Verlag OntoPrax Berlin

Ronald Reagan und das Ende der Sowjetunion

Hat Reagan den „Kalten Krieg“ gewonnen?

Übersicht

1. Warum ist die Sowjetunion untergegangen?
2. Reagans „begrenzter“ Atomkrieg und die „Strategie der Enthauptung“
3. „Druck schafft keinen Frieden“

Anmerkungen

„Die Sowjetunion, so sagen uns … Reagan und … Haig Jr., ist verantwortlich
für alle unsere internationalen Probleme … Entspannung ist … Betrug …
Diplomatie ist etwas für Tunten.“
(George W. Ball, Juli 1981)1

1. Warum ist die Sowjetunion untergegangen?

Eine ungewöhnliche wie bemerkenswerte Studie ist unter dem Titel „Reagan Didn’t Win the Cold War“ (Reagan hat den Kalten Krieg nicht gewonnen) in Foreign Affairs am 6. September 2024 erschienen. Ungewöhnlich, weil sie die US-amerikanische Legendenbildung bezüglich des US-Sieges über die Sowjetunion im „Kalten Krieg“ entlarvt. Bemerkenswert, weil sie mit der gegenwärtigen China-Politik der US-Republikaner aus dem Erfahrungshorizont des „Kalten Krieges“ hart ins Gericht geht.

How a Myth About the Collapse of the Soviet Union Leads Republicans Astray on China“ (Wie ein Mythos über den Zusammenbruch der Sowjetunion die Republikaner in Bezug auf China in die Irre führt), lautet der Untertitel der Studie. Der Verfasser heißt Max Boot, ist ein ehem. Neocon und ein Querdenker. Bereits vor gut eineinhalb Jahren hat er anlässlich des zwanzigjährigen Wiederkehrs des Kriegsausbruchs im Irak ebenfalls in Foreign Affairs am 10. März 2023 eine umfangreiche Studie „What the Neocons Got Wrong“ vorgelegt, in der er mit der US-Außenpolitik der Bush-Administration abrechnet.

Max Boot (geb. 1969), den die World Affairs Councils of America 2004 zu einem der „500 einflussreichsten Personen in den USA im Bereich der Außenpolitik“ ernannte – zu jener Zeit also, als die Neocon-Bewegung ihre größten Erfolge feierte, übte in der Studie von 2023 Selbstkritik aus und gestand ein: Der Irakkrieg habe ihn gelehrt, dass die US-amerikanische Hegemonie ihre Grenzen habe.

Aus einem Falken wurde auf einmal eine Taube, aus einem Kriegstreiber ein Kriegsgegner, aus einem Demokratieförderer eine besonnene Stimme, die vor einem Demokratieexport eindringlich warnte.2 Eine erstaunliche Metamorphose, die sich nunmehr auch in seiner jüngsten Studie fortsetzt. In der vorgelegten Studie kritisiert er die US-Republikaner, namentlich Matt Pottinger und Mike Gallagher, die mit Verweis auf den erfolgreichen Kampf gegen den Sowjetkommunismus der Reagan-Administration in den 1980er-Jahren dafür plädieren, dass „die USA den Wettbewerb mit China nicht managen, sondern gewinnen sollten“.

Boot lehnt eine solche China-Politik kategorisch ab und stellt sodann fest:

Einer der größten Mythen sei, dass Reagan einen Plan hatte, das „Reich des Bösen“ zu stürzen, und dass es sein Druck war, der zum US-Sieg im „Kalten Krieg“ führte. Das Ende des „Kalten Krieges“ und der Zusammenbruch der Sowjetunion wären in Wirklichkeit allein das Werk des sowjetischen Führers Michail Gorbačov. Reagan habe Gorbačovs Reformen nicht herbeigeführt, geschweige denn den Zusammenbruch der Sowjetunion erzwungen. Sich etwas anderes vorzustellen, würde gefährliche und unrealistische Erwartungen an das wecken, was die US-Politik gegenüber China heute erreichen kann.

Diese Äußerung eines der Repräsentanten des außenpolitischen US-Establishments ist geradezu sensationell, sind die transatlantischen Machteliten doch bis heute fest davon überzeugt, dass sie die Sowjetunion im „Kalten Krieg“ besiegt haben. Mit der Frage, warum das Sowjetsystem untergegangen ist, setzt sich Boot allerdings nicht auseinander. Allgemein verweist er lediglich auf die – wie er es nennt – „zwei Folgen seiner radikalen Reformpolitik“ (two consequences of his radically reformist policies).

Immerhin stellt er zutreffend fest:

Der Kollaps der Sowjetunion war nicht unvermeidbar und er war nicht das Ergebnis von Reagans Rüstungswettlaufprogramm, um den sowjetischen Expansionismus im Ausland einzudämmen. Es waren vielmehr die unerwarteten und unbeabsichtigten Folgen von Gorbačovs Reformen.

Die Sowjetunion zerbrach nicht, weil sie wirtschaftlich bankrott war, sondern weil Gorbačov erkannte, dass sie moralisch bankrott war, und er sich weigerte, sie mit Gewalt zusammenzuhalten. Wenn 1985 irgendein anderes Mitglied des Politbüros die Macht übernommen hätte, würde die Sowjetunion vielleicht immer noch existieren und die Berliner Mauer könnte immer noch stehen, so wie die entmilitarisierte Zone Nordkorea immer noch von Südkorea trennt.

Boot will in seiner Studie einen Beweis erbringen, dass es nicht Reagan war, der die Sowjetunion zum Fall brachte. Richtig sei nur – zitiert er Reagans Außenminister George Shultz -, dass es „eine allgemeine >Frieden durch Stärke<-Attitüde“ (a general ‘peace through strength’ attitude) gab.

Die Frage nach dem Untergang des Sowjetsystems bleibt freilich bis heute ungeklärt und dessen Gründe bleiben nach wie vor im Dunkeln und nebulos. Nur die Sowjetnostalgiker wissen ganz genau, was passiert ist bzw. wer daran schuld ist. Gorbačev und seine engste Umgebung seien ihrer Meinung nach Verräter, die die Sowjetunion verkauft und verraten haben.

Alexander Solženicyn hatte da eine ganz andere Meinung: „Am Führungsstil Gorbačovs“ – meinte er in einem 2007 veröffentlichten Spiegel-Interview – „überraschen die politische Naivität, mangelnde Erfahrung und Verantwortungslosigkeit gegenüber seinem Land. Das war keine Machtausübung, sondern ein sinnloser Verzicht auf Macht.“3

Die Frage nach dem Untergang der Sowjetunion hängt auch mit einer anderen Frage zusammen. Denn lässt man die westliche Russlandforschung der vergangenen Jahrzehnte Revue passieren, so stellt sich mit Susanne Schattenberg in der Tat die berechtigte Frage, warum die Sowjetologen „den Zusammenbruch der Supermacht nicht hätten voraussehen können“4. Die bis heute erzielten „Erkenntnisse“ sind zwiespältig.

Die einen, vom Fortschrittsglauben inspirierten Zeitgenossen führen den Zerfall des Sowjetimperiums auf den Zwang zur „>nachholenden Entwicklung< zurück, die die >Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen<“ beendete. Die anderen fabulieren über die sog. „Selbstmord-These“, die besagt, dass Gorbačev „so grundlegend an den Säulen des Regimes gerüttelt (habe), dass er den Zusammenbruch nolens volens herbeiführte: >Der Leninismus beging Selbstmord, und nichts trat an seine Stelle<, so Kotkin.“5

Diese Pseudoerkenntnisse sind zwar wohlklingend, aber haltlos. Auch die sogenannte „Generationenthese“ erklärt nichts.6 Richtig ist allerdings die Erkenntnis, dass Gorbačev „ein Gesinnungstäter“ war und seine Perestrojka aus dem naiven Glauben an die Erneuerungsfähigkeit des Systems in Gang setzte.

Kotkins Feststellung: „Die UdSSR starb an einer Überdosis Ideologie, am grenzenlosen Idealismus Gorbačevs7, ist insofern richtig, als sie darauf hinweist, dass Gorbačev als gläubiger Kommunist mit seiner Vorgehensweise nur seine „politische Naivität“, worauf bereits Solženicyn zu Recht hingewiesen hat, bloßstellte.

Der Hinweis beantwortet aber immer noch nicht die Frage nach dem >Warum<. Warum führte die sog. Perestrojka zum Zerfall des Imperiums? Schattenberg verweist zu Recht auf die „Patron-Klientel-Beziehung“ als „die Funktionsweise von Herrschaft in der Sowjetunion“. Das Sowjetimperium war in der Tat „kein bürokratischer Staat, sondern ein Personenverbundsystem, in dem keine klaren Strukturen, Hierarchien und Institutionen über Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten entschieden, sondern in dem persönliche Verbindungen das wichtigste Kapital waren.“

Brežnev galt – schreibt Schattenberg (ebd., 14 f.) weiter – „als Machtvirtuose im Umgang mit den verschiedenen Interessengruppen schlechthin.“ Das bedeutete aber gleichzeitig, dass Brežnevs System- bzw. Machtstabilisierung durch seine Personalpolitik erfolgte. Diese Aufrechterhaltung der personalpolitisch geleitete Machtstabilisierung war laut Schattenberg (ebd., 15) in „Gorbačevs Augen genau der Kern allen Übels“.

„Was Brežnev als Wohltat für alle nach Stalin und Chruščov einführte, bekämpfte Gorbačev als Korruption“, weil er das Funktionieren des Systems gar nicht verstanden und deswegen die Systemstabilisierung durch „Kaderstabilisierung“ als Korruption missverstanden hat. Dieses – wie Schattenberg es nennt – „spezielle Herrschaftssystem“ ist allerdings kein Novum in der russischen Verfassungsgeschichte und hat eben nicht – wie sie mutmaßt – „Stalin aufgebaut“, sondern ist und bleibt die verfassungshistorische Konstante der russischen Herrschaftstradition.

Die Untergangsursache des Sowjetsystems war darum nicht mehr und nicht weniger als Gorbačevs radikaler Bruch mit dem tradierten Herrschaftskontinuum. Diese Auffassung habe ich bereits 1990 vertreten, als ich feststellte, dass Gorbačevs Perestrojka sich „als ein untaugliches Herrschaftsmittel für eine erfolgversprechende Durchführung seiner Reformen“ erweisen würde.8

2. Reagans „begrenzter“ Atomkrieg und die „Strategie der Enthauptung“

Kehren wir nun wieder zu Boots Studie zurück. Im Umgang mit den Sowjets war Reagan ständig hin- und hergerissen, schreibt er und führt weiter aus:

Reagans Haltung gegenüber der Sowjetunion war weder hart noch versöhnlich. Seine Außenpolitik war oft eine verwirrende Kombination aus falkenhaften und expansiven Ansätzen, die auf seinen eigenen widersprüchlichen Instinkten sowie Ratschlägen beruhten, die er von den Hardlinern wie William P. Clark, dem Verteidigungsminister Caspar Weinberger, dem CIA-Direktor William Casey und seinen pragmatischeren Beratern wie George Shultz und den Nationalen Sicherheitsberatern Robert McFarlane, Frank Carlucci und Colin Powell erhielt.

Selbst in seiner ersten Amtszeit war Reagan gegenüber den Sowjets nicht so hart, wie man behauptet, beteuert Boot und beruft sich zur Untermauerung seiner These darauf, dass Reagan Anfang 1981 das Getreideembargo aufhob, das Jimmy Carter ein Jahr zuvor als Reaktion auf die sowjetische Invasion in Afghanistan verhängt hatte. Des Weiteren schreibt Boot:

Als im Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde, erließ Reagan harte Sanktionen gegen den Bau einer sibirischen Gaspipeline nach Westeuropa, bevor er sie kurz darauf als Reaktion auf den Widerstand der Europäer wieder aufhob. Die Falken waren derart frustriert, dass Norman Podhoretz (Herausgeber der Monatszeitschrift Commentary) in einem Artikel in der New York Times (Mai 1982) seinen Frustrationen unter der Überschrift „Die neokonservative Angst vor Reagans Außenpolitik“ Luft machte.

„Man erinnert sich schnell daran, dass Carter ein Getreideembargo und einen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau verhängte, aber man kann sich nur schwer daran erinnern, was die Reagan-Sanktionen waren,“ empörte sich Podhoretz.

Die Konservativen wären noch entsetzter gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass Reagan zu dieser Zeit heimlich die Hand nach dem Kreml ausstreckte. Im April 1981 schickte Reagan eine sentimentale handschriftliche Notiz an Leonid Brežnev, in der er seinen Wunsch nach einem „sinnvollen und konstruktiven Dialog bekundete, der uns helfen wird, unsere gemeinsame Verpflichtung für einen dauerhaften Frieden zu erfüllen“.

Und zwei Tage nachdem er die Sowjetunion im März 1983 als „Reich des Bösen“ bezeichnet hat, forderte Reagan seinen Außenminister George Shultz auf, einen Dialog mit dem sowjetischen Botschafter Anatolij Dobrynin aufrechtzuerhalten.

Das ist freilich nur die eine Seite der Geschichte; die andere, dunklere unterschlägt Boot aber. Im Umfang mit den Sowjets war Reagan alles andere als zimperlich, und zwar gerade in seiner ersten Amtszeit. Reagan und seine Mannschaft waren von einem „begrenzten“ Atomkrieg geradezu besessen und sprachen ganz offen darüber, „dass es möglich sei, einen Nuklearkrieg gegen die Sowjetunion zu führen und zu gewinnen“.

Wie „sehr sie von einer Konfrontationsstrategie besessen sind, die darauf abzielt, die Sowjets zu zwingen, ihr Imperium zu verkleinern und ihre Gesellschaft grundlegend zu ändern“, berichtete der US-Journalist Robert Scheer in seinem 1982 erschienenen Werk „With Enough Shovels. Reagan, Bush and Nuclear War“.9

Auch heute sind wir genauso wie zu Reagans Zeit davon besessen, „Putins Russland“ zu zwingen, sein „Imperium zu verkleinern“, in zahlreiche Staaten zu zerstückeln und träumen immer noch davon, die russische „Gesellschaft grundlegend zu ändern“?

„Als Reagan realisierte“, schreibt Boot, „dass das Risiko eines Armageddon sehr real war, drosselte er bewusst seine aggressive Vorgehensweise (hawkishness). Im Januar 1984 hielt er eine versöhnliche Rede, in der er davon sprach, wie viel Gemeinsamkeiten die typischen Sowjetbürger >Iwan und Anja< mit den typischen Amerikanern >Jim und Sally< haben, und versprach, mit dem Kreml zusammenzuarbeiten, um >den Frieden zu stärken< und >das Waffenarsenal zu reduzieren<. Das Problem war, dass Reagan zu dieser Zeit keinen Partner für den Frieden hatte.“

War Reagan wirklich ein „Friedensapostel“ im Jahr 1984? Wie erklärt Boot dann Reagans Entgleisung acht Monate später, am 11. August 1984? Reagan machte an diesem Tag bei einer Sprechprobe für die Aufzeichnung seiner wöchentlichen Rundfunk- und Fernsehansprache, die von den beiden US-Sender CBS und CNN zufällig mitgeschnitten wurde, eine verantwortungslose Ankündigung: „Liebe amerikanische Landsleute, ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für immer vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.“10

Die zitierte Äußerung, die von US-Regierungssprechern als „Scherz“ verharmlost wurde, schockierte die Weltöffentlichkeit, ließ sie doch den mächtigsten Mann der westlichen Welt als >Spaßvogel< erscheinen, der „die Vernichtung der Sowjetunion und damit gleichzeitig den nuklearen Holocaust als unmittelbar bevorstehend“ ankündigte.11

Bereits im Jahr 1982 konnte man der Veröffentlichung aus der New York-Times, der Los Angeles-Times und der Herald Tribune entnehmen, wie sehr und intensiv innerhalb der Reagan-Administration Strategie-Studien diskutiert wurden, die alle das Thema zum Inhalt hatten: „Sieg in einem Nuklearkrieg über die Sowjetunion.“

Laut der New York-Times vom 30. Mai 1982 lieferte das Dokument „Die geheimen Verteidigungsleitlinien des Pentagon für die Jahre 1984-1988“ „den zurzeit maßgeblichen Einblick in das militärische der führenden Verteidigungsstrategen der Reagan-Regierung: Es weist die Streitkräfte an, Pläne mit dem Ziel zu entwickeln, die Sowjetunion auf jedem Konfliktniveau – von Aufständen bis hin zum Atomkrieg – zu besiegen. … Grundlage der Atomkriegsstrategie wäre die sogenannte Enthauptung, d. h. Schläge gegen die Verbindungslinien der Sowjetunion.“12

Heute würde man bei diesem Strategiepapier von hybrider Kriegsstrategie sprechen. Die von Chef-Strategen im Weißen Haus und im Pentagon konzipierte „Strategie der Enthauptung“ der Sowjetunion, die auch einen lang andauernden Atomkrieg für „gewinnbar und führbar“ hielten, wurde im Mai 1982 verfasst und im August des gleichen Jahres Ronald Reagan zur Unterschrift vorgelegt.

Die „Strategie der Enthauptung“ (decapitation) sah u. a. vor, gegen die „gesamte sowjetische (und sowjetisch-verbündete) militärische und politische Machtstruktur“ gezielte, punktgenaue Atomschläge zu führen bzw. mit „chirurgischen Einzelschlägen“ atomar vorgehen zu können. Endzweck dieser Operation sollte es sein, die „amerikanische atomare Macht in den Stand zu setzen, die Sowjets zur frühestmöglichen Beendigung der Feindseligkeiten zu zwingen, und zwar zu für die USA günstigen Bedingungen“ – was so viel wie bedeutet: Der „enthaupteten“ sowjetischen Bevölkerung können dann die Bedingungen des westlichen „Friedens“ – Friedhofsfriedens – diktiert werden.13

So harmlos, wie Boot Reagan in seiner ersten Amtszeit dargestellt hat, war sie also keinesfalls. Die Stimmung ändert sich erst mit Gorbačevs Machtübernahme im März 1985. Das hat aber mit Reagans antikommunistischer bzw. antisowjetischer US-Außenpolitik nicht im Geringsten etwas zu tun, worauf Boot selber zu Recht hinweist.

Erst bei der Genfer Gipfelkonferenz am 19. und 20. November 1985 und insbesondere beim Abrüstungsgipfel in Reykjavík kam es zwischen Reagan und Gorbačev am 11. und 12. Oktober 1986 zum sichtbaren Kurswechsel in der US-Außenpolitik der Reagan-Administration.

Die beiden Gipfeltreffen beendeten das Misstrauen der beiden Seiten und in der gemeinsamen Erklärung der Genfer Gipfelkonferenz hieß es, „dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals ausgefochten werden darf.“

3. „Druck schafft keinen Frieden“

Was Boot nun mit seiner Studie bezweckte, wird erst in deren letztem Abschnitt, den er mit der Schlagzeile „Pressure doesn´t make peace“ (Druck schafft keinen Frieden) überschrieben hat, deutlich.

Es gibt kaum Beweise dafür, schreibt Boot, dass der Druck auf die Sowjetunion in Reagans erster Amtszeit die Bereitschaft der Sowjets zu Verhandlungen erhöhte, wohl aber gibt es viele Beweise dafür, dass seine Hinwendung zur Zusammenarbeit mit Gorbačov in seiner zweiten Amtszeit dem neuen sowjetischen Führer ermöglichte, sein Land zu transformieren und den „Kalten Krieg“ zu beenden. Dennoch verwechseln viele US-Republikaner Reagans Erfolg in seiner zweiten Amtszeit mit seinen Misserfolgen in der ersten Amtszeit und wenden die falschen politischen Lehren auf die gegenwärtigen Beziehungen zum kommunistischen China an.

Sieht man von einer zu amerikanischen Sicht auf Gorbačovs Perestrojka ab, so ist die Feststellung zutreffend, dass Reagans „Erfolg“ nicht auf eine „Konfrontation“ (confrontation), sondern auf eine „Zusammenarbeit“ (cooperation) zurückzuführen ist. Daraus zieht Boot den Schluss, dass „eine Verschärfung der Konfrontation mit Peking … das Risiko einer Wiederholung der Kriegsängste birgt, die die Welt 1983 an den Rand einer Katastrophe brachten, und eine solche Strategie heute noch weniger Aussicht auf Erfolg hat.“

Eine enthemmte Eskalationspolitik gegen China berge in sich laut Boot das Risiko eines Atomkriegs. Die USA sollten zwar die chinesische „Aggression“ eindämmen und abschrecken, den Export sensibler Technologie einschränken und die Menschenrechtsverletzungen in China anprangern, zugleich aber in einen Dialog mit der chinesischen Führung treten, um das Risiko eines Krieges zu verringern. Das war die Herangehensweise an die Sowjetunion, die alle US-Präsidenten während des „Kalten Krieges“ verfolgten.

Washington sollte sich aber nicht einbilden, meint Boot zum Schluss, „dass es China verändern kann. Das kann nur das chinesische Volk. Die heutige Konfrontation mit China kann nur beendet werden, wenn der chinesische Staatschef Xi Jinping von einem echten Reformer nach Gorbačovs Vorbild abgelöst wird. Wenn dieses Szenario nicht eintritt, wird eine einseitige Karikatur von Reagans Politik gegenüber der Sowjetunion die Welt wahrscheinlich zu einem gefährlicheren Ort machen.“

Nun ja, ob dieses Szenario eintreten kann, ist fraglich, leben wir doch in einer ganz anderen Epoche als zurzeit des „Kalten Krieges“. In einem hat Boot aber völlig recht: „Druck schafft keinen Frieden“. Den Satz können wir heute im Konflikt zwischen Russland und den USA um die Ukraine bestätigt sehen.

Die USA haben mit ihren Nato-Bündnisgenossen keine Druckmittel, um China und Russland Parole zu bieten. Da sie aber weiterhin auf Konfrontation statt auf Kooperation setzen, bleibt die Welt auf Weiteres wahrlich „ein gefährlicher Ort“.

Anmerkungen

1. Ball, G. W., Kalte Kriegsmanie im Weißen Haus, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der Atomkrieg rückt
näher, 167-170 (167).
2. Näheres dazu Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der „dangerous naiveté“ in der US-
Außenpolitik. 21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Solženicyn, A., Mit Blut geschrieben. Spiegel-Interview vom 23.07.2007.
4. Schattenberg, S., Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
(2011), 9-15 (9).
5. Zitiert nach Schattenberg (wie Anm. 4), 11.
6. Näheres dazu Schattenberg (wie Anm. 4), 11 f.
7. Zitiert nach Schattenberg (wie Anm. 4), 13.
8. Silnizki, M., Die gegenwärtige Entwicklung des Sowjetsystems vor dem Hintergrund der russischen
Herrschafts- und Verwaltungstradition, in: Zeitschrift für Politik 37 (1990), 20-36 (36).
9. Scheer, R., With Enough Shovels. Reagan, Bush and Nuclear War. New York 1982. Zitiert in der deutschen
Übersetzung: Und brennend stürzen Vögel vom Himmel. Reagan und der „begrenzte“ Atomkrieg. München
1983, 7.
10. Zitiert nach Aldridge, R. C., Erstschlag! Die Strategie des Pentagon für den Atomkrieg. München 1984, V.
11. Aldridge (wie Anm. 10), VI.
12. Zitiert nach Aldridge (wie Anm. 10), VI-VII.
13. Zitiert nach Bruhn, J., Schlachtfeld Europa oder Amerikas letztes Gefecht. Gewalt und
Wirtschaftsimperialismus in der US-Außenpolitik seit 1840. Bonn 1983, 201.

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