Nordkorea, Nicholas Spykman und „the Future of American Power“
Übersicht
1. Nordkorea und der Ukrainekrieg
2. Historische Erfahrung und die geopolitische Realität
3. Nicholas Spykman und die Gegenwart
4. Amerikas Hegemonie im Abwärtsstrudel
Anmerkungen
„The National Intelligence Council … has projected that in 2025,
>the U.S. will remain the preeminent power, but that American
dominance will be much diminished<.“
(Der NIC prognostizierte, dass die USA im Jahr 2025 „zwar weiterhin
die führende Macht bleiben würden, ihre Dominanz aber deutlich
abnehmen werde“.)
(Globale Trends 2010)1
1. Nordkorea und der Ukrainekrieg
Man ist immer wieder erstaunt darüber, wenn andere über Selbstverständlichkeiten „schockiert“ und „verblüfft“ sind. So auch jetzt! Am 21. Oktober 2025 berichteten zwei Sicherheitsexpertinnen, Julianne Smith und Lindsey Ford, in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung „The New Eurasian Order“ in Foreign Affairs darüber, wie am 28. Oktober 2024 südkoreanische Geheimdienstler die Nato-Mitglieder und drei andere indopazifische Bündnispartner (Australien, Japan und Neuseeland) „über eine schockierende Entwicklung im Krieg in der Ukraine“ informierten: „Die Entsendung von tausenden nordkoreanischen Soldaten in die russische Region Kursk.“
„Die Tatsache, dass Seoul seine Geheimdienstanalysten für das Briefing nach Brüssel schickte, war fast genauso verblüffend wie die Entscheidung Nordkoreas, in den Krieg in der Ukraine einzutreten“, schreiben Smith/Ford. Dabei bleibt es völlig unklar, worüber sich unsere Autorinnen so „schockiert“ und „verblüfft“ zeigen.
Am 19. Juni 2024 unterzeichneten Putin und Kim Jong-un während Putins Besuch in Pjöngjang einen Vertrag über eine umfassende strategische Partnerschaft zwischen Russland und Nordkorea (DVRK), der am 5. Dezember 2024 nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft trat.
Artikel 3 des Vertrags sieht vor, dass die Vertragsparteien im Falle einer unmittelbaren Bedrohung durch eine bewaffnete Invasion unverzüglich bilaterale Verhandlungen aufnehmen müssen, um sich auf ihre Positionen und das weitere Vorgehen zu einigen.
Gemäß Artikel 4 verpflichten sich die Vertragsparteien im Falle einer bewaffneten Invasion und der Verhängung des Kriegsrechts, militärische und sonstige Unterstützung mit allen verfügbaren Mitteln im Einklang mit den Gesetzen der Staaten und der UN-Charta zu leisten.
Nordkorea ist mit anderen Worten lediglich ihren Beistandsverpflichtungen nachgekommen, als es dem von den ukrainischen Invasoren in der russischen Region Kursk angegriffenen Vertragspartner zur Hilfe geeilt ist.
Es kann daher keine Rede davon sein, dass Nordkorea „in den Krieg in der Ukraine“ eingetreten ist. Vielmehr ist es seinen Beistandsverpflichtungen nachgekommen und hat das völkerrechtlich anerkannte Territorium Russlands mitverteidigt. Im Gegensatz dazu hat die Nato die ukrainische Kursk-Offensive mitgeplant, mitausgeführt und war damit am Angriffskrieg gegen Russland in der Region Kursk direkt und unmittelbar beteiligt.
Laut dem russischen Auslandsgeheimdienst (SVR) wurde die ukrainische Operation in der Region Kursk „unter Beteiligung von US-amerikanischen, britischen und polnischen Geheimdiensten vorbereitet. Die an dem Angriff beteiligten Einheiten der ukrainischen Streitkräfte haben zuvor in Ausbildungszentren in Großbritannien und Deutschland ein Gefechtskoordinationstraining absolviert.
Die Nato-Militärberater unterstützten die Führung und Kontrolle der in Kursk einmarschierten ukrainischen Streitkräfte. Zudem stellten sie dem ukrainischen Militär Satellitenaufklärungsdaten über die Stationierung russischer Truppen im Einsatzgebiet zur Verfügung“.
Dass der SVR-Bericht alles andere als aus der Luft gegriffen ist, hat der investigative Journalist, Adam Entous, am 30. März 2025 mit seinem Beitrag in der New York Times indirekt bestätigt. Unter der Überschrift „Key Takeaways From America’s Secret Military Partnership With Ukraine“ enthüllte er, wie sehr die USA im Ukrainekrieg involviert sind.
Entous veröffentlichte eine umfangreiche Untersuchung darüber, wie Kiew und Washington seit drei Jahren eine geheim gehaltene Partnerschaft in den Bereichen der Geheimdienste, Strategie, Planung und der militärischen Durchführung pflegten – eine Partnerschaft, die nur einem kleinen Kreis der US- amerikanischen und EU-europäischen Beamten bekannt war.2
Es ist auch nicht so, dass die Ausländer, namentlich nordkoreanische Soldaten und Offiziere, auf der russischen Seite und auf dem völkerrechtlich anerkannten russischen Territorium in Kursk gegen die ukrainische Invasion kämpften. Noch mehr Ausländer (viele davon aus den Nato-Ländern) kämpften genauso auf der ukrainischen Seite in Kursk.
Unsere „schockierten“ und „verblüfften“ Sicherheitsexpertinnen haben darüber mit keinem Wort berichtet. Auch über die Opferzahlen dieser Söldnertruppen (insgesamt 4.781) haben sie kein Wort verloren.
Die meisten getöteten Söldner stammten nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums aus Polen (1.963), Georgien (1.230) und Kolumbien (917). Danach folgen Söldner aus Nato-Ländern: Frankreich , Deutschland und Großbritannien (208, 197 bzw. 156). Die USA (89), Australien (17) und Japan (4) komplettieren die Liste.
Am 8. April 2025 bestätigte der kolumbianische Botschafter in Moskau, Héctor Isidro Arenas Neira, dass tatsächlich Kolumbianer in den ukrainischen Streitkräften dienen. Er gab an, von etwa 70 bis 80 im Kampf gefallenen Kolumbianern zu wissen. Bogotá verfügt jedoch über keine genauen Daten zur Anzahl der am Konflikt in der Ukraine beteiligten Kolumbianer.
Bekannt sind auch die Gehälter der Söldner, die in der Region Kursk für die ukrainischen Streitkräfte kämpften. Das Mindestgehalt betrug 30.000 US-Dollar. Das russische Online-Nachrichtenportal Mash veröffentlichte Details über ukrainische Zahlungen an Söldner auf ihrem Telegram- Kanal.
Laut der Veröffentlichung gibt es für Söldner bestimmte Ränge, die sich nach ihren Qualifikationen und ihrer Nationalität richten. So verdiente beispielsweise der georgische Söldner, Ratti Burduli, mindestens 30.000 US-Dollar, wohingegen französische Staatsangehörige oder Söldner aus anderen europäischen Ländern ein Vielfaches davon erhielten.
Vor dem Hintergrund des Vorgetragenen ist man ebenfalls darüber „schockiert“ und „verblüfft“, dass Julianne Smith und Lindsey Ford über die kämpfenden Nordkoreaner auf russischem Boden „schockiert“ und „verblüfft“ sind, wo sie doch als zwei ausgewiesene Sicherheitsexpertinnen besser wissen sollten, dass Nordkorea vertragsgemäß in das Kriegsgeschehen eingegriffen hat, um das Territorium des angegriffenen Bündnispartners zu verteidigen.
Im Übrigen entsandte Nordkorea laut Berichten der russischen Medien vom 17. Juni 2025 Pioniere und Bauarbeiter zur Unterstützung Russlands bei der Minenräumung und dem Wiederaufbau der Region Kursk. Pjöngjang werde 1.000 Pioniere nach Kursk schicken, um Moskau bei der Minenräumung zu helfen. Sie würden in russischen Ausbildungszentren geschult, mit moderner Ausrüstung ausgestattet und sich den bereits in der Region Kursk im Einsatz befindlichen russischen Pionieren anschließen.
Sind Smith/Ford auch darüber „schockiert“ und „verblüfft“? Das haben sie dem interessierten Leser nicht mitgeteilt.
2. Historische Erfahrung und die geopolitische Realität
Offenbar blenden Smith/Ford zudem die seit dem Untergang des Sowjetblocks fast ununterbrochen geführte geo- und sicherheitspolitische Konfrontation zwischen Russland und den USA in Europa und Eurasien aus, sonst würden sie nicht mit Verweis auf die kämpfenden Nordkoreaner in Kursk „verblüfft“ davon sprechen, dass diese Entwicklung „eine neue Realität“ widerspiegelt.
Die US-Gegner vertiefen „auf beispiellose Weise“ (in unprecedented ways) ihre Zusammenarbeit und „kreieren so einen Schauplatz der Rivalität in Eurasien“ (creating a more unified theater of competition in Eurasia), schreiben sie. Als Reaktion darauf schließen sich auch die US-Verbündeten zusammen. … 2021 gründeten sie AUKUS … 2022 hat die Nato damit begonnen, asiatische Länder zur Teilnahme an ihren jährlichen Gipfeltreffen einzuladen. …“
Eine derartige Analyse der geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen in Eurasien hält, gelinde gesagt, keiner Kritik stand. Sie verwechselt Ursache und Wirkung und ignoriert den Transformationsprozess, in dem die Nato aus einem Verteidigungsbündnis des „Kalten Krieges“ in ein Offensiv- und Expansionsbündnis der unipolaren Welt unter Führung des US-Hegemonen ausartete.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stand der Nato-Allianz keine Gegenmacht im Wege und sie konnte ungestört und unbestraft in den vergangenen dreißig Jahren bis zum 24. Februar 2022 schalten und walten, wie sie wollte.
Dass die eurasischen Groß-, Mittel- und Kleinmächte immer enger zusammenarbeiten und sich zu Bündnissen und dergleichen zusammenschließen, ist eine direkte Folge eben dieser beispielslosen Expansions- und Hegemonialpolitik der USA seit dem Untergang des Warschauer Pakts. Statt die Nato als Relikt des „Kalten Krieges“ aufzulösen und eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung mit Russland zu schaffen, passierte genau das Gegenteil.
Es fand eine ungebremste Nato-Osterweiterungspolitik gegen einen entschiedenen, aber ohnmächtigen Widerstand Russlands statt. Und wenn Smith/Ford behaupten, dass der Zusammenschluss der US-Verbündeten und die Gründung von AUKUS erst „als Reaktion“ der immer tiefer werdenden Zusammenarbeit zwischen China, Nordkorea und Russland erfolgte, so steht diese Behauptung im krassen Widerspruch zur geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre.
So wie Smith/Ford und ihre Gleichgesinnten argumentieren, hat man den Eindruck, als wäre es ein Naturgesetzt, dass die USA ungebremst und endlos ihre Vormachtstellung in Eurasien auf- und ausbauen dürften und Russland es schicksalergeben akzeptieren sollte.
Dass Russland sich das nicht ewig gefallen lassen würde, wussten die US-Russlandkenner der alten Schule wie George F. Kennan (1904-2005), der vor der Nato-Expansionspolitik immer wieder gewarnt hat. Diese geo- und sicherheitspolitische Weitsicht ist offenbar den US-Sicherheitsexpertinnen der jungen Generation verloren gegangen.
Sie verkennen zudem historische Prozesse, die wellenartig und nie geradlinig verlaufen und stets von Aufstieg, Blüte und Untergang der Imperien ebenso begleitet, wie von den sog. „Revisionisten“, „Rechtsbrechern“ und „Übertätern“ immer wieder „gestört“ werden.
Die merkwürdige, in den heutigen transatlantischen „Expertenkreisen“ grassierende, geradezu penetrante Ausblendung historischer Prozesse ignoriert bei ihrer Analyse, dass die geo- und sicherheitspolitische Realität keine Einförmigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit einer historischen Entwicklung zulässt.
Hegemonie und Weltherrschaft entstehen und vergehen und keine Epoche der Weltgeschichte lebte ohne die Selbstanmaßung. Jede etablierte Hegemonialordnung gebärdet sich als die einzigartige, endgültige und nicht mehr hinterfragbare Form politischer Existenz.
Mit größter Inbrunst des Selbstbewusstseins glaubte sie einmalig, einzigartig und endgültig zu sein. Das Charakteristikum einer jeden Hegemonialordnung ist ihre selbstüberschätzende, moralisierende und anmaßende Selbstwahrnehmung, deren axiologischer und machthungriger Expansionsdrang keine Grenzen kennt und keine anderen konkurrierenden Machtsysteme toleriert und neben sich gelten lässt.
Der universale Machtanspruch der eigenen Hegemonialordnung wird proklamiert, postuliert, glorifiziert und schließlich als alternativlos stilisiert, bis sie auf Gegenwehr stößt und daran zerbricht. Es sieht so aus, dass diese Zeit gekommen ist und keine künstliche Beatmung eines im Sterbebett liegenden Hegemonen kann daran etwas ändern.
3. Nicholas Spykman und die Gegenwart
„Die amerikanische Vorherrschaft hängt von der Sicherheit Asiens und Europas ab“ (American primacy depends on Asian and European security), schreiben Smith/Ford und beteuern mit Verweis auf Nicholas Spykman (1893-1943), „wie wichtig es ist, die Küstenränder oder Randgebiete Eurasiens zu beherrschen.“ Spykman betonte in seiner sog. „Rimland-Theorie“ die strategische Bedeutung der Küstenregionen Eurasiens.
„Wer das Rimland kontrolliert, regiert Eurasien. Wer Eurasien regiert, lenkt die Geschicke der Welt“ (Who controls the rimland rules Eurasia. Who rules Eurasia controls the destinies of the world), postulierte Spykman. Die Kontrolle über die Randgebiete Eurasiens und nicht über die eurasische Landmasse sei mit anderen Worten der Schlüssel zur globalen Macht.
„Mit Ausnahme von Donald Trump hat jeder US-Präsident Spykmans Überzeugung geteilt“ (every U.S. president – with the exception of Donald Trump – has shared Spykman’s conviction). Und sie teilten im Gegensatz zu Trump auch die Überzeugung, dass die USA nie wieder das Entstehen eines mächtigen eurasischen Blocks zulassen sollten, der die amerikanischen Interessen bedrohen könnte, entrüsten sich Smith/Ford über Trumps Bündnis- und Russlandpolitik.
Unsere Sicherheitsexpertinnen erweisen sich hier als die vehementesten Befürworterinnen des US-außenpolitischen Weiter-so und wollen einfach nicht wahrhaben, dass sich die Zeiten geändert haben und wir uns weder im „Kalten Krieg“ noch in einer unipolaren Welt befinden, die spätestens mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 ihr jähes Ende gefunden hat.
Spykmans „Rimland-Theorie“ wird auch nicht dadurch wahrer, nur weil sie stets wiederholt wird. Sie war schon zurzeit des „Kalten Krieges“ fragwürdig und heute ist sie erst recht nicht mehr auf der Höhe der Zeit und längst überholt.
Die US-Hegemonie lenkte die Geschicke der Welt in den vergangenen dreißig Jahren, ohne die eurasische Landmasse und deren Küstenregionen zu beherrschen. Ihre Hegemonialstellung verlieren die USA heute nicht wegen des Verlustes der Kontrolle über Eurasien, die sie auch nie hatten, sondern wegen des Verlustes ihrer militärischen und geoökonomischen Dominanz.
Genau umgekehrt sieht es für Russland und China aus. Russland ist heute zu einer Kontinentalmacht aufgestiegen3, ohne globale Macht geworden zu sein, und China ist eine globale Macht geworden, ohne Kontinentalmacht zu sein, die „das Rimland kontrolliert“ und „Eurasien regiert“.
Es gelten heute zur Beurteilung der Weltmachtstellung einer Großmacht ganz andere Kriterien als zurzeit des „Kalten Kriegs“. Russland beherrscht zwar den größten Teil der eurasischen Landmasse und mit Arktis eine gigantische Küstenregion Eurasiens an seiner Nordgrenze. Nicht ohne Recht bezeichnet Dmitrij Trenin daher Russland in seinem letzten Werk4 als den „globalen Norden“ (мировой Север)5.
Als „globaler Norden“ ist Russland aber nicht zur globalen Macht aufgestiegen. Ihm fehlt die geoökonomische Macht. Was es allerdings mit dem Krieg in der Ukraine zurückgewonnen hat, ist eine militärische und militärtechnologische Vormachtstellung. Russland ist mittlerweile nicht nur zur stärksten Landmacht der Welt aufgestiegen, sondern ist auch mit manchen Militärtechnologien (wie Raketen- und Nukleartechnologie oder Luftabwehr) weltführend geworden.
Ohne eine eurasische Kontinentalmacht geworden zu sein, die die Küstenregionen kontrolliert, stieg China seinerseits zu einer geoökonomischen Supermacht auf, die auch militärisch und technologisch immer stärker und in manchen Technologien weltführend wird. Es hat die Potenz eine globale Macht zu werden und den USA ihre Suprematie streitig zu machen.
Und die USA? Die USA fallen immer mehr und immer weiter militärisch, technologisch und geoökonomisch zurück und ähneln Hobbes‘ Leviathan – einem „sterblichen Gott“, der, im Sterbebett liegend, nicht wahrhaben will, dass seine Zeit um ist.
Da der „sterbliche Gott“ sich weigert, das zu akzeptieren, ist er jederzeit bereit, zu aggressiven Maßnahmen zu greifen, um beweisen zu wollen, dass er immer noch allmächtig ist.
4. Amerikas Hegemonie im Abwärtsstrudel
„Die Grenzen zwischen Asien und Europa verschwimmen“ (The lines between Asia and Europe are blurring), postulieren Smith/Ford und beklagen eine zunehmende Bedrohung der USA durch Russland und China:
Angesichts der Tatsache, dass chinesische Technologien und nordkoreanische Truppen Russlands Kriegsanstrengungen in der Ukraine unterstützen, wissen die europäischen Partner, dass sie geopolitisch in Asien nicht abseitsstehen können. Und die Partner im indopazifischen Raum wissen, dass das, was heute in der Ukraine passiert, Einfluss darauf haben könnte, wie China morgen mit Taiwan umgeht. Wie Japans ehemaliger Außenminister Yoshimasa Hayashi es ausdrückte: Die Sicherheit in Europa und die Sicherheit im Pazifik seien „nicht voneinander zu trennen“. …
China und Russland arbeiten auf eine Weise zusammen, worauf die USA nicht vorbereitet sind. Die beiden Länder nutzen ihre Beziehungen und auch ihre jeweiligen Partnerschaften mit Nordkorea und dem Iran, um Unruhe zu stiften. In Asien und Europa nutzen Peking und Moskau Operationen in der „Grauzone“, um die US-Verbündeten zu schikanieren, ihre Streitkräfte zu schwächen und die Einheit und Leistungsfähigkeit der demokratischen Institutionen wie der EU, der G-7 und der Nato in Frage zu stellen.
Was für ein Klagelied! Es ist nicht lange her, als man von den USA als „Weltmacht ohne Gegner“ (2000)6 bzw. von Amerikas „Außenpolitik ohne Gegenpol“ (2012)7 sprach. Noch im Jahr 2012 stellte Wolf Reinhard anerkennend fest: Die Amtsjahre der Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush (1993 – 2009) waren „eine einzigartige Phase amerikanischer Hegemonialpolitik . . . Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht< bezeichnet“.8
Und jetzt? Armes Amerika! Du siehst überall nur Gegner und Feinde, die Dich zerstören wollen. Bereits am 26. Oktober 2015 sagte US-General Mark Milley auf einer Konferenz der europäischen Armeen in Wiesbaden: „Ich betrachte Russland als die größte Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Es ist der einzige Staat, der die Vereinigten Staaten zerstören kann.“
Und am 2. April 2019 warnte derselbe Milley, der mittlerweile zum Stabschef der US-Armee (2019-2023) aufgestiegen ist, vor dem Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses vor zunehmenden Bedrohungen durch China und Russland. „China stellt eine erhebliche Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar“, stellte er fest und bezeichnete Peking als eine „revisionistische Macht, die darauf abzielt, die USA zu schwächen“.
Aus „Amerika ohne Gegner“ wurde Amerika mit vielen Gegnern. Wie konnte das passieren? Bereits 2010 sprach der gerade am 6. Mai d. J. verstorbene Mitbegründer des Neoliberalismus, Joseph Samuel Nye Jr. (1937 – 2025), von Amerikas „Dominanz und Niedergang in der Perspektive“ (Dominance and Decline in Perspective).
Vor genau fünfzehn Jahren erschien am 1. November 2010 seine umfangreiche Studie in Foreign Affairs unter dem Titel „The Future of American Power. Dominance and Decline in Perspective“. Darin setzte er sich mit den Propheten des „hegemonialen Niedergangs“ (hegemonic decline) Amerikas auseinander und prophezeite seinerzeit, wie nicht anderes zu erwarten, eine rosarote Zukunft der US-amerikanischen Hegemonie.
Zwar sah Nye klar und deutlich „die anhaltende Rückkehr Asiens auf die Weltbühne“ (the continuing return of Asia to the world stage) der Geschichte voraus. 1750 verfügte Asien über mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung und -wirtschaft. Nach der Industriellen Revolution in Europa und den USA schrumpfte Asiens Anteil bis 1900 auf ein Fünftel der globalen Wirtschaftsleistung. Bis 2050 wird Asien auf dem besten Weg sein, seinen historischen Anteil wieder zu erreichen.
Vehement verteidigte er aber gleichzeitig Amerikas Zukunftsperspektiven und stellte Goldman Sachs´ Prognose 2010, dass nämlich die chinesische Wirtschaft im Jahr 2027 die der USA übertreffen werde, in Frage. China habe noch einen langen Weg vor sich, um mit den US-Wirtschaftskraftressourcen gleichzuziehen, und stehe weiterhin vor zahlreichen Entwicklungshindernissen.
Immerhin gab Nye zu: „Die Macht der Vereinigten Staaten ist nicht mehr so groß wie früher, aber sie war auch nie so gewaltig, wie gedacht“ (The United States‘ power is not what it used to be, but it also never really was as great as assumed).
Vor diesem Hintergrund lehnte er die „Debatte über den Niedergang“ der „amerikanischen Macht“ als unangemessen ab. Denn „diejenigen, die einen Niedergang prophezeien, sollten sich vor Augen führen, wie maßlos übertrieben die US-amerikanischen Einschätzungen der sowjetischen Macht in den 1970er-Jahren und der japanischen Macht in den 1980er-Jahren waren.“
Von dieser Retrospektive ausgehend, blickte er voller Zuversicht in die „Future of American Power“ aus der Perspektive der globalen Machtverteilung des Jahres 2010 und entwarf, wie er es nannte, „ein komplexes dreidimensionales Schachspiel“ (a complex three-dimensional chess game): Auf der Spitze der Machtpyramide steht unangefochten eine alles dominierende „unipolare Militärmacht“ (military power … unipolar) der USA, deren „Vorherrschaft“ (primacy) noch lange Zeit bestehen bleibe.
Auf der mittleren Ebene befindet sich eine multipolar verteilte Wirtschaftsmacht mit den USA, Europa, Japan und China als Hauptakteuren. Die unterste Ebene repräsentiert die transnationalen Beziehungen. „Auf dieser Ebene ist die Macht breit gestreut, und es ist sinnlos, von Unipolarität, Multipolarität oder Hegemonie zu sprechen“ (On this bottom board, power is widely diffused, and it makes no sense to speak of unipolarity, multipolarity, or hegemony).
Diese 2010 konstruierte dreidimensionale globale Machtverteilung ist heute weitgehend überholt und nicht mehr aktuell. Das geopolitische Weltbild des Jahres 2025 sieht fünfzehn Jahre später ganz anderes aus. Die USA stehen heute weder militärisch noch ökonomisch oder technologisch an der Spitze der Machtpyramide, die es nicht mehr gibt.
Russland macht militärisch und China ökonomisch den USA ihre hegemoniale Weltmachtstellung streitig und die unipolare Weltordnung ist spätestens am 24. Februar 2022 zu Ende gegangen. Was Europa und Japan betrifft, so geraten sie heute militärisch, geopolitisch und geoökonomisch immer mehr ins Hintertreffen, wohingegen Indien, Ost- und Südostasien sowie der sog. „Globale Süden“ sich auf dem Vormarsch befinden.
„Es ist Zeit für eine neue Erzählung über die Zukunft der US-amerikanischen Macht“ (It is time for a new narrative about the future of U.S. power), schrieb Nye 2010. Mit diesem Ansinnen hatte der Mitbegründer des Neoliberalismus vollkommen recht. Nur sieht diese „neue Erzählung“ (new narrative) heute ganz anderes aus, als er sie sich vorgestellt hat.
Die neoliberalen Träume des „neoliberalen Zeitalters“ sind ausgeträumt und wie Schnee schneller unter der Sonne geschmolzen, als Nye und Co. sich das erhofft und erträumt haben. So schnell vergeht nun mal der Ruhm der Welt! „Sic transit gloria mundi“! Und wir sollten darauf konstruktiv und mit Demut ohne Groll, Hass und Verbissenheit reagieren!
Anmerkungen
1. Zitiert nach Joseph S. Nye Jr., The Future of American Power. Dominance and Decline in Perspective,
Foreign Affairs, November 1, 2010.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Amerika in geheimer Mission. Der US-Proxykrieg gegen Russland.
1. April 2025, www.ontopraxiologie.
3. Vgl. Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.
25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина
5. Näheres dazu Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021,
www.ontopraxiologie.de.
6. Rudolf, P./ Wilzewski, J. (Hg.), Weltmacht ohne Gegner: Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Baden-Baden 2000.
7. Reinhard, W., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als
Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J., u. a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War.
Baden-Baden 2012.
8. Reinhard (wie Anm. 7), 11.