten (revisionist states) immer enger werden, bedürfe es lediglich eines ungewollten Zusammenstoßes im Westpazifik, um das ganze „internationale System“ (the international system) in die Luft zu sprengen und „eine Krise der globalen Sicherheit“ (a crisis of global security) auszulösen, die seit 1945 ihresgleichen suche.

„Eine Welt in Gefahr könnte zu einer Welt im Krieg werden“ (A world at risk could become a world at war), fürchtet Brands und meint besorgt: „Die USA sind dieser Herausforderung nicht im Entferntesten gewachsen“ (And the United States isn’t remotely ready for the challenge).

Wenn man bedenkt, dass die einzig verbliebene Supermacht, die in den vergangenen dreißig Jahren zum weltweiten Hegemonen aufgestiegen ist und vor lauter Kraft kaum gehen kann, so ist diese Selbstbezichtigung eines außenpolitischen Repräsentanten des US-Establishments geradezu „sensationell“.

Hat sich der US-Hegemon übernommen und ist er den Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen? Wer ist an dieser erstaunlichen Entwicklung schuld? Haben sich die USA mit der Militarisierung ihrer Außenpolitik, den endlos geführten Kriegen im vergangenen Vierteljahrhundert und einer exzessiven Gewaltanwendung nicht etwa selbst in diese Bredouille gebracht?

Glaubt man Brands, so sind es vielmehr „die Revisionsmächte“ (the revisionist powers), die „das internationale System“ und „die globale Sicherheit“ bedrohen und die Welt in einen globalen Krieg treiben. Er versäumt dabei nur auf die Rolle der USA bei der Gefährdung des „globalen Friedens“ hinzuweisen.

Welche Rolle spiel(t)en die USA, die mit ihrer unipolaren Weltordnung den globalen Raum dreißig Jahre lang dominierten und immer noch dominieren, in diesem verhängnisvollen Prozess? Und wie kann es sein, dass der US-Hegemon, der die Geschicke der Welt dreißig Jahre lang maßgeblich prägte, auf einmal den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen ist?

Auf diese Fragen gibt Brands keine Antwort. Ganz im Gegenteil: Er ist voller Vorwürfe und Anschuldigungen an die Adresse der „Revisionsmächte“ (the revisionist powers). Gemeint sind in erster Linie Russland und China.

China baue seine militärische Macht rasch aus und versuche die USA aus dem Westpazifik zu vertreiben. Russlands Krieg in der Ukraine sei „das mörderische Herzstück seiner langjährigen Bemühungen, die Vorherrschaft in Osteuropa und im ehemaligen Sowjetraum zurückzugewinnen“ (Russia’s war in Ukraine is the murderous centerpiece of its long-standing effort to reclaim primacy in eastern Europe and the former Soviet space)

Wie Brands auf solche abstrusen Behauptungen kommt, erklärt er nicht. Schlimmer noch: Er zieht darüber hinaus eine kühne Parallele zwischen der Gegenwart und den 1930er-Jahren und stellt damit – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – Russland und China auf eine Stufe mit dem italienischen Faschismus, Nazi-Deutschland und dem japanischen Militarismus, um sie als „Revisionsmächte“ (the revisionist powers) anzuprangern.

Russland und China streben nach Brands´ Überzeugung nach einer Vormachtstellung in Zentralasien. Sie nähern sich durch ihre „unbegrenzte strategische Partnerschaft“ („>no limits< strategic partnership“) einander an, die u. a. Waffenverkäufe, die Vertiefung der verteidigungstechnologischen Zusammenarbeit und „die Demonstrationen der geopolitischen Solidarität“ (displays of geopolitical solidarity) wie Militärübungen an globalen Brennpunkten umfasse.

Und so wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 es Deutschland und der Sowjetunion einst erlaubte, durch Osteuropa zu wüten, ohne Konflikte untereinander zu riskieren, habe die chinesisch-russische Partnerschaft die einst am stärksten militarisierte Grenze der Welt befriedet und beiden Ländern ermöglicht, sich auf ihren Kampf gegen Washington und seine Freunde zu konzentrieren, stellt Brands besorgt fest.

Dass diese von Brands beschriebene Annährung zwischen Russland und China in erster Linie dem strategischen Versagen der US-Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre zu verdanken ist, verkennt der Autor vollkommen und ignoriert die unsägliche Rolle der US-Geopolitik in Europa und Eurasien, vom verwegenen Vergleich mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 ganz zu schweigen.

Und in einem solch anklagenden Stil ist Brands gesamte Schrift verfasst. So versteigt er sich zu der absurden Behauptung: „Seit dem 7. Oktober erklärt Putin, dass die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten Teil eines einzigen größeren Kampfes seien, der „über das Schicksal Russlands und der ganzen Welt entscheiden wird“.

Woher Brands diese Äußerung, die angeblich von Putin stammen sollte, hat, bleibt sein Geheimnis. Sie bezeugt freilich nur seine Unkenntnis der russischen Außen- und Geopolitik im Allgemeinen und der russischen Israel-Politik im Besonderen.

Und immer wieder steht im Raum ein Vorwurf des Revisionismus und Aggression. Eine chinesische Aggression gegen Taiwan – beteuert Brands – könnte durchaus einen Krieg mit den USA auslösen, in dem „die beiden mächtigsten Militärs der Welt“ mit ihren Atomwaffenarsenalen gegeneinander antreten. Das würde die globale Politik weiter polarisieren, da die USA versuchen, „die demokratische Welt gegen die chinesische Aggression hinter sich zu scharen und Peking dadurch in eine engere Umarmung mit Russland und den anderen autokratischen Mächten zu treiben.“

Das müsse zwar – beschwichtigt Brands – nicht unbedingt zu einem „allumfassenden Weltkrieg“ (all-encompassing world war) führen. Als „Verteidiger der bestehenden Ordnung“ (defender of the existing order) könnten die USA aber in mehrere ineinandergreifenden Konflikte verwickelt werden, die sich über die gesamte Erde erstrecken, schreibt Brands besorgt.

Es ist dabei nicht ganz klar, was Brands unter „der bestehenden Ordnung“ (the existing order) versteht. Wenn er damit die UN-Nachtkriegsordnung meint, so wurde diese von den USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nivelliert und durch die sog. „unipolare Weltordnung“ substituiert. Versteht Brands hingegen darunter die unipolare Weltordnung, die er freilich in seiner ganzen Schrift mit keiner Silbe erwähnt, so erleidet diese längst einen Erosionsprozess unabhängig von den „Revisionsmächten“. Die letzteren haben die Erosion der Unipolarität nur beschleunigt, aber nicht ausgelöst.

Der Erosionsprozess der US-Hegemonie schreitet bereits seit Jahren voran und die regierenden US-Demokraten und ihre Sympathisanten glauben immer noch an die Zunahme und nicht Abnahme der Abhängigkeit der Welt von der globalen Führungsrolle der USA.

Die Folgen dieses geopolitischen Eskapismus sind in der US-Außenpolitik zu besichtigen. Das US-Engagement in der Ukraine hat den USA keinen geopolitischen und geoökonomischen Surplus gebracht. Ganz im Gegenteil: Die USA versinken immer tiefer in den Kriegsmorast mit ungewissem Ausgang. Die Jubelstimmung der vergangenen Monate schlug längst in eine Tristesse um.

Der Vorwurf des Revisionismus an die Adresse Russland und China ist darum fehl am Platz. Vielmehr sind es die USA, die ihrem Selbstverständnis nach als eine Anti-Status-quo-Macht geoökonomisch und geopolitisch stets auf Expansion hinaus sind und darum mit Fug und Recht als revisionistisch charakterisiert werden können.

Die von den USA nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ausgelöste Transformation der bipolaren Welt in eine „unipolare Weltordnung“ war eine Revision der bestehenden UN-Nachkriegsordnung par excellence. Was wir aber heute mit einer militärischen Wiedererstarkung Russlands und einem fulminanten Aufstieg Chinas zu einer geoökonomischen Supermacht beobachten dürfen, ist – wenn man so will – eine Revision der Revision der Unipolarität und deren Verwandlung in eine postunipolare Weltordnung.

Es gäbe keine Menschheitsgeschichte, wenn eine bestehende Weltordnung nicht einer ständigen Revision unterzogen wäre, sodass der Vorwurf des Revisionismus genauso sinnlos oder sinnvoll ist, wie der Versuch, den Fisch auf seine Fähigkeit zu prüfen, auf dem Trockenen zu leben.

2. „Suizid der Supermacht“?

Es gebe – beschwichtigt Brands – viele Gründe dafür, dass „das Albtraumszenario“ (the nightmare scenario) des „globalen Krieges“ nicht eintrete: Ostasien könnte friedlich bleiben, weil die USA und China große Anreize hätten, „einen furchtbaren Krieg“ (a horrific war) zu vermeiden und die Kämpfe in der Ukraine und im Nahen Osten könnten ebenfalls nachlassen.

Ungeachtet dieser Beschwichtigung stellt er fest, dass die beiden Kriege „die Fähigkeiten der USA in Bereichen von Artillerie und Raketenabwehr überfordern. Einsätze rund um den Nahen Osten, die den Iran abschrecken und die wichtigen Seewege offenhalten sollen, belasten die Ressourcen der US-Marine. Angriffe auf Huthi-Ziele im Jemen verbrauchen Ressourcen wie Tomahawk-Raketen, die in einem amerikanisch-chinesischen Konflikt von großer Bedeutung wären.“

Kurzum: Die militärischen und krisenbedingten Herausforderungen sind zahlreicher und größer als die USA in der Lage wären, sie gleichzeitig zu bewältigen. Die geostrategisch befürwortete Konzentration der US-Militärmacht auf Asien würde zusätzlich die globale Führungsrolle der USA untergraben.

In einer Zeit, in der sich der Nahe Osten und Europa bereits in so einem tiefen Aufruhr befinden, „käme es einem Suizid der Supermacht gleich“ (it could be tantamount to superpower suicide).

Das internationale Umfeld habe sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die Spannungen, eine zunehmende Rivalität zwischen den USA und China und schließlich „die Verschiebung des militärischen Gleichgewichts“ (a shifting military balance) sorgen für eine explosive Mischung, resümiert Brands und schließt seine Ausführungen mit den Worten: „Große Katastrophen scheinen oft undenkbar, bis sie eintreten. Da sich das strategische Umfeld verschlechtert, ist es an der Zeit zu erkennen, wie sehr wir einem globalen Konflikt nahegekommen sind“ (Great catastrophes often seem unthinkable until they happen. As the strategic environment deteriorates, it’s time to recognize how eminently thinkable global conflict has become).

Brands Warnung ist in der Tat alles andere als ein unbegründeter Alarmismus. „Die Verschiebung des militärischen Gleichgewichts“ findet spätestens seit dem fluchtartigen Rückzug der USA 2021 aus dem Afghanistan vor unseren Augen statt. Die Kriege in der Ukraine (2022 ff.) und im Nahen Osten (2023 f.) zeigen, dass die USA trotz eines allumfassenden Sanktionskrieges gegen Russland und einer massiven militärischen Unterstützung der Ukraine seitens des konsolidierten Westens im Machtkampf gegen Russland militärisch auf verlorenem Posten stehen.

Und nun verstricken sich die USA immer mehr und immer tiefer im gesamten Nahen Osten, ohne den Nahostkonflikt perspektivisch weder friedlich noch militärisch lösen zu können. Die schwelende Konfrontation zwischen den USA und China kommt noch hinzu und zu alledem ist der US-Rückstand im Bereich der Militärtechnologie, was zumindest die Hyperschallgeschwindigkeit betrifft, ein offenes Geheimnis.

Summa summarum ist Brands alarmierende Diagnose, dass es an der Zeit sei, zu erkennen, wie sehr wir einem globalen Konflikt nahegekommen seien, dem Gefühl einer militärischen Schwäche des US-Hegemonen geschuldet.

Dieser Diagnose ist nur schwer zu widersprechen. Und es ist durchaus angebracht, die Zwischenkriegszeit in Erinnerung zu rufen, um auf die Gefahren der aufziehenden Gewitter des „globalen Krieges“ hinzuweisen.

3. Die Zwischenkriegszeit und die Gegenwart

Das Gleichgewichtssystem der europäischen Großmächte des 19. Jahrhunderts, das einen hundert Jahre andauernden Frieden in Europa sicherte, wurde im Friedensvertrag von Versailles (1919) endgültig ad acta gelegt. Das Zauberwort des neuen, von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges errichteten europäischen Sicherheitssystems lautete „Cordon Sanitaire“ als Abwehr- und Ausgrenzungsstrategie gegen den ideologischen Feind. Es richtete sich ausdrücklich gegen das weitere Vordringen der Sowjetideologie in Europa. Das war der Sinn und das Hauptanliegen des gegründeten Völkerbundes gegen den im Entstehen begriffenen Sowjetstaat und den aufkommenden Weltkommunismus.

Das Gefühl, der Weltkommunismus breite sich rasch und überall aus, war allgegenwärtig im Europa der Zwischenkriegszeit. 1936 meinte Stalin im Gespräch mit amerikanischen Journalisten, „die immer wieder beklagten weltrevolutionären Absichten der Komintern seien nichts weiter als ein tragikomisches Missverständnis der bürgerlichen Presse.“2

Das „tragikomische Missverständnis“ hatte allerdings dramatische Konsequenzen für ganz Europa. Am Ende dieser ideologisch extrem aufgeladenen und hasserfüllten Zwischenkriegszeit stand ein rassenideologisch geführter Vernichtungskrieg3 gegen „die jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ genauso, wie ein europäischer und globaler Krieg, der nicht nur den gescheiterten Völkerbund, sondern auch die europäischen Siegermächte des Ersten Weltkrieges unter sich begrub.

Das Charakteristische der Zwischenkriegszeit war jene Kontur- und Regellosigkeit einer Zeit, in der das Gefühl vorherrschte, in einem „Zustand zwischen zwei Kriegen“4 zu leben und wo sich jeder vor jedem fürchtete: „Finnland fürchtete sich vor Sowjetunion, Dänemark vor Deutschland, Schweden konnten sich nicht entscheiden, welches Land es mehr fürchten sollte, und Norwegen betrachtete seine Lage als stark genug, um sich vor niemandem fürchten zu müssen“, schreibt der finnische Historiker Tuomo I. Polvinen über die Befindlichkeiten der Skandinavier in der Zwischenkriegszeit.5

Das Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung und der Kriegsgefahr herrschte im Grunde bereits kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vor. In seinem 1925 erschienenen Werk „Der Friede“ stellt der liberale Politiker und ehem. italienische Premier Francesco S. Nitti (1919/20) mit Verbitterung fest: „Es ist nicht wahr, dass wir dem Frieden entgegengehen. Nie gab es in Europa so viele Gründe für einen Krieg wie jetzt, nie haben die Ungerechtigkeiten und die nach dem Kriege begangenen Irrtümer solch gärenden Hass vorbereitet wie jetzt.“6

Und er fügt warnend hinzu: „Nach dem Kriegsbankrott erlebten wir den Bankrott des Friedens. Der gegenwärtige Frieden ist nur eine Täuschung. Er bereitet die Elemente neuer, noch schlimmere Kriege vor“ (ebd., 71). Denn „die im Jahre 1919 vollzogenen Friedensschlüsse waren Kriegsfrieden … Die Besiegten glauben nicht an ihre Aufrechterhaltung und auch die Sieger trauen ihnen nicht. Das gegenwärtige Europa ist voller Hassgefühle“ (ebd. 72).

Und an allem sei – empört sich Nitti – der Franzose Clemenceau Schuld. Die Verträge seien für Clemenceau nichts anderes „als eine Art, den Krieg fortzusetzen“. Sie seien – so Nittis Kommentar – „weniger eine Beschimpfung der Besiegten als eine Ironie auf den Frieden selbst“.7

Mit seinen Kassandrarufen stand Nitti nicht allein da; er gab durchaus nur die Stimmung der Zeit wieder. So war der britische Stabsoffizier (ein späterer Feldmarschall und Vizekönig von Indien) Archibald Wavell ebenfalls entsetzt über die Beschlüsse der Pariser Friedenskonferenz, als er in Umdeutung der 1914 von H. G. Wells geäußerten Hoffnung „war to end wars“ sarkastisch anmerkte: „Nach einem >war to end wars< scheint es, dass man in Paris ziemlich erfolgreich einen >peace to end peace< geschaffen hat.“8

Geopolitisch war die Gemengelage noch verworrener. Mit dem Ersten Weltkrieg ging ein hundert Jahre andauerndes Gleichgewichtssystem der europäischen Großmächte zu Ende. Das durch den Wiener Kongress geschaffene Mächtekonzert war eine im Interesse aller liegende gesamteuropäische Verantwortung.

Je länger aber diese Friedensperiode in Europa anhielt, „desto stärker zeichnete sich bei den Großmächten die Neigung zur Rückkehr zu einer bindungslosen, staatsegoistischen Machtpolitik ab.“9 Statt eines „Konzerts der Mächte“ trat in Europa seit 1890 das System der Allianzen. „Zugleich zeigte sich eine immer stärker werdende Abhängigkeit der Regierungen von Zeitströmungen chauvinistischer, imperialistischer, z.T. auch rassistischer Tendenzen.“ (ebd., 111 f.)

Der Erste Weltkrieg markiert „nicht nur den Endpunkt einer vergehenden Epoche, sondern zugleich den Beginn einer folgenschweren Entwicklung.“10 Nationalchauvinismus, Rassenhass und die Entmenschlichung des Feindes in bislang unerhörtem Ausmaß wären undenkbar ohne jene „Brutalisierung der Politik“ im Ersten Weltkrieg, die George Mosse im Blick auf die Entwicklung der Zwischenkriegszeit hervorgehoben hat.11

Die verhängnisvollen Folgen der Spannungen zwischen der kriegsbedingt entstandenen Mentalität der „Entmenschlichung“, der ideologisch gewandelten Welt und der geopolitisch veränderten Kräfteverhältnisse zu Lasten der Besiegten war jener maßlos gesteigerte Nationalismus, der zum einen im Faschismus und Nationalsozialismus gipfelte und zum anderen „zur Fanatisierung eines Revisionismus und Irredentismus (in Deutschland, Italien und auf dem Balkan)“ führte. Im Falle der Siegermächte entstand eine merkwürdige „Abkehr von realistischer Politik“.12

Diese „Abkehr von realistischer Politik“ findet seit gut dreißig Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in der westlichen bzw. US-Russlandpolitik statt. Diese nur scheinbar aus dem Nichts entstandene realitätsferne und zugleich rücksichtslose Russlandpolitik, die letztlich zum Krieg in der Ukraine geführt hat, setzt sich nicht nur weiter unbeirrt fort, sondern nimmt sogar auch an Fahrt zu.

Und wenn es so weiter geht, dann braucht es nicht viel, um Europa samt der ganzen Welt in die Luft zu jagen, wie die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts auch zur Genüge gezeigt hat. In der Zwischenkriegszeit entstand eine geopolitische Konstellation, welche ganz Europa zur Explosion brachte.

Verharrten die europäischen Westmächte in ihrer erfolglosen Beschwichtigungspolitik und machte das deutsch-italienische Bündnis rasch seinen Einfluss nach allen Seiten hin geltend, so verließ Belgien das französische Allianzsystem, um sich mit den Niederlanden einer Unverletzlichkeitsgarantie Hitlers anzuvertrauen. Während nun Polen seit 1934 an einem prodeutschen Kurs festhielt und die revisionistischen Staaten wie Ungarn und Bulgarien, aber auch Jugoslawien sich der „Achse“ näherten, blieben allein die Tschechoslowakei und unter Vorbehalt auch die Sowjetunion dem westlichen Abwehrsystem treu, obschon die Letztere von der Passivität und Tatenlosigkeit der Westmächte irritiert und misstrauisch war.13 Stalin fürchtete sich nicht ohne Grund vor einer Einigung aller auf Kosten der Sowjetunion und vor einer Ablenkung Deutschlands gen Osten. „Eine Ost-West-Front gegen die >Achse< wurde durch gegenseitiges Misstrauen verhindert“ (ebd., 360).

Vor dem Hintergrund eines ideologisch bedingten Misstrauens und der geopolitischen Ränkespiele überschlagen sich die Ereignisse, die letztlich die Entfesselung des Krieges nicht mehr verhindern konnten. Das geopolitische Epizentrum lag dabei überwiegend in Ostmitteleuropa mit Polen als Mittelpunkt der zahlreichen Konflikte und Spannungen, wozu der Versailler Friedensvertrag selbst einen verhängnisvollen Beitrag geleistet hatte und was Francesco Nitti bereits 1922 zu der Feststellung veranlasst hat: „Das ganze System des Versailler Friedensvertrages basiert auf Polen, also auf einem Staat, der fast zur Hälfte nationalfremde Elemente besitzt, neue Gebiete sucht, ungerechterweise Städte fremder Staaten wie Wilna besetzt hält und nach stets weiterer Ausdehnung giert, ohne die viel zu vielen Gebiete, die man ihm zugesprochen in Ordnung halten zu können.“14

Der Versailler Friedensvertrag sah nach Nittis fester Überzeugung für Polen eine doppelte Funktion vor: zum einen Russland von Deutschland zu trennen und zum anderen Deutschland militärisch zu bedrohen. In Anbetracht dieser geopolitischen Analyse prophezeite Nitti schon 1925 zwingend die kommenden Kriege: „Ohne Notwendigkeit wurden Polen absolut russische wie auch absolut deutsche Gebiete zuerkannt. Ein freies selbständiges Finnland war ein Bedürfnis, das selbst vom sowjetischen Russland ohne weiteres zugegeben wurde … Aber dass man von Russland gleichzeitig eine große Anzahl Gebiete Ostgaliziens und bei dieser Gelegenheit auch Bessarabien abtrennte; und dass man über dies versuchte, ihm auch noch die Kaukasusrepubliken wegzunehmen, das war ein Irrtum … Ist nicht dies alles ein Grund für unvermeidliche zukünftige Kriege?“15

Der Expansionsdrang, der brutale Nationalismus in Verbindung mit einem extremen Antisemitismus, die Diskriminierung und Verfolgung nationaler Minderheiten im eigenen Land, eine feindselige Außenpolitik gegenüber einem ideologischen und geopolitischen Feind Sowjetrussland und nicht zuletzt eine maßlose Überschätzung der eigenen militärischen Stärke wurden Polen letztlich zum Verhängnis. 1939 hat Polen dafür mit erneutem Verlust seiner Staatlichkeit und der weitgehenden Verwüstung des Landes einen hohen Preis zahlen müssen.

Und heute? Polen hat offenbar mit seiner feindseligen Außenpolitik gegenüber Russland aus seiner leidvollen Geschichte nichts gelernt. Mit ihrer zur Schau gestellten, etwas gekünstelten, aber trügerischen Selbstsicherheit wiederholt die polnische Machtelite die Fehler der Zwischenkriegszeit, indem sie sich maßlos überschätzt.

Sich in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen und zu hoffen, dass die Nato im Notfall zu Hilfe eilen wird, kann unter bestimmten Umständen und angesichts des nuklearen Zeitalters ein sehr gefährliches Unterfangen werden.

Was nun das Verhältnis zwischen Russland und den USA, Russland und der EU betrifft, so war es schon vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine voller Spannungen, Missverständnissen und völlig verfahren. Mit dem Ukrainekrieg befinden sich Russland und die USA nunmehr in einer Eskalationsspirale, die nur das Allerschlimmste befürchten lässt.

Es herrscht nach wie vor eine durch ein gegensätzliches Misstrauen und die hinzugekommene militärische Konfrontation hervorgerufene Lähmung der gegenseitigen Verständigung, verstärkt noch zusätzlich durch einen globalen Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen.

Und was die vom Westen betriebene, aber missglückte Isolation Russlands angeht, so zeigt sich auch hier, wie wenig die westlichen Machteliten aus der Geschichte gelernt haben.

In seinem 1926 erschienenen Werk „Bolschewismus, Faschismus und Demokratie“ schreibt Nitti: „Ein grundlegender Irrtum hat das ganze europäische Leben beeinflusst: die Stellung gegen Russland. Die siegreichen Mächte … sträubten sich nicht nur lange Zeit, die Regierung von Moskau anzuerkennen, sondern suchten sie mit allen militärischen und wirtschaftlichen Mitteln zu bekämpfen … Später versuchten sie die wirtschaftliche Isolierung Russlands,“16 die – wie man heute weiß – zu nichts geführt hat.

Neuerlich hat der US-Ökonom James Galbraith Nittis Erkenntnisse aus den 1920er-Jahren bezogen auf die Gegenwart erneut bestätigt: „Im Gegensatz zu den Inselstaaten wie Kuba oder den rohstofforientierten Ländern wie Venezuela war Russland mit seiner riesigen Landmasse, seinen reichhaltigen Ressourcen, der beeindruckenden Kompetenz in Wissenschaft und Technologie sowie seinen globalen Handelspartnern wie China, Brasilien, Mexiko, den BRICS-Staaten und afrikanischen Ländern gut positioniert, um sich an die Herausforderungen der westlichen Sanktionen anzupassen und sie zu meistern.“

Galbraiths Fazit: „Die Sanktionen sind zu einem unbeabsichtigten Geschenk an Russland geworden. Durch die vom Westen verhängten Sanktionen wird Europa von Ressourcen abgeschnitten, die es braucht, wohingegen Russland von Gütern abgeschnitten wird, die es nicht braucht und auf die es verzichten kann.“17

Da die EU-Machteliten die Geschichte der Zwischenkriegszeit längst vergessen haben und vor dem Hintergrund des „glorreichen“ Sieges über Sowjetrussland im „Kalten Krieg“ ihrer Sache ganz sicher sind, ändert sich nichts an ihrer Einstellung zu „Putins Russland“. Wer aber das Vergangene vergisst, ist dazu verdammt, es noch einmal zu erleben.

Der westliche Triumphalismus und die Machtarroganz verleiten die EU-Europäer unter Führung des US-Hegemonen zu der irrigen Annahme, dass die erneute Eindämmungspolitik Russlands genauso wie zurzeit des „Kalten Krieges“ von Erfolg gekrönt sein wird.

Die Parallelen zwischen der zwanzig Jahre andauernden Periode der Zwischenkriegszeit und den ideologischen, geopolitischen und militärischen Entwicklungen der Gegenwart zeigen, dass die Wiederholung der Geschichte möglich und denkbar ist. Sie zeigen aber auch, dass man Russland allein mit Ausgrenzungs- und Isolierungsstrategie und/oder mit moralischer Denunzierung, Deformierung und Delegitimierung weder in die Knie zwingen noch einen Umsturz von außen herbeiführen kann.

Was übrig bleibt, ist allein ein erneuter Vernichtungsfeldzug gegen Russland wie zu „glorreichen“ Zeiten des „tausendjährigen Reiches“. Die Frage, ob dann von Europa noch etwas übrigbleibt, lassen wir das lieber die Überlebenden eines solchen „glorreichen“ Feldzuges beantworten.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Ekkehart Krippendorff, Über den Krieg und die Funktion von Rüstung, in: ders., Internationale
Politik. Geschichte und Theorie. Frankfurt/New York 1987, 158-177 (158).
2. Zitiert nach Alexander Fischer, Die Sowjetunion und das Prinzip der kollektiven Sicherheit am Vorabend
des Zweiten Weltkrieges, in: 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg, hrsg. v. Klaus Hildebrand u. a.
Berlin/New York 1990, 315-319 (316).
3. Greiner, B., Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans. Hamburg 1995, 11.
4. Hildebrand, K., Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System: Problematik und
Perspektiven der Forschung, in: 1939 (wie Anm. 2), 3-20 (4).
5. Polvinen, T., Die Rolle Finnlands in der internationalen Politik vor dem Winterkrieg, in: 1939 (wie Anm.2),
327-333 (328).
6. Nitti, Der Friede. Frankfurt 1925, 8., 17.
7. Nitti, Der Niedergang Europas. Die Wege zum Wiederaufbau. Frankfurt 1922, 42.
8. Zitiert nach Leonhard, J., Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923. München
2018, 28.
9. Hillgruber, A., Der historische Ort des Ersten Weltkrieges, in: Funke, M., u. a. (Hrsg.), Demokratie
und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. FS f. Karl Dieter
Bracher. Düsseldorf 1987, 109-123 (110).
10. Bracher, K. D., Der historische Ort des Zweiten Weltkrieges, in: 1939 (wie Anm. 2), 347-374 (348).
11. Mosse, G. L., Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik, in: Funke, M., u. a. (Hrsg.),
Demokratie und Diktatur. Düsseldorf 1987, 127-139; vgl. Bracher (wie Anm. 2), 350.
12. Vgl. Bracher (wie Anm. 2), 354.
13. Dazu Bracher (wie Anm. 2), 159 f.
14. Nitti (wie Anm. 7), 197.
15. Nitti (wie Anm. 6), 10 f.
16. Nitti, F., Bolschewismus, Faschismus und Demokratie. München 1926, 22 f.
17. Zitiert nach Mrakic, M., Wieso die Sanktionen Russland nützen: US-Ökonom James Galbraith über den
Wirtschaftskrieg gegen Putin, in: Die Weltwoche, 6. März 2024.

Nach oben scrollen