Verlag OntoPrax Berlin

Verklärung statt Aufklärung

Heinemann-Grüders Sicht auf den Ukrainekonflikt

Übersicht

1. Gefangen in der Logik des Krieges
2. Die Geschichtslosigkeit und Geschichtsvergessenheit des Zeitgeistes
3. Zur Frage nach einer nuklearen Eskalation
4. Ein perspektivloses Friedensabkommen

Anmerkungen

„Россию победить невозможно.“
(Russland kann unmöglich besiegt werden)
(Generalleutnant a. D. Evgenij Bužinskij, 12.02.24)

1. Gefangen in der Logik des Krieges

Es ist schon erstaunlich zu sehen und zu lesen, mit welchem ungebrochenen Beharrungsvermögen die sog. Russland- und selbsternannten Militärexperten die entstandene Realität an der ukrainischen Front mit geradezu pathologischer Obsession ausblenden. Das Paradebeispiel für diesen unausrottbaren Eskapismus ist die jüngste Veröffentlichung von Andreas Heinemann-Grüder unter der Überschrift „Kein Ende des Ukainekrieges?“1

Unterzieht man diese Veröffentlichung einer eingehenden Analyse, so fragt man sich irritiert: Ist hier ein Politikwissenschaftler am Werk oder ein heimlicher Ukraine-Anbeter, der die ukrainische Kriegspropaganda kritiklos absorbiert und interpretiert. In der ganzen Veröffentlichung findet man keinen einzigen Beleg, keinen einzigen Nachweis und keine einzige Begründung für die aufgestellten Behauptungen, Beteuerungen, An- und Beschuldigungen.

Statt einer wissenschaftlichen Analyse werden wir mit Meinungen, Beschimpfungen und Glaubensbekenntnissen eines empörten Zeitgenossen konfrontiert. „Apologie kraft Interpretation“ nannte der Rechtshistoriker Michael Stolleis (1941-2021) einst diese Art der wissenschaftlichen Analyse.

Es ist in der medialen Öffentlichkeit schon seit Langem zum guten Ton geworden, Behauptungen aufzustellen, Anschuldigungen und Beschuldigungen in die Welt zu setzen, die weder begründet noch bewiesen werden müssen. Wir leben schließlich in der virtuellen Realität des Postfaktischen und der Alternativwahrheiten, die offenbar auch die deutschen Universitäten erobert haben.

Es ist Zeit wert, manche Behauptungen, Anschuldigungen und Vorwürfe von Heinemann-Grüder näher anzuschauen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die Intention seiner Schrift kann man in einem einzigen Satz zusammenfassen: Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Lage und der Westen muss alles tun, um sie zu unterstützen, den Krieg zu gewinnen.

Gefangen in der Logik des Krieges, empört sich Heinemann-Grüder voller Inbrunst und Empathie für die ukrainische Sache zunächst einmal über den sog. „Globalen Süden“, der sich weigert, sich dem Sanktionskrieg gegen Russland anzuschließen.

Russland finde die Unterstützung des „Globalen Südens,“ entrüstet er sich und ist darüber entsetzt, dass „der globale Süden … erbost über Israels Bombardement im Gazastreifen (ist), weniger über Putins Krieg.“ Heißt das im Umkehrschluss, dass der „Globale Süden“ Russland erst seit dem 7. Oktober 2023 und nicht seit dem 22. Februar 2022 unterstützt?

Soll der „Globale Süden“ etwa mehr über „Putins Krieg“ „erbost“ sein als „über Israels Bombardement“? Wieso wundert sich Heinemann-Grüder aber überhaupt darüber?

Nach den UN-Angaben sind im zwei Jahre andauernden Ukrainekonflikt 10.000 Zivilisten umgekommen, wohingegen allein in den ersten vier Kriegsmonaten im Gazastreifen ca. 11.600 Kinder und 8000 Frauen umgebracht wurden. Worauf soll der „Globale Süden“ vor diesem Hintergrund mehr „erbost“ sein? Heinemann-Grüder wirft Russland vor, einen „Vernichtungskrieg“ in der Ukraine zu führen. Vergleicht man die Opferzahlen der beiden Kriege, so fragt man unseren empörten und entrüsteten Zeitgenossen: Wie definiert er dann die Vorgehensweise Israels im Gazastreifen?

Als wäre das nicht genug, verhöhnt Heinemann-Grüder zahlreiche Friedensinitiativen des „Globalen Südens“: „China, Indien, Südafrika, Saudi-Arabien und Brasilien kündigten Friedensinitiativen an, die sich allerdings als Worthülsen entpuppten,“ spottet er, ohne dass er der Frage nachgeht, warum der Westen seinerseits keine Friedensinitiativen unterbreitete.

Warum sollte er auch? Der Ukrainekrieg war für „den Westen“ die Gelegenheit, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Deswegen hat er einen schon ein Monat nach dem Kriegsausbruch ausgehandelten Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine torpediert. Das muss unser Politikwissenschaftler sicherlich gewusst haben. Oder nicht? Dann soll er den engsten Freund und Berater von Volodymir Selenskyj, den Fraktionsvorsitzenden der regierenden Partei „Sluha narodu“ („Diener des Volkes“) David H. Arakhamia danach fragen.2

„Der Westen“ setzte von Anfang an nach dem Kriegsausbruch auf die Fortsetzung des Krieges und nicht auf eine diplomatische Regelung des Konflikts3. Wenn man sich aber von der Logik des Krieges leiten lässt, dann ist jede Friedensinitiative eine „Worthülse“. Da befindet sich unser Politikwissenschaftler in guter Gesellschaft. Bereits im Jahr 2022 verkündete der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, lautstark, dass über den Frieden auf dem Schlachtfeld entschieden wird.

Nun führt Heinemann-Grüder die „schwierige Ausgangslage“ der ukrainischen Streitkräfte im Jahr 2024 auf die geschmolzenen westlichen „politischen, finanziellen und militärischen Ressourcen zur Unterstützung der Ukraine“ zurück und meint anschließend: „Der Anfang Februar abgesetzte ukrainische Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj gab eine nüchterne Einschätzung der Lage: Sie ist festgefahren. Für den Zweifel am Triumph des Willens wurde er von Präsident Selenskyj entlassen.“

Saluschnyjs Entlassung hat freilich mit dem „Zweifel am Triumph des Willens“ gar nichts zu tun. Der Ausdruck ist an sich schon verräterisch und erweckt ungute Assoziationen mit dem „Triumpf des deutschen Willens und der deutschen Waffe“ zu „glorreichen“ Zeiten des „tausendjährigen Reiches“. An diese Sprache will man heute nicht mehr erinnert werden und sich schon gar nicht daran gewöhnen!

Und was die tatsächlichen Absichten Selenskyjs angeht, so hat Saluschnyjs Entlassung nicht so sehr mit seinem „Zweifel am Triumph des Willens“ als vielmehr mit innenpolitischen Machtkämpfen und nicht zuletzt mit Selenskyjs Eifersucht über die hohen Popularitätswerte des abgesetzten und in der ukrainischen Bevölkerung sehr beliebten Oberbefehlshabers zu tun. Die Entlassungsgründe waren somit viel prosaischer Natur, als Heinemann-Grüder uns suggeriert.

Und überhaupt: Diese Verklärung eines Narzissten und selbstverliebten, mittlerweile auch machtbesessenen und skrupellosen ehem. Clowns in der deutschen Öffentlichkeit ist geradezu haarsträubend. Selenskyj ist kein Held des ukrainischen Widerstandes gegen die russischen Invasoren, sondern ein Antiheld, der für diesen blutigen und mörderischen Konflikt mitverantwortlich ist. Aufklärung und nicht Verklärung wäre hier angebracht!

„Die ukrainische Gegenoffensive“ – beteuert unser Politikwissenschaftler, ohne Militärexperte zu sein – „scheiterte auch, weil die zugesagten Lieferungen von Marder, Iris-T, Tankfahrzeugen und Schwerlastsattelzügen zu Beginn der ukrainischen Offensive nicht eingetroffen waren und die Ukraine nur schleppend die gepanzerten Gefechtsfahrzeuge und die Artilleriemunition erhält.“

Diese in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitete Begründung des Scheiterns der ukrainischen „Gegenoffensive“ hat mit den Realien des Krieges nichts zu tun. Sie übernimmt kritiklos den Versuch der ukrainischen Seite, für das eigene Versagen an der gescheiterten Konteroffensive den Westen nachträglich verantwortlich zu machen.

Zudem hat Heinemann-Grüder als Nichtmilitärexperte offenbar keine blanke Ahnung davon, dass in diesem blutigen Konflikt eine militärische Revolution stattfindet,4 die in vielerlei Hinsicht auch das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive erklärt.

Nun wirft unser Nichtmilitärexperte der Bundesregierung und dem Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, „die Beschwichtigungspolitik gegenüber Putins Russland“ vor, weil sie die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ablehnen. Mangels der Kenntnisse über die stattfindende militärische Revolution weiß er nicht einmal, dass diese Taurus-Raketen außer mehr Tod und Zerstörung an der ukrainischen Front kaum etwas bewirken und keine nennenswerten Erfolge für die Ukraine zeitigen werden, wohingegen sie die Spannungen zwischen Russland und Deutschland aufs Äußerste verschärfen können.

Zur Untermauerung seiner These von Appeasement-Politik der Bundesregierung bringt er die Minsker Verhandlungen und das Minsker Abkommen ins Spiel:

„Im Februar 2015 musste der ukrainische Präsident Poroschenko dem Minsk II-Abkommen zustimmen, da 5000 ukrainische Soldaten in Debalzewe eingeschlossen waren. Lehren aus den sogenannten Minsker Abkommen von 2014 und 2015, die einen fragilen Waffenstillstand bewirkten, die strukturellen Vorteile Russlands und die Besatzung ukrainischen Territoriums jedoch zementierten, sind nie gezogen geworden. Die Logik der Unterstützung für die Ukraine läuft auf eine Wiederholung von Minsk II hinaus: Wenn die Ukraine mit dem Rücken zur Wand steht, wird sie >mitgenommen<, um ein Minsk III-Abkommen unter Vermittlung Deutschlands und möglicherweise einiger Staaten des globalen Südens abzuschließen. Die zwischenzeitlich verstummten Rufe, die USA mögen sich doch mit Putin über die Kriegsbeendigung einigen, werden vor diesem Hintergrund wieder vernehmbarer.“

Was Heinemann-Grüder hier erzählt, ist eine Geschichtsklitterung. Poroschenko hat die ganze Zeit während der Minsker Verhandlungen bestritten, dass die ukrainischen Streitkräfte in Debalzewe überhaupt eingekesselt waren. Vielmehr hat er dem Minsker Abkommen nur deswegen zugestimmt, weil er befürchten musste, dass die Aufständischen weiter ins Innere des Landes marschieren.

Das Minsk II-Abkommen war bereits ein tiefgehender Kompromiss, wogegen sich die Aufständischen mit Füßen und Händen gewährt und nur unter Putins Druck das Abkommen unterzeichnet haben. Russland war bei diesem Friedensabkommen nicht Partei, wie die Kiewer Zentralregierung nachträglich behauptete und Heinemann-Grüder diese ukrainische Propaganda kritiklos übernimmt, sondern neben Deutschland und Frankreich ein Vermittler zwischen den zwei rivalisierenden Bürgerkriegsparteien.

Von irgendwelchen „strukturellen Vorteilen Russlands“ kann hier deswegen überhaupt keine Rede sein. Und was „ein Minsk III-Abkommen“ angeht, so kann man daraus nur eine Lehre ziehen: Man kann weder den ukrainischen noch den westlichen Zusicherungen trauen, was im Übrigen auch aus dem Eingeständnis der Altbundeskanzlerin Angela Merkel deutlich hervorgeht.5

Keine der Kriegsparteien denkt heute nicht einmal im Traum an irgendein „Minsk III-Abkommen.“ Heinemann-Grüders Schimpftiraden an die Adresse der Bundesregierung und sein „Appeasement“-Vorwurf sind fehl am Platz und nicht zielführend. Gefangen in der Logik des Krieges, merkt er nicht, wie realitätsfern seine Beurteilung der aktuellen militärischen Lage in der Ukraine ist. Die Lage an der ukrainischen Front ist für die Ukraine viel desaströser als unser Nichtmilitärexperte uns weismachen möchte.

2. Die Geschichtslosigkeit und Geschichtsvergessenheit des Zeitgeistes

Ein Szenario, das in der Ukraine im angebrochenen Jahr 2024 eintreten könnte, entwirft Heinemann-Grüder im nächsten Abschnitt seiner Veröffentlichung unter der Überschrift „Was bringt 2024?“. Einleitend skizziert er „das schwärzeste Szenario“ des Ukrainekonflikts dergestalt, „dass die Ukraine gänzlich die Kontrolle über die von Russland annektierten Territorien verliert, weitere Geländeverluste erleidet, keine Waffen, Munition und Menschen mehr hat, um sich der russischen Kriegsmaschinerie entgegenzustellen“ usw., um sodann warnend festzustellen:

„Ein solches Szenario wird umso wahrscheinlicher, je näher der Wahlkampf in den USA rückt und je mehr die militärischen Bestände der Ukraine an ihre Grenzen kommen. China, Russland und der Iran stiften im Nahen Osten, in Südostasien und in Osteuropa mit einer konzertierten Aktion militärisches Chaos.“

Ein Szenario, das die Ukraine nicht nur „die von Russland annektierten Territorien“, sondern auch die Souveränität verlieren kann, kommt ihm dabei nicht in den Sinn. Man fragt sich zudem: Wo befindet sich der US-Hegemon in diesem „schwärzesten Szenario“? Hat er etwa im Nahen Osten, in Südostasien und in Osteuropa nichts mehr zu sagen? Ist die unipolare Weltordnung zu Ende?

Stiften etwa alle „Autokratien“ dieser Welt, wie man neuerdings im Politjargon zu sagen pflegt, ohne das westliche bzw. US-amerikanische Zutun „militärisches Chaos“? Kann man überhaupt China als kommunistisches Land, den Iran als islamische Republik und Russland als orthodoxes Land in einen axiologischen Topf werfen, über einen ideologischen Kamm scheren und verfassungstheoretisch als „Autokratien“ denunzieren?

Folgt man dieser „wissenschaftlichen“ Sichtweise, so erweckt sie den Eindruck der Allmacht der „Autokratien“, die unsere Welt beherrschen und diese Welt „in einer konzentrierten Aktion“ in ein „militärisches Chaos“ stürzen.

Stehen etwa die USA und Europa hilf- und machtlos am Rande der Weltpolitik und wissen nicht, wie sie mit diesen „kriegstreibenden Autokratien“ fertig werden? In welcher Welt lebt Heinemann-Grüder eigentlich? Wo war er denn im vergangenen Vierteljahrhundert, als die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen in Jugoslawien, im Nahen Osten und am Hindukusch wüteten und zahlreiche Länder in Schutt und Asche legten.

„Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, beteuerte der sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Struck einst hochtrabend am 11. März 2004. Struck vergaß nur den Preis für diese vermeintliche „Selbstverteidigung“ zu nennen. Das war die Zeit der „Enttabuisierung des Militärischen“, wie Lothar Brock 2007 es prägnant formulierte.6

Hat Heinemann-Grüder (geb. 1957) all das vergessen? Zur Erinnerung: Der Kosovo-Krieg (1999) hat die bellizistische „Büchse der Pandora“ geöffnet. Nachdem der Geist des „militanten Humanismus“ (Noam Chomsky) aus dieser „Büchse“ entwichen war, war es praktisch nicht mehr möglich, den bellizistischen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen. Die Folgen waren und sind desaströs. Die axiologische und expansionsgetriebene Selbstverblendung und Selbstbeweihräucherung des Westens haben Millionen Menschenleben gekostet. Nach Angaben des Costs of War Project, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des Anti-Terror-Kriegs“ . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen.

Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen sicher nachgewiesen sind, davon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt.“7

Die anderen Quellen geben noch dramatischere Zahlen an: Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“8 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.

Vor diesem Hintergrund von „einer konzertierten Aktion“ seitens Chinas, Irans und Russlands zwecks Erzeugung eines „militärisches Chaos“ zu sprechen, ist geradezu grotesk und hat weder mit einer politikwissenschaftlichen Forschung noch mit einer Analyse der geopolitischen Intensionen der USA etwas zu tun.

Nun empfiehlt unser Nichtmilitärexperte: „Die Ukraine müsste in die Lage versetzt werden, eine Gegenoffensive in 2024 mit kombinierten Waffen zu starten. Präzisionswaffen mit großer Reichweite können dazu beitragen, die Zerstörung der russischen Artillerie, Logistik und Transportinfrastruktur zu beschleunigen.“

Er zeigt damit, wie schlecht er über die aktuellen Entwicklungen an der ukrainischen Front informiert ist. Offenbar sind ihm auch die US-amerikanischen bzw. angelsächsischen Forschungsergebnisse entgangen.

Neuerlich erschien eine voluminöse Studie von zwei namhaften US-Russlandexperten George Beebe (ehem. Geheimdienstanalyst, Diplomat und Direktor der Russlandanalyse der CIA und Stabsberater für Russlandangelegenheiten von Vizepräsident Cheney) und Anatol Lieven (Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft).

In ihrer am 16. Februar 2024 erschienenen Studie „The Diplomatic Path to a Secure Ukraine“ stellen sie zusammenfassend fest:

„Die gängige Meinung besagt, dass ein ausgehandeltes Ende des Ukraine-Krieges weder möglich noch wünschenswert ist. Dieser Glaube ist falsch. Es ist auch äußerst gefährlich für die Zukunft der Ukraine. Der Krieg tendiert nicht zu einer stabilen Pattsituation, sondern zu einem möglichen Zusammenbruch der Ukraine (The war is not trending toward a stable stalemate, but toward Ukraine’s eventual collapse).

Russland hat viele der Probleme, die seine Streitkräfte im ersten Jahr der Kämpfe plagten, behoben und eine Zermürbungsstrategie übernommen, die die Streitkräfte der Ukraine nach und nach erschöpft, die amerikanischen Militärvorräte aufzehrt und die politische Entschlossenheit des Westens untergräbt. Die Sanktionen haben die Kriegsanstrengungen Russlands nicht beeinträchtigt und der Westen kann die akuten Personalprobleme der Ukraine nicht lösen, wenn er nicht direkt in den Krieg eingreift. Die größte Hoffnung der Ukraine liegt in einer Verhandlungslösung, die ihre Sicherheit schützt, das Risiko erneuter Angriffe oder einer Eskalation minimiert und eine umfassendere Stabilität in Europa und der Welt fördert.“

In seiner umfangreichen Studie „Russia’s Adaptation Advantage für Foreign Affairs vom 5. Februar 2024 weist auch Mick Ryan (Militärstratege u. Generalmajor der australischen Armee) „Russlands Überlegenheit bei der strategischen Anpassung“ (vgl.: Russia is superior at strategic adaptation) nach:

„Je länger dieser Krieg dauert, desto besser wird Russland sich darin anzupassen lernen und eine effektivere, moderne Kampftruppe aufbauen. … Wenn Russlands Vorsprung bei der strategischen Anpassung ohne eine angemessene Reaktion des Westens anhält, dann ist das Schlimmste, was in diesem Krieg passieren kann, nicht eine Pattsituation, sondern eine ukrainische Niederlage“ (The longer this war lasts, the better Russia will get at learning, adapting, and building a more effective, modern fighting force. … if Russia’s edge in strategic adaptation persists without an appropriate Western response, the worst that can happen in this war is not stalemate. It is a Ukrainian defeat).

Zudem ignoriert Heinemann-Grüder die Tatsache, dass auf der ukrainischen Seite de facto die Nato mit ihrer gesamten militärischen Infrastruktur kämpft, wie Ishaan Tharoor neuerlich am 28. Februar 2024 in seinem Beitrag „Foreign troops in Ukraine? They´re already there“ für The Washington Post erneut bestätigt.

Oder glaubt er wirklich, dass die vom Westen an die Ukraine gelieferten modernen militärischen Geräte von Ukrainern allein bedient werden? Nach russischen Angaben wurden bis dato mindestens ca. 12.000 Söldner getötet. Die meisten von Ihnen stammen u. a. aus Polen, den USA, Canada und Georgien, aber auch aus solchen Ländern wie Kolumbien.

Die Russen nennen diese Söldner die „Hunde des Krieges“ (псы войны). Mit anderen Worten: Wir haben hier neben dem bereits seit 2014 geführten Bürgerkrieg und einem zwischenstaatlichen Konflikt einen de facto unerklärten Krieg zwischen Russland und der Nato.

Deswegen reagieren die Nato-Repräsentanten so gereizt und so verbissen auf die Misserfolge der ukrainischen Seite, was sich an der Münchener Sicherheitskonferenz deutlich gezeigt hat. So überschrieb die Financial Times am 19. Februar 2024 ihren Bericht über die Münchener Sicherheitskonferenz mit der Schlagzeile „Russian victories shake global leaders‘ faith in Ukraine war prospects“ (Russische Siege erschüttern das Vertrauen der Staats- und Regierungschefs bezüglich der Aussichten des Ukrainekrieges).

Und über die Konferenzstimmung schreibt sie: Vor zwölf Monaten strahlten die Delegierten der Münchner Sicherheitskonferenz Optimismus über die Aussichten für die Ukraine aus, als der Westen versprach, Kiew in seinem Krieg gegen Russland „so lange wie nötig“ zu unterstützen. In diesem Jahr, in dem sich der Konflikt zu Gunsten Moskaus neige und der Glaube an die Unterstützung des Westens schwinde, sei dieser Optimismus in eine miese Stimmung umgeschlagen.

Der Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, räumt ein, dass der Westen „zu optimistisch in Bezug auf den Krieg im Jahr 2023“ war und glaubt, dass „sie gewinnen werden, wenn wir den Ukrainern die Munition und Ausbildung geben, die sie brauchen“. Wir müssen jetzt nur „aufpassen, dass wir 2024 nicht zu pessimistisch werden“, berichtet die Financial Times.

„Zu optimistisch“ und jetzt „zu pessimistisch“? Aus der Geschichte der europäischen Kriege der vergangenen Jahrhunderte haben der Admiral und seine Nato-Funktionäre offenbar nichts gelernt. Längst haben sie Napoleons Eroberungsfeldzug und Hitlers Vernichtungskrieg gegen Russland vergessen.

Und die neue Generation? Sie ist geschichtslos erzogen worden. Ihre Geschichtskenntnisse reichen nicht – wenn überhaupt – über das Jahr 1933 hinaus. Wir befinden uns heute nicht nur in einem postheroischen, sondern auch in einem posthistorischen Zustand. „Wenn die Geschichte der Weg zu einem Ziel ist, beginnt mit dem erreichten Ziel, ja schon an dem Punkt, wo das Ziel klar erkannt und in den bewussten Willen aufgenommen ist, das Jenseits der Geschichte.“9

In diesem „Jenseits der Geschichte“ befinden wir uns anscheinend heute schon! Sind wir womöglich deswegen vom Frieden müde geworden und lassen uns blindwütig, weil das „Ziel“ gefährdet sei, von der Logik des Krieges treiben? Begreifen wir gar nicht, dass unser Ziel, unsere Vorstellung der Geschichte und des historischen Fortschritts nichts weiter ist als „Sinngebung des Sinnlosen“ (Theodor Lessing)?

Nein, das begreifen wir eben nicht! „Durchhalteparolen, Forderungen nach einem Sieg über Russland und Spott über >Angst< vor einer Entgrenzung der Waffenlieferungen an Kiew haben in Deutschland den zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine geprägt“, schreibt ein aufmerksamer Beobachter der politischen Szene in Deutschland.10

Träumen wir schon wieder von einem „Endsieg“ über Russland? Es sieht so aus, wenn man hört, was manche bundesdeutschen Politiker von sich geben.

So forderte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, am 24. Februar 2024 weiterhin „die militärische Unterstützung der EU-Staaten für die Ukraine“; sie sei „wichtiger denn je“; da „Präsident Putin und sein Regime … diesen Krieg verlieren“ müssen: „Russland muss scheitern“.11

Und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz erklärte wie immer selbstsicher und selbstüberschätzend zugleich: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, und zwar so gewinnen, dass Russland keinen Sinn mehr darin sieht, ihn militärisch fortzusetzen“. Wie das geschehen soll, verrät Merz zwar nicht, als großer „Feldherr“ legt er sich im Bundestag fest: „Vorher“ – vor einer Kapitulation der russischen Streitkräfte – „wird es keine Verhandlungen geben“.12

Dem siegbewussten „Feldherrn“ sei ein paar Stunden Geschichtsunterricht empfohlen, bevor er weiter „dummes Zeug“ redet, um hier Helmut Schmidts Lieblingsspruch zu zitieren. Die von der EU und den USA beschlossenen Sanktionen gegen Russland seien „dummes Zeug“, urteilte der Altkanzler bereits 2014.

Politiker mit Format eines Helmut Schmidts, der den Zweiten Krieg hautnah erlebt hat, sind im Deutschland der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts Rarität. Denkt man an die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, so fragt unsereiner verängstigt: Ob das kein schlechtes Omen ist?

An Stelle der Kriegsgeneration sind heute Politiker der Wohlstandsgeneration getreten, die unter „Außenpolitik“ eher ehrverletzende und arrogante Schimpf- und Hasstiraden an die Adresse der ihnen unliebsamen „Potentaten“ als ein mühsames und schweißtreibendes Bemühen um die Wahrung des Friedens verstehen und sie oft keine blanke Ahnung davon haben, was ihr verantwortungsloses Gerede anrichtet und wie viel Unheil es verursachen kann.

Nicht anders sieht es heute im wissenschaftlichen Betrieb aus, der sich mit außen-, geo- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigt. Hier sind oft Hasardeure und Draufgänger am Werk, die in den zahlreichen Talk Shows statt Aufklärung und fachkundiger Analyse lieber Kriegspropaganda betreiben und die geopolitischen Rivalen diffamieren, denunzieren und verunglimpfen. Davon ist auch unser Nichtmilitärexperte nicht ausgenommen.

Der größte Fehler all jener Selbstdarsteller ist, dass sie im Glauben, die Eskalation kontrollieren zu können, diese ganz im Gegenteil entgrenzen und dadurch die Konfrontation in unverantwortlicher Weise anheizen.

3. Zur Frage nach einer nuklearen Eskalation

Heinemann-Grüder trommelt für die Fortsetzung des Krieges bis zum „Endsieg“ und predigt im Schlepptau der aufgeheizten Stimmung die Angstlosigkeit vor Putins „leeren Eskalationsdrohungen“.

„Russland hat wiederholt mit (nuklearer) Eskalation gedroht“, beteuert er, ohne freilich Beweise hierfür vorzulegen. Das hat er auch nicht nötig. „Wissenschaft“ wird heute in der Welt des Postfaktischen als eine Kunst der Gerüchteverbreitung und -interpretation begriffen. „Alternativwahrheiten“ nennt man heute diese Art des „Wissensschaffens“!

„Doch als Frankreich und Großbritannien Präzisionswaffen mit großer Reichweite lieferten, tat Moskau: nichts“, rechtfertigt Heinemann-Grüder seine Beteuerung, um dem Leser zu suggerieren: Das war ja klar, dass Putin bluffe. Und so lesen wir seine Conclusio: „Die Eskalationsdrohungen sind leer.“

Das ist aber keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Art von Selffulfilling Prophecy, die dem Rivalen die erfundenen „Drohungen“ unterstellt. Und wenn die unterstellten Drohungen nicht umgesetzt werden, waren sie nichts weiter als Bluff bzw. „leer“.

„China hat dem Kreml deutlich gemacht“ – liest man weiter -, „dass es den Einsatz von Atomwaffen ablehnt.“ Auch hier präsentiert er keine Belege und keine Beweise. Wie könnte er auch? Die russisch-chinesischen Beziehungen entziehen sich anscheinend vollkommen seinen Kenntnissen.13

Und es wird noch schöner: „Im Kreml weiß man vermutlich selbst, dass der Einsatz einer Atomwaffe keine Vorteile bringt. Kurzum, >wir<, d. h. die westlichen Unterstützer der Ukraine, sollten die Angst vor Putin überwinden. Sie ist seine schärfste Waffe. Wenn der Westen der Ukraine die strategischen Ressourcen und hochpräzisen Langstreckenraketen zur Verfügung stellt, könnte das Land die russischen Nachschublieferungen, insbesondere auf der Krim, unterbinden.“

Diese Fixierung auf die Krim trotz einer weit über 1000 Kilometer langen Frontlinie ist erstaunlich. Wie auch immer! Heinemann-Grüder ist darüber hinaus offenbar auch unzureichend über die russische Doktrin des Einsatzes der Atomwaffen informiert.

Die 2010 verabschiedete und von Dmitrij Medwedew genehmigt Militärdoktrin hat Putin zuletzt per Dekret am 2. Juni 2020 bestätigt. Die Kriterien für den Einsatz von Atomwaffen haben sich dabei nicht geändert. Russland betrachtet Atomwaffen ausschließlich als Mittel zur Abschreckung; seine Politik ist in diesem Bereich rein defensiver Natur und zielt allein darauf ab, die nuklearen Fähigkeiten auf einem Niveau zu halten, „das ausreicht, um eine nukleare Abschreckung zu gewährleisten“.

Der Einsatz von Atomwaffen erfolgt unter ganz bestimmten Bedingungen. Insgesamt sind es vier. Ein Nuklearwaffeneinsatz gegen ein Nichtnuklearland gehört nicht dazu. Eine solche Bedingung können z. B. die verlässlichen Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen oder den Einsatz von Atomwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen gegen Russland und/oder seine Verbündeten sein.

Die dritte Bedingung ist wie folgt formuliert: „Einwirkung des Feindes auf kritische staatliche oder militärische Einrichtungen der Russländischen Föderation, deren Ausfall zur Störung der Reaktionsmaßnahmen der Nuklearstreitkräfte führen kann.“ Die vierte Bedingung ist eine Aggression gegen Russland mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates bedroht ist.

Keines von diesen Bedrohungsszenarien sind es heute gegeben, zumal Russland sich heute im Besitz solcher konventionellen Waffen befindet, mit deren Hilfe es im Westen verheerende Wirkung verursachen könnte, sollte es sich vom aus dem Westen gelieferten „strategischen Ressourcen und hochpräzisen Langstreckenraketen“ bedroht fühlen.

Und folgt man Putins Überzeugung, dass die Russen und Ukrainer ein Volk seien, so wäre allein schon vor diesem Hintergrund der Einsatz der Nuklearwaffen in der Ukraine völlig ausgeschlossen, will er doch nicht sein eigenes Volk mit Nuklearwaffen vernichten. Das wäre eine abstruse Vorstellung!

Heinemann-Grüders Beteuerung, dass „die Angst“ angeblich Putins „schärfste Waffe“ sei und „wir“ „die Angst vor Putin überwinden (sollten)“, ist deswegen nicht nur verantwortungslos, sondern zeigt auch, wie wenig er über die in Russland stattfindenden und stattgefundenen Diskussionen über den Einsatz der Nuklearwaffen informiert ist.

Seit dem Kriegsausbruch findet in Russland ein heftig geführter Streit über den Einsatz der Nuklearwaffen statt und man zeigt sich zudem über die fehlende Angst im Westen vor den Gefahren der nuklearen Konfrontation regelrecht entsetzt und besorgt. Was die Russen besonders besorgt macht, ist die im Westen bewusst zur Schau gestellte Angstlosigkeit vor den Gefahren einer nuklearen Konfrontation.

Bereits im September 2022 haben zwei namhafte russische außenpolitische Experten, Sergej Karaganov und Dmitrij Trenin, das Problem der Angstlosigkeit vor dem Atomkrieg, die sich nach dem Ende der bipolaren Weltordnung breit gemacht hat, thematisiert.

„Wir haben uns derart an den Frieden gewöhnt“ – schreibt Karaganov -, „dass wir uns darin überzeugt haben, dass es keinen großen Krieg mehr geben würde. Diese Einstellung ist falsch. Der Krieg kann erstens (jederzeit) stattfinden und die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes ist zweitens eher größer geworden, als er jemals seit der Zeit der Kubakrise war. Ich hoffe nur, dass es dazu nicht kommen wird. Denn dann wäre das ein direkter Weg in die Hölle.“14

Bereits ein paar Tage zuvor hat sein Kollege Dmitrij Trenin (Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands und ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center) am 23. September 2022 auf das gleiche Problem – das „Verschwinden der Angst“ (страх исчез) – hingewiesen. „Ich habe den Eindruck“ – meinte Trenin ebenfalls in einem Interview -, „dass wir zumindest in Europa Menschen sehen, die mit geschlossenen Augen auf den Abgrund zusteuern. Und das ist in der Tat äußerst gefährlich. Darauf gibt es nur eine Antwort: Holen Sie die Angst zurück!“

Vor diesem Hintergrund möchte man Heinemann-Grüder nur zurufen: Nicht die Angstlosigkeit vor Putin, sondern eine verantwortungsvolle Außenpolitik, die die Gefahren klar und deutlich erkennt und eskalationshemmend wirkt, statt Ressentiments zu schüren und die Stimmung weiter aufzuheizen, sollte eigentlich das Anliegen eines jeden verantwortungsbewussten Wissenschaftlers sein.

4. Ein perspektivloses Friedensabkommen

Heinemann-Grüder verhält sich zudem wie ein Märchenerzähler, der die Siegeszuversicht verbreitet, Putins Friedensdiktat eine Absage erteilt und getreu dem Motto einer Fernsehsendung „Wunsch Dir was“ predigt:

„Eine Beendigung des Krieges ist nur denkbar, wenn Putin keine andere Wahl hat und die internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine robust sind. Die Ukraine möchte zumindest den territorialen Status quo von vor dem 24. Februar 2022 wiederherstellen, die Zugänge zum Schwarzen Meer und zum Asowschen Meer bewahren, jegliche Vetomacht Russlands über die ukrainische Innen- und Außenpolitik ausschließen und einen Zustand erreichen, der künftige russische Angriffe hinreichend abschreckt. Um einen schmutzigen Frieden oder Siegfrieden Putins zu verhindern, müsste >der Westen< seine roten Linien definieren und gegenüber der Öffentlichkeit kommunizieren.“

„Internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine“, „Status quo von vor dem 24. Februar 2022“ und natürlich „Zugänge zum Schwarzen Meer und zum Asowschen Meer“ dürfen in diesem „Wunsch Dir was“-Katalog nicht fehlen.

All das konnte die Ukraine aber, wie gesagt, bereits ein Monat nach dem Kriegsausbruch im März/April 2022 haben, wäre sie nicht ihren angelsächsischen „Freunden“ gefolgt und hätte einen mit Russland in Istanbul zu durchaus passablen Bedingungen für die Ukraine ausgehandelten Friedensvertrag paraphiert.15

Jetzt ist es aber zu spät. Nach hunderttausenden Toten und verheerenden Zerstörungen des Landes auf beiden Seiten der Frontlinie ist es völlig ausgeschlossen, zum „Status quo von vor dem 24. Februar 2022“ zurückzukehren.

Die Ukraine und der Westen haben sich verzockt. Sie haben alles auf die ukrainische Siegeskarte gesetzt und – wenn man die Realität an der ukrainischen Front zur Kenntnis nimmt – verloren. Jetzt will Heinemann-Grüder „einen schmutzigen Frieden oder Siegfrieden Putins … verhindern“.

Wie denn? Ihm fällt nichts Besseres ein, als vom Westen zu verlangen, Russland „seine roten Linien (zu) definieren“. „Rote Linien“? Nur „rote Linien“? Warum so bescheiden? Warum will er Russland nicht gleich den Krieg erklären und die deutschen Soldaten an die „Ostfront“ schicken, predigt er doch die Angstlosigkeit vor Putins „Eskalationsdrohungen“?

Glaubt Heinemann-Grüder wirklich die nukleare Supermacht mit „roten Linien“ einschüchtern zu können? Wer sollte denn diese „roten Linien“ ziehen? Das verzwergte Europa, das es in zwei Jahren nicht einmal geschafft hat, ausreichend Munition zu produzieren? Oder die USA, die schon jetzt an zahlreichen Fronten gleichzeitig kämpfen, ihre globale Macht völlig überdehnt haben und sich tendenziell vom Europa abwenden?

Offenbar denkt er immer noch in der Logik des „Kalten Krieges“. Er hat freilich nur die fundamentale Regel des „Kalten Krieges“ vergessen: „Wenn einer siegt, sind beide am Ende“ (Harvey Wheeler).16

Und genau das wird eintreten, wenn er glaubt, Russland auf dem Schlachtfeld bezwingen zu können. Da Heinemann-Grüder aber seiner Sache doch nicht ganz so sicher ist, träumt er von inneren Unruhen in Russland und setzt auf Regime Change, wie aus der folgenden Passage deutlich hervorgeht:

„Wie könnte Russlands Regime dazu gebracht werden, seine Kriegsziele zu minimieren? >Realisten< könnten den ideologischen Gesinnungstätern in den Arm fallen. Die Rivalitäten und Schuldzuweisungen zwischen den Machtzentren nehmen zu, auch die Spannungen zwischen dem Zentrum und den Regionen. Der Krieg ist schon heute nicht mehr populär, selbst wenn es eine diffuse vaterländische Eintracht gibt. Die Sanktionen schränken den Lebensstandard spürbar ein. Die öffentliche Stimmung könnte noch kippen. Der Unmut über die Kriegsfolgen in Russland wird trotz der Propaganda wachsen, gerade in den Großstädten und in Teilen der Eliten.“

Diese Zustandsbeschreibung und Zukunftsaussichten sind eher auf Selenskyjs Regime als auf „Russlands Regime“ übertragbar.

Oder will Heinemann-Grüder unsereinem weismachen, dass in der Ukraine heute kein „Unmut über die Kriegsfolgen“ herrscht und der blutig ausgetragene Krieg „populär“ sei? Glaubt er wirklich Selenskyjs jüngsten Beteuerungen, dass die Ukraine im Krieg „nur“ 31.000 ukrainischen Militärangehörigen verloren hat? Kein ukrainischer Militärexperte glaubt daran! Man muss sich allein die zahllosen kilometerlangen Friedhöfe in der Ukraine vor Augen führen, um das Elend des Krieges und das Leiden der Menschen nur annährend begreifen zu können.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministers, Sergej Schojgu, vom 27. Februar 2024 hat die Ukraine bis dato mehr als 444.000 Soldaten und Offiziere verloren. Allein in diesem Jahr 2024 hat sie weitere 327 Quadratkilometer an Territorium aufgeben müssen. Nach wie vor verlassen tausende wehrdienstfähige Ukrainer täglich das Land. 28000 ukrainische Militärangehörige befinden sich nach russischen Angaben in der russischen Gefangenschaft. Der Ukraine fehlen Menschen, Ressourcen, Rüstungsindustrie usw. usf.

Vor diesem Hintergrund kann von einer ukrainischen Siegeszuversicht gar keine Rede sein. Heinemann-Grüder ist auf dem Holzweg, wenn er ein Friedensabkommen beschwört, das jenseits jeder Realität ist:

„Ein Friedensabkommen müsste nicht nur robuste Sicherheitsgarantien für die Ukraine klar definieren, sondern auch die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, das Recht auf Rückkehr, die Reparationen, den Status der besetzten Gebiete (einschl. der Krim), den Wiederaufbau, die Grenze zwischen Russland und der Ukraine, die Art der Friedenssicherung an der künftigen >Kontaktlinie< und die Bündniszugehörigkeit der Ukraine klären. … Die westlichen Unterstützer sollten deshalb zusammen mit der Ukraine bald konkrete Vorstellungen von den unverzichtbaren Inhalten eines Friedensabkommens entwickeln. Ein Zwischenschritt können Inseln der Übereinkunft sein, z. B. das Getreideabkommen, örtlich und zeitlich begrenzte Waffenstillstände oder der Gefangenenaustausch, und ein internationalisiertes Übergangsregime in Gebieten sein, die derzeit noch von Russland kontrolliert werden.“

Träumen ist zwar nicht verboten. Heinemann-Grüder muss aber nur aufpassen, dass er nicht zu lange träumt, sonst wird sein Traum schnell zum Alptraum, dergestalt, dass die Ukraine nicht nur die besetzten Territorien, sondern auch ihre Souveränität verliert. Wenn er weiterhin unbeirrt auf die Kriegslogik setzt, dann werden er und die gesamte Anti-Russland-Koalition statt eines erträumten Friedensabkommens ihr Waterloo erleben.

Anmerkungen

1. Heinemann-Grüder, A., Kein Ende des Ukrainekrieges? In: Ukraine-Analysen, Nr. 295, 23.02.24, 7-9.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Im strategischen Niemandsland. Zwischen unerwünschtem Frieden und
erfolglosem Krieg. 9 Dezember 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl. Richter, W., Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Friedrich Ebert Stiftung (FES). Wien, Dezember
2023; Troianovski, A., Adam Entous, Julian E. Barnes: Putin Quietly Signals He Is Open to a Cease-Fire in
Ukraine. nytimes.com 23.12.2023; „Kein Wille zum Waffenstillstand“, german-foreign-policy. 28.02.2024;
4. Näheres dazu Silnizki, M., Die militärische Revolution. Der Ukrainekrieg aus Sicht eines russischen
Militärexperten. 18 Februar 2024, www.ontopraxiologie.de.
5. Vgl. Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik
erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der
Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des
Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
7. Zitiert nach „Bilanz des `Anti-Terror-Kriegs`“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
8. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak,
Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen
erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
9. Freyer, Hans, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur. Stuttgart 1965, 307.
10. Siehe „Der Wille zum Weltkrieg“, german-foreign-policy.com. 26. Februar 2024.
11. Nils Schmid: Zwei Jahre Angriff auf die Ukraine: Putin muss diesen Krieg verlieren. vorwaerts.de
24.02.2024.
12. Hannes Niemeyer: „Hat Scholz Angst?“ – Merz zieht vernichtende Bilanz nach zwei Jahren Ukraine-Krieg.
merkur.de 25.02.2024. Zitiert nach „Der Wille zum Weltkrieg“ (wie Anm. 10).
13. Zur russisch-chinesischen Beziehungen siehe meine zwei Studien: Zwei geopolitische Philosophien. Folgen
des BRICS-Gipfels. 11. September 2023, www.ontopraxiologie.de; Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges. Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten. 19. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
14. Zitiert nach Silnizki, M., „Strategischer Parasitismus“ oder verantwortungslose Strategie? Zur Frage nach
Angstlosigkeit und Nuklearhysterie im Westen. 18. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Näheres dazu Richter (wie Anm. 4); ferner Silnizki, M., Im strategischen Niemandsland. Zwischen
unerwünschtem Frieden und erfolglosem Krieg. 9 Dezember 2023, www.ontopraxiologie.de; Silnizki, M.,
Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt. 28.
Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
16. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 7.

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