Posieren statt Regieren?
Übersicht
1. Russlandpolitik als „Megaphon-Diplomatie“?
2. Die Regierungserklärung vom 24. Juni 2025
3. Die Rückkehr der Machtpolitik?
Anmerkungen
„Unsere westlichen Partner machten es sich leider in der letzten Zeit zur Regel,
nicht auf eine traditionelle Diplomatie mit allem gebotenen Anstand,
sondern auf Mikrofon- und Megaphon-Diplomatie zurückzugreifen.“
(Sergej Lawrow, 9. November 2018)
1. Russlandpolitik als „Megaphon-Diplomatie“?
Konrad Adenauer konnte regieren. Helmut Kohl konnte regieren. Zwei große Christdemokraten, die die Republik in unsicheren Zeiten zielsicher anführten. Kann der Christdemokrat, Friedrich Merz, es auch? Seine Äußerungen, Sprüche und Gedankengänge haben den Vorzug der Klarheit und Gradlinigkeit. Er redet nicht um den heißen Brei herum. Er segelt nicht mit allen Winden, die wehen. Er redet nicht, sondern poltert, maßregelt und belehrt.
Ausgerechnet in der Russlandpolitik spielt Merz den starken Mann, zeigt dem „Diktator“ und „Kriegsverbrecher“, Putin, wo es langgehe. Verbal, wohl gemerkt, nicht real! Denn wenn es um die reale Außen-, Geo- und Sicherheitspolitik geht, ist von einem starken Mann keine Spur: Heute setzt er ein Ultimatum, um es morgen zu relativieren und droht, um seine Drohungen nicht ernst zu nehmen. Was er heute verspricht, davon will er morgen nichts mehr wissen. Ein Mann, ein Wort? Wohl kaum!
Wir erleben einen Schauschläger im Kanzleramt, der nicht regiert, sondern gestikuliert, schauspielert und Posieren mit Regieren verwechselt. Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit sind nicht sein Metier. Hier haben wir es mit einem Draufgänger zu tun, der unter Außen- bzw. Russlandpolitik die Kunst des Unmöglichen versteht.
Offenbar hat Merz die Mahnung seines großen Amtsvorgängers, Helmut Kohl, auf seine Art und Weise missverstanden. In einer Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte Kohl 1993: „Das Schicksal Deutschlands wird in der Außen- und Sicherheitspolitik entschieden.“1
Was der „Kanzler der Einheit“ damit gemeint haben könnte, hat seine Amtsnachfolgerin, Angela Merkel, klargestellt. Bei der ersten Veranstaltung der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung sagte Merkel am 27. September 2022: Kohl würde heute alles daran setzen, die Ukraine zu verteidigen. Zugleich habe er nie „den Tag danach“ aus dem Blick verloren und würde sich deshalb auch darum kümmern, „wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können“.
Im Gegensatz dazu betreibt Merz eine Russlandpolitik, als würde es „den Tag danach“ nie mehr geben. Sein Vorbild ist nicht Helmut Kohl, der sich der Verantwortung für sein Amt als Bundeskanzler und des deutschen Vaterlandes voll und ganz bewusst war, sondern Alfred Dregger (einer der prominentesten Vertreter der sog. „Stahlhelm-Fraktion“, ehem. Wehrmachtoffizier und Vorsitzender der CDU-Bundestagfraktion in den Jahren 1982 bis 1991).
Dass Merz ein Bewunderer von Dregger ist, darüber lässt er keinen Zweifel. 20 Jahre nach dem Tod von Alfred Dregger hielt er am 19. November 2022 an seinem Grab die Rede, in der er ehrfurchtsvoll sagte: „Alfred Dregger ist für mich bis heute ein Vorbild in seiner Haltung, ein Gentlemen, der hart in der Sache argumentiert hat, dabei aber stets persönlich höflich und konziliant geblieben ist. Ich verdanke ihm sehr viele gute Gespräche und manche Anregung.“
Offenbar immer noch in Zeiten des „Kalten Krieges“ des 20. Jahrhunderts stecken geblieben, hat Merz das geopolitische Ufer des 21. Jahrhunderts noch nicht erreicht. Sein Diktum ist das des 20. und nicht des 21. Jahrhunderts, in dem er noch nicht ganz angekommen ist.
In den Schützengräben des „Kalten Krieges“ verschanzt, verwechselt er bis heute die Sowjetunion mit der Russländischen Föderation und Ideologie mit Geopolitik. Wie Dregger glaubt Merz heute noch seinen von ihm noch nicht ausgefochtenen letzten und entschiedenen Kampf gegen Russland, das er immer noch mit der Sowjetunion identifiziert, austragen zu müssen. Und dabei ist ihm jede Provokation recht.
Demagogie ist zwar nicht sein Metier. Er ist ja kein Volksverführer (dafür fehlt ihm das Charisma), wohl aber ein gegen die Windmühlen kämpfender, glühender Anhänger einer aggressiven Anti-Russlandpolitik aus der „Position der Stärke“.
Hinter der Fassade eines Machers und Alleskönners verbirgt sich freilich viel Macht- und Ratlosigkeit, Unerfahrenheit und Inkompetenz eines außenpolitischen Amateurs. Mit seinen flotten Sprüchen begibt er sich oft auf Glatteis, ohne zu merken, dass er schon längst ausgerutscht ist, noch bevor er es reflektiert hat. Posieren wird zum Markenzeichen seiner Russlandpolitik.
Flott und schneidig formuliert er Sprüche wie: „Putin versteht nur die Sprache der Stärke“ (Regierungserklärung vom 24. Juni 2025), die nichts besagen, aber viel über seine Geisteshaltung aussagen. Die Frage ist nur: Hat Deutschland überhaupt jene mysteriöse „Stärke“, womit ein deutscher Kanzler herumposaunen kann?
„Wieviel Divisionen hat der Papst?“, soll Stalin während der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gefragt haben, als Churchill und Roosevelt eine Beteiligung des Oberhauptes der katholischen Kirche an der politischen Neuordnung Europas vorgeschlagen hatten. Und wieviel Atomwaffen hat Deutschland, um gegen die nukleare Supermacht Russland aus der „Position der Stärke“ kämpfen zu können?
Mit solchen selbstüberschätzenden Sprüchen gewährleisten die EU-europäischen Spitzenpolitiker wie Merz, Macron, Starmer und Co. keine Sicherheit für die Völker Europas, gefährden aber umso mehr die europäische Sicherheits- und Friedensordnung.
Merz und seine europäischen Amtskollegen begreifen immer noch nicht, wie lächerlich sie dabei in den Augen der Außenwelt aussehen. Sie kommen der Weltmehrheit wie jene berühmten Zwerge von Karl Kraus vor, die erst dann „lange Schatten werfen, wenn die Sonne niedrig steht“. Russlandpolitik ist als „Megaphon-Diplomatie“ keine Außenpolitik, sondern Obsession! Posieren ist kein Regieren, sondern narzisstische Selbstbespiegelung.
2. Die Regierungserklärung vom 24. Juni 2025
In seiner Regierungserklärung vom 24. Juni 2025 sagte Merz:
„Putin zeigt bis heute täglich mit seinen Kriegsverbrechen in der Ukraine, dass ihm gemeinsame Regeln gleichgültig sind und dass es im Windschatten der Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten und trotz aller diplomatischen Anstrengungen in den vergangenen Tagen die Luftangriffe auf ukrainische Städte noch einmal verschärft hat. … Ein echter, ein dauerhafter Frieden setzt Friedensbereitschaft von allen Seiten voraus. Russland hat dagegen mit seinen neuen Angriffswellen auf die ukrainische Zivilbevölkerung auf barbarische Weise zu verstehen gegeben, dass es diese Friedensbereitschaft zurzeit nicht hat. Im Gegenteil: Der russische Präsident hat vor einigen Tagen in einer Rede auf dem jährlichen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg noch einmal erklärt, Russen und Ukrainer seien ein Volk und wörtlich die gesamte Ukraine gehört uns. … Das ist nicht der Frieden, den wir wollen und das ist nicht der Frieden, den die Ukraine will. …“.
Die zitierte Passage aus der Rede des amtierenden Bundeskanzlers ist an Unverfrorenheit und Realitätsverstellung kaum zu überbieten und bedarf daher einer eingehenden Analyse:
- Zunächst einmal ist nicht ganz klar, von welchen „gemeinsamen Regeln“ hier die Rede ist. Meint Merz womöglich jene „Regeln“, die 1999 zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und der Nato-Allianz gegen die Volksrepublik Jugoslawien – dem sog. Kosovo-Krieg – geführt haben. Schätzungsweise 12000 Zivilisten sind diesem Krieg zum Opfer gefallen, vom weitgehend zerbombten und verwüsteten Land ganz zu schweigen.
Oder meint Merz mit den „gemeinsamen Regeln“ jene Regeln, die die USA mit der „Koalition der Willigen“ dazu veranlasst haben, 2003 die Republik Irak zu überfallen und einen brutalen Angriffskrieg zu führen? Will Merz, der von 2000 bis 2002 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war und von Angela Merkel am 24. September 2002 geschasst wurde, seine Nachfolgerin nicht fragen, wie sie sich 2003 zum Irakkrieg verhalten hat? Will er nicht mehr wissen, mit wie viel Missbehagen sie auf die Ablehnung der deutschen Kriegsteilnahme seitens der rot-grünen Koalition reagierte, warf sie doch der Schröder/Fischer-Regierung die Gefährdung der Bündnissolidarität vor?
Die Folgen dieser und weiteren Angriffskriege waren desaströs. Millionen Menschen sind ihnen zum Opfer gefallen. Nach Angaben von Costs of War Project, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des >Anti-Terror-Kriegs< . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen. Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen nachgewiesen wurden, wovon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten waren . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt.“2 Wie steht es nun mit den „gemeinsamen Regeln“, Herr Bundeskanzler?
- „Ein echter, ein dauerhafter Frieden setzt Friedensbereitschaft von allen Seiten voraus. Russland hat dagegen mit seinen neuen Angriffswellen auf die ukrainische Zivilbevölkerung auf barbarische Weise zu verstehen gegeben, dass es diese Friedensbereitschaft zurzeit nicht hat“, empört sich Merz in seiner Regierungserklärung. Er ignoriert dabei, wie barbarisch und grausam die Luftangriffe der USA und der Nato-Allianz in all den erwähnten Interventionen und Invasionen der vergangenen fünfundzwanzig Jahre waren.
Als am 25. Mai 1999 der Nato-Pressesprecher Jamie Shea, der im Kosovokrieg den Begriff Collateral Damage (horribile dictu) geprägt hat, seine Pressekonferenz abhielt, wurde er vom Norwegian News Agency gefragt: „I am sorry Jamie but if you say that the Army has a lot of back-up generators, why are you depriving 70% of the country of not only electricity, but also water supply, if he has so much back-up electricity that he can use because you say you are only targeting military targets?“ (Es tut mir leid, Jamie, aber wenn Sie sagen, die Armee verfüge über zahlreiche Notstromaggregate, warum entziehen Sie dann 70 % des Landes nicht nur Strom, sondern auch Wasser, wenn die Armee doch so viel Notstrom zur Verfügung hat, weil Sie nur militärische Ziele angreifen?).
Auf die Frage hat Jamie Shea eine ebenso bemerkenswerte wie erbarmungslose Antwort gegeben: „Yes, I’m afraid electricity also drives command and control systems. If President Milosevic really wants all of his population to have water and electricity all he has to do is accept NATO’s five conditions and we will stop this campaign. But as long as he doesn’t do so we will continue to attack those targets which provide the electricity for his armed forces. If that has civilian consequences, it’s for him to deal with but that water, that electricity is turned back on for the people of Serbia. Unfortunately it has been turned off for good or at least for a long, long time for all of those 1.6 million Kosovar Albanians who have been driven from their homes and who have suffered, not inconvenience, but suffered in many cases permanent damage to their lives. Now that may not be a distinction that everybody likes but for me that distinction is fundamental.“
(Jamie Shea: Ja, ich fürchte, Strom treibt auch Kommando- und Kontrollsysteme an. Wenn Präsident Milosevic wirklich will, dass seine gesamte Bevölkerung Wasser und Strom hat, muss er nur die fünf Bedingungen der Nato akzeptieren, und wir werden diese Kampagne beenden. Solange er das nicht tut, werden wir weiterhin die Ziele angreifen, die seine Streitkräfte mit Strom versorgen. Sollte das zivile Folgen haben, muss er sich darum kümmern. Aber Wasser und Strom werden für die serbische Bevölkerung wiederhergestellt. Leider wurde die Versorgung für all die 1,6 Millionen Kosovo-Albaner, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und nicht nur Unannehmlichkeiten, sondern in vielen Fällen dauerhafte Schäden erlitten haben, endgültig oder zumindest für sehr lange Zeit abgestellt. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber für mich ist diese Unterscheidung von grundlegender Bedeutung.)
Vielleicht sollte der Bundeskanzler, Friedrich Merz, dem Rat des Nato-Pressesprechers, Jamie Shea, aus dem Jahr 1999 folgen und Selenskyj empfehlen, Putins Friedensbedingungen zu akzeptieren, damit dieser die Luftangriffe beendet. „Solange er das nicht tut,“ um Shea nochmals zu zitieren, „werden wir weiterhin die Ziele angreifen.“
- „Der russische Präsident hat vor einigen Tagen in einer Rede auf dem jährlichen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg noch einmal erklärt, Russen und Ukrainer seien ein Volk und wörtlich die gesamte Ukraine gehört uns,“ sagt Merz in seiner Regierungserklärung vom 24. Juni 2025. Diese Äußerung von Merz ist eine unzulässige Missdeutung und Sinnverdrehung dessen, was Putin sagte und meinte, und völlig aus dem Kontext gerissen.
Vier Tage vor Merz´ Regierungserklärung hielt Putin am 20. Juni 2025 eine Rede auf dem erwähnten Wirtschaftsforum und nahm anschließend an einer stundenlangen Diskussion teil. Bei der Diskussion hat er u. a. Stellung zu russisch-ukrainischen Beziehungen genommen. Wörtlich sagte er: „Я считаю, что русские и украинцы это один народ на самом деле. В этом смысле вся Украина наша. Но мы исходим из реалий, которые складываются … И к стати говоря, мы никогда не подвергали сомнению право украинского народа на независимость и суверенитет. Вместе с тем основания, на которых Украина стала независимой и сувереной, были изложены в декларации по независимости Украины 1991 года, где ясно чёрным по белому написано, что Украина эта неблоковая, неядерная и нейтральная государство. Неплохо было бы вернутся к этим основополагаюшим ценностям, на которых Украина получила свою независимость и суверенитет“ (Ich bin der Auffassung, dass die Russen und Ukrainer in der Tat ein Volk sind. In diesem Sinne ist die Ukraine unser. Wir gehen aber von Realitäten aus, die sich ergeben … Und im Übrigen, wir haben niemals das Recht des ukrainischen Volkes auf seine Unabhängigkeit und Souveränität in Zweifel gezogen. Davon abgesehen, wurden die Grundlagen, worauf die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität stützt, in der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung von 1991 formuliert, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass die Ukraine ein blockfreier, neutraler und Nichtnuklearwaffenstaat ist. Es wäre gar nicht schlecht, wenn die Ukraine zu ihren ursprünglichen Werten zurückkehrte, auf deren Grundlage die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität erhalten hat).
Allein diese Äußerung Putins strafft all jene Lügen, die behaupten: Putin wolle die Ukraine unterwerfen, aus ihr einen prorussischen Satellitenstaat machen und dadurch das Sowjetimperium wiederherstellen. All jenen sei gesagt, Sie wurden zum Opfer ihrer eigenen antirussischen Kriegspropaganda! Es ist ganz im Gegenteil nicht Russland, sondern der „Westen“, der aus der Ukraine längst eine westliche Kolonie gemacht und seit 2014 stets willfährige Marionettenregierungen eingesetzt hat. Jetzt führt der „Westen“ ein als „Proxykrieg“ (Marco Rubio) verklärter Kolonialkrieg des 21. Jahrhunderts und will sich von Russland seine Beute nicht entreißen lassen.
- „Das ist nicht der Frieden, den wir wollen und das ist nicht der Frieden, den die Ukraine will,“ sagt Merz zum Schluss der zitierten Passage. Seit wann redet der deutsche Bundeskanzler im Namen der Ukrainer und Ukrainerinnen? Seitdem die Ukraine eben zur westlichen Kolonie wurde, in deren Namen sich auch ein deutscher Kanzler befugt fühlt, zu sprechen.
Woher weiß Merz aber, welchen Frieden das ukrainische Volk will? Hat Merz es gefragt, welchen Frieden es will? Als Kolonialherr muss er freilich solche Fragen gar nicht stellen. Die Zeiten der europäischen Kolonialherrschaft ist, wie man sieht, noch nicht vorbei! Wie auch immer, solange Merz und Co. sich weigern, dass die Ukraine neutral und blockfrei bleibt, wird es keinen Frieden in der Ukraine geben und der Krieg wird weitergehen.
3. Die Rückkehr der Machtpolitik?
Die EU-europäische Russlandpolitik ist eine Selbstausschaltungspolitik Europas. Ausgeschaltet werden alle ökonomischen Beziehungen, die selbst im „Kalten Krieg“ nie unterbrochen wurden und von denen Deutschland und Europa nicht zuletzt dank den billigen russischen Rohstoffen profitiert haben. Ausgeschaltet werden alle politischen Kontakte, indem ein neuer „Eiserner Vorhangs“ gezogen wurde. Ausgeschaltet werden alle kulturellen Beziehungen, die Russland, Deutschland und Europa gegenseitig befruchtet haben.
Nur einige Beispiele dazu: Der Dichter Rainer Maria Rilke bereiste Anfang des 20. Jahrhunderts zweimal Russland und suchte dort die bäuerliche Einfachheit. „Diese hielt er für so typisch russisch, dass ihm der arrivierte Schriftsteller Maxim Gorki bei einer Begegnung in Italien sehr unrussisch vorkam. Noch kurz vor seinem Tod bekannte Rilke, dass ihn der Anblick der Pilger vor einer Kathedrale erschüttert habe: „zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein unausdrückbares Gefühl, etwas wie >Heimgefühl< – ich fühlte mit großer Kraft die Zugehörigkeit zu etwas, mein Gott, zu etwas in der Welt“.
Noch 1938 entwickelte Walter Schubart in seinem Werk Europa und die Seele des Ostens „die Ansicht, dass die Ostkirche ein drittes, das johanneische Christentum hervorbringen wird“. Und der Philosoph, Max Scheler, charakterisierte die Russen zurzeit des Ersten Weltkrieges als das „freiwillige Opferlamm der Menschheit“.
Für Thomas Mann gehören Russland und Deutschland zusammen: „ihre Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens.“3
Und heute? Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine erleben wir eine Rückkehr des glühenden Hasses gegen alles, was Russland und die Russen betrifft. Wir lechzen nach Rache und Vergeltung, nach Revanchismus und „Wiedergutmachung“.
Am Rande der Wiederaufbaukonferenz in Rom forderte Merz am Donnerstag, dem 10. Juli 2025, von Russland für die Zerstörungen in der Ukraine finanziell aufzukommen. Vollmündig und in Pose eines Racheengels verkündete er: „Wir gehen von rund 500 Milliarden Euro Sachschäden aus. Russland muss für diesen Schaden aufkommen. Bis dies geschehen ist, darf Russland und wird Russland auch keinen Zugang zu den eingefrorenen russischen Vermögenswerten erhalten“.
Der deutsche Kanzler hat offenbar sehr schnell vergessen, welches unbeschreibliche Leid Nazideutschland dem Sowjetvolk gebracht hat und wofür das Nachkriegsdeutschland keine Entschädigungen gezahlt hat. Daran erinnerte ihn die Vertreterin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, bereits am 11. Juli 2025, also nur ein Tag später nach seiner Äußerung.
Auf ihrem Telegram-Kanal schlug sie Merz vor, zu berechnen, wer Russland wie viel schulde. Als Schlüsselfaktoren nannte sie die Verluste durch die westliche Intervention von 1918 bis 1922 und durch den Zweiten Weltkrieg mit der anschließenden Wiederherstellung Europas. Sacharowa wies zudem darauf hin, dass der Zusammenbruch der UdSSR das Land teuer zu stehen kam. „Und da westliche Politiker schon lange zugegeben haben, ihre Finger im Spiel zu haben, gibt es allen Grund, den Taschenrechner hervorzuholen“, resümierte sie.
Nein, was der amtierende Kanzler der Bundesrepublik tut, ist keine Außenpolitik, sondern eine öffentlich zur Schau gestellte Obsession. Er will nicht regieren, sondern posieren, sich an dem vermeintlich ewigen „Erzfeind“ Russland abarbeiten. Seine Motivation ist nicht etwa die Einhegung des Krieges in der Ukraine, wozu er weder fähig noch in der Lage ist, sondern ein Hassschüren gegen den „Kriegsverbrecher“ Putin.
Dass er damit mit dem Feuer spielt und zum Schaden des deutschen Vaterlands redet und handelt, begreift er gar nicht. Zu sehr sonnt er sich im Lichte seiner selbstverliebten Pose eines „Diktatoren“-Verfolgers, bewundert von der immer noch vorhandenen „Stahlhelm-Fraktion“ seiner Partei. Die nennt sich heute nur anders: die Kriegspartei.
Nein, mit diesem Kanzler ist kein Staat zu machen. Denn die andere Seite dieser Obsession ist eine Art unwiderstehlicher Sogwirkung des Krieges, in den wir immer weiter und immer tiefer verstrickt werden und aus dem wir nicht schadlos herauskommen werden.
Statt diesem militärischen Abenteuer entgegenzuwirken, heizt er die Stimmung weiter auf. Aber wozu? Um die Welt in Brand zu setzen? „Freiheit, Wohlstand, Frieden“ ist der Dreiklang, mit dem Merz „Deutschland zu alter Stärke zurückführen“ will.
„Es ist die glänzende Fassade, die Merz in seiner Regierungserklärung zum Nato-Gipfel aufbaut“, schreibt die Weltwoche am 24. Juni 2025 und merkt spöttisch an: „Deutschland ist wieder zurück auf der internationalen Bühne“, zitiert Merz „im Reichstag einen seiner Lieblingssätze, der in Wahrheit zwei Botschaften hat: Ich, Merz, bin endlich auf der internationalen Bühne angekommen, und es wäre schön, wenn Deutschland es mir nachtut.“
Die mit Narzissmus vermischte Obsession ist eine gefährliche Mixtur, die nicht zur Lösung der außen- und weltpolitischen Probleme, sondern zur Chaotisierung des globalen Raumes führt, wie Trumps ungezügelte Handelspolitik zu Genüge beweist.
Hinter der obsessiven Russlandpolitik des Bundeskanzlers stecken allerdings die langfristigen Trends der deutschen Außenpolitik. Nach dem Ende der ideologischen Systemkonfrontation und der Entstehung der unipolaren Weltordnung unter Führung der zum Hegemonen aufgestiegenen einzig verbliebenen US-Supermacht ist die Bindung Deutschlands und der deutschen Machteliten an die transatlantischen geopolitischen und geoökonomischen Machtstrukturen noch stärker geworden, in deren Schlepptau die deutsche Wohlstandsgesellschaft massiv profitiert hat.
Der Ost-West-Konflikt ist zwar zu Ende gegangen, die aus dem „Kalten Krieg“ überkommenen antirussischen Ressentiments schlummerten aber weiterhin im Verborgenen und sind nie verschwunden. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine kamen diese Ressentiments mit voller Wucht an die Oberfläche und nach drei Jahren Krieg zur vollen Blüte.
Einer der prominentesten Anhänger dieser Entwicklung ist der amtierende Bundeskanzler selbst, der die Hälfte seines Lebens im „Kalten Krieg“ sozialisiert wurde und sich darüber hinaus als Transatlantiker in den transatlantisch geprägten deutschen Macht- und Wirtschaftsstrukturen pudelwohl fühlt.
Seine persönliche Lebensgeschichte und geistige Entwicklung prägen maßgeblich seine außenpolitische Einstellung und bestimmen die Richtlinien seiner Russlandpolitik im Gegensatz beispielsweise zu seiner Amtsvorgängerin, Angela Merkel, die in der DDR ganz anders sozialisiert wurde, die Sowjet- bzw. russische Kultur hautnahe erlebt und kennengelernt hat und sich innerlich nie zu den transatlantischen Machtstrukturen zugehörig fühlte.
Das ist freilich nur eine Seite der Medaille; die andere ist die geschichtliche Entwicklung der deutschen politischen Kultur mit ihrer „Vernachlässigung des Denkens in Kategorien der Machtbalance im Bereich der Außenpolitik.“4
Sie steht einerseits in einer ideengeschichtlichen Tradition, „die Politik als Verwaltung begreift, wodurch sie machtpolitisch gereinigt erscheint und sich somit das Balanceproblem gar nicht erst stellt“5.
Der Leipziger Staatsrechtslehrer Otto Mayer spitzte 1924 dieses Politikverständnis mit seinem berühmten Diktum „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht,“6 auf provokante Weise zu.
„Andererseits eliminiert die gegenläufige Traditionslinie einer kruden, ungezähmten Machtpolitik erst recht den Balancegedanken.“7
Dieses zwiespältige Politikverständnis hat dazu geführt, dass die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit zwar mental, von den Machtexzessen des Nazideutschlands entsetzt und erschüttert, aus der Geschichte der Neuzeit, die sich zwischen Gleichgewicht und Hegemonie bewegte, aussteigen wollte. In Zeiten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“ hatte sie aber als ein besetztes Land keine andere Wahl, als sich auf die Seite der Westalliierten zu schlagen und sich an der Gegenmachtbildung gegen die Sowjetunion zu beteiligen.
Als „radikale Alternative zu Hegemonie und Gleichgewicht“ galt freilich der dritte Weg, nämlich die europäische Integration als „Versicherung gegen die Wiederkehr der Geschichte“ (ebd.). Und nun zeigen sich fünfunddreißig Jahre nach dem Untergang des ideologischen Systemrivalen und der deutschen Wiedervereinigung Risse in der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestehenden innereuropäischen und transatlantischen Doppelkonstruktion der deutschen Außenpolitik, die sich geo- und sicherheitspolitisch zwischen der transatlantischen Bündnistreue und der innereuropäischen Integration bewegt.
Diese Doppelkonstruktion zerbröselt und zeigt mittlerweile Altersschwäche. Die Nato-Allianz leidet zunehmend unter Bedeutungsverlust, da die Trump-Administration allmählich auf Distanz zu den europäischen Bündnispartnern geht. Und die EU hat sich ihrerseits mit ihrer überzogenen Expansionspolitik übernommen, überdehnt und findet immer weniger einen gemeinsamen Konsens unter den EU-Mitgliedsstaaten.
In dieser zunehmend ungewissen und unsicheren innereuropäischen, bündnis- und geopolitischen Gemengelage positioniert sich die neue Bundesregierung unter Merz traditionskonform gegen eine Machtgleichgewichtspolitik in der Außenpolitik und für eine erneuerte Gegenmachtbildung gegen Russland und bringt sich so zusammen mit Frankreich und England erneut in Stellung gegen die „russische Gefahr“.
Das verspricht aber auch nichts Gutes! Die Neuauflage der Gegenmachtbildung ist eine direkte Folge der in Europa grassierenden antirussischen Stimmung, die die Bundesregierung willfährig und wohlwollend aufgreift, in eine Anti-Russlandpolitik umwandelt und sich gegen eine Ausgleichspolitik mit Russland spricht. Das ist eine Russlandpolitik der Ewiggestrigen. Sie ist anachronistisch und nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Dass der Christdemokrat Merz diese Anti-Russlandpolitik vorantreibt, verwundert es nicht. Von einem „Transatlantiker der alten Schule“ und Bewunderer von Alfred Dregger hätte man auch nichts anderes erwarten können.
Dass aber die Partei von Willy Brand und Egon Bahr heute zur „Stahlhelm-Fraktion“ übergelaufen ist, verwundert schon, auch wenn das nicht überrascht. Wir erleben gerade die Wiederkehr der Geschichte: die Rückkehr der Machtpolitik in Deutschland.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Arnold, H., Deutschlands Größe. Deutsche Außenpolitik zwischen Macht und Mangel. München
Zürich 1995, 191.
2. Zitiert nach „Bilanz des >Anti-Terror-Kriegs<“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
3. Alle Zitate stammen von Erik Lehnert, Die Deutschen und die Russen, Sezession 118/ Februar 2024.
4. Link, W., Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen, 26. Mai 2002.
5. Link (wie Anm. 4).
6. Mayer, O., Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, Berlin 31924, XI.
7. Link (wie Anm. 4).