Harold James´ Handelsblatt-Interview
Übersicht
1. Harold James als „Russlandexperte“
2. Ist die Ukraine ein souveränes Land?
3. Chinas Rolle im Ukrainekonflikt
Anmerkungen
„Jeder, der heute in Europa vom Frieden spricht, gilt als Kriegstreiber und
jeder, der vom Krieg spricht, gilt als Friedensstifter. Eine verrückte Welt.“
(Robert Fico, 30. Oktober 2024)
1. Harold James als „Russlandexperte“
Der britische Wirtschaftshistoriker Harold James hat dem Handelsblatt erneut ein Interview gegeben, das am 28. Oktober 2024, S. 12 f. veröffentlicht wurde. Unter der marktschreierischen Überschrift „In den USA drohen Weimarer Verhältnisse“ warnt er „vor den Gefahren für die US-Demokratie durch Donald Trump“ und prophezeit „eine Globalisierung der Kriege“.
Im Vorfeld der US-Wahlen zeigt sich James als Anhänger der US-Demokraten, der sich selbst nicht zu schade ist, deren Wahlkampfrhetorik zu eigen zu machen, um Trump als „Faschisten“ zu denunzieren. Ebenso fühlt er sich kompetent genug, sein Urteil über den Ukrainekonflikt abzugeben. „Es wird schwer, mit einer Trump-Regierung einen Ausweg aus dem Ukrainekrieg zu finden, der die Unabhängigkeit der Ukraine bewahrt,“ behauptet er.
„Unabhängigkeit“? Hat die Ukraine nicht schon längst ihre Unabhängigkeit verloren? Kann ein Land, dessen Kriegsführung maßgeblich von der westlichen Anti-Russland-Allianz finanziert und mit Waffen versorgt wird, überhaupt „unabhängig“ sein? Ist die Ukraine nicht schon längst zu einer Schuldenkolonie des Westens verkommen? Oder ist hier allein die „Unabhängigkeit“ von Russland gemeint?
Auf die Frage des Interviewers, ob „Trump … die Ukraine im Stich lassen (würde)“, antwortet James:
„Das ist meine Befürchtung. Eine Trump-Regierung würde Putins Regime neue Kraft einhauchen und einen Regimewechsel verzögern. Nur eine militärische Niederlage wird zu einer politischen Neuorientierung in Russland führen. So war es nach dem Krim-Krieg im 19. Jahrhundert, und so war es nach dem Ersten Weltkrieg. Europa braucht ein Russland, das nicht eine permanente Bedrohung für seine Nachbarn ist.“
Was für eine Prognose eines selbsternannten „Russlandexperten“! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Brite beschuldigt Trump, dass dieser – sollte er an die Macht kommen – „Putins Regime“ dazu verhelfen würde, „einen Regimewechsel (zu) verzögern“. Nicht Selenskyjs Regime, das den Krieg so gut wie verloren hat und „einen Regimewechsel“ befürchten muss, sondern dem erfolgreichen Kriegsherr Putin könne nur die künftige Trump-Administration „neue Kraft einhauchen“, um „eine militärische Niederlage“ abzuwenden.
Propaganda lebt bekanntlich wie eh und je in einer Phantasiewelt! Offenbar verwechselt der Brite Russland mit Blairs Regime, das die Briten in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak 2003 gestürzt hat. Viele Jahre später fällt der Untersuchungsbericht über die britische Beteiligung am Irakkrieg (Chilcot-Bericht) im Sommer 2016 ein vernichtendes Urteil über Ex-Premier Tony Blair: Saddam war 2003 keine Bedrohung für den Westen, und der Krieg hätte in dieser Form zu diesem Zeitpunkt nicht geführt werden dürfen. „Diese Intervention ging furchtbar schief“, so das Urteil von Sir John Chilcot.
All das will James vergessen lassen mit seinen polemischen Attacken gegen Russland. „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.“ Auch von dieser Volksweisheit will er nichts hören. Lieber phantasiert er von einer „militärischen Niederlage“ Russlands und setzt ungeduldig auf „einen „Regimewechsel“. Trump dürfe nur nicht im Wege stehen.
Gleichzeitig zieht er völlig deplatzierte historische Parallelen zum „Krim-Krieg im 19. Jahrhundert“ und zur Niederlage des Russischen Zarenreiches im Ersten Weltkrieg und verkündet abschließend pathetisch: „Europa braucht ein Russland, das nicht eine permanente Bedrohung für seine Nachbarn ist.“
Russlands „permanente Bedrohung“? In diesen Worten eines Briten spiegelt sich die bis heute andauende jahrhundertealte Erzfeindschaft zwischen Great Britain und Russland1 und die ganze Verbitterung darüber wider, dass Russland im Gegensatz zu Großbritannien immer noch ein Imperium geblieben ist.
Es verwundert zu alledem, dass der britische Wirtschaftshistoriker offenbar nicht die ganze Geschichte kennt oder so tut, als würde er sie nicht kennen, wenn er über die „permanente Bedrohung“ Russlands redet. In den vergangenen 200 Jahren waren es gerade die europäischen Groß- und Kolonialmächte, die Russland viermal überfallen haben: Napoleons Russlandfeldzug von 1812, der Krim-Krieg (1853-1856), die Intervention der Westmächte im russischen Bürgerkrieg (1918-1920) und nicht zuletzt der Vernichtungskrieg Nazideutschlands (1941-1945).
Russland war für Europa nie eine Bedrohung! Und selbst die zu Zeiten des Ost-West-Konflikts geschürte Angst vor einem unbegrenzten sowjetischen Expansionismus gehörte nach den Worten von Wilfried Loth „zu den zentralen Mythen des Kalten Krieges, die durch die konkrete sowjetische Westeuropapolitik nicht zu belegen sind.“2
Dass Stalin zudem von Anfang an das Ziel verfolgte, Osteuropa zu „sowjetisieren“, bestreitet der ehem. sowjetische Diplomat Georgij M. Kornienko (1925-2006) entschieden in seinen 1995 erschienenen Memoiren „Der Kalte Krieg“.3
Am Beispiel des Princeton-Professors Harold James sieht man, wie unzureichend selbst die akademische Elite des Westens über die Hintergründe des Ukrainekonflikts und die Intentionen der russischen Geo- und Sicherheitspolitik informiert ist und wie sehr sie sich von antirussischen Stimmungen, Ressentiments und Vorurteilen der Massenmedien leiten lassen und statt Aufklärung der Öffentlichkeit gewollt oder ungewollt selber Angst schüren und/oder die antirussische Kriegspropaganda betreiben.
Das überrascht auch nicht, wenn man bedenkt, dass die meisten sogenannten Intellektuellen in Zeiten des Krieges sehr schnell zu Komplizen und Mitläufern werden und sich auf die Seite der Kriegspartei nicht zuletzt deswegen schlagen, weil sie sich von der medialen Kriegspropaganda in die Irre führen lassen.
Bereits zurzeit des Kosovo-Kriegs, der die Militarisierung der westlichen bzw. US-amerikanischen Außenpolitik so richtig in Gang setzte und diese als „humanitäre Intervention“ rechtfertigte, trat die Anfälligkeit der Intellektuellen für die mediale Kriegspropaganda deutlich zutage.
So ließ sich selbst der „große“ Habermas davon in die Irre führen, als er von Milosevic´ „elender Praxis“ mit Verweis auf „Mord, Terror und Vertreibung“ von „etwa 300000 Personen“ schon „in den Monaten vor dem Beginn der Luftangriffe“ sprach und damit den Kosovo-Krieg befürwortete. „Es war schließlich das Ziel der Verhandlungen“, die erfolglos verlaufen sind, „einen mörderischen Ethnonationalismus zu stoppen“, rechtfertigte sich Habermas in Die Zeit und warf sowohl den „Gesinnungspazifisten“ als auch den „Rechtspazifisten“ vor, Carl Schmitts Brüder im Geiste zu sein.
Wäre „das nicht Wasser auf die Mühlen eines Carl Schmitt, der es immer schon besser wusste: >Wer Menschheit sagt, will betrügen“? – fragte Habermas empört und fügte offenbar in Anspielung auf Franz Grillparzer gleich hinzu: „Er hat seinen Antihumanismus auf die berühmte Formel gebracht: >Humanität, Bestialität<.“4
Nicht alle ließen sich freilich wie Habermas von der medialen Kriegspropaganda beeindrucken. „Was die NATO derzeit durchführt“- schrieb der Hamburger Rechtsphilosoph und „Rechtspazifist“, Reinhard Merkel (geb. 1950), entsetzt ebenfalls in Die Zeit zwei Wochen später am 12. Mai 1999 – ist „nur scheinbar eine >humanitäre Intervention<. In Wahrheit ist es ein Nötigungskrieg, der die Gewalt seines Nötigungsmittel in hohem Maße nicht gegen dessen Adressaten, sondern gegen unbeteiligte Dritte richtet. Ein künftiges Völkerrecht, das diesen Namen verdient, muss und wird solche Interventionen als prinzipiell verwerflich ebenso ächten, wie es das gegenwärtige mit Präventiv- und Aggressionskriegen tut.“5
Heute scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Wie zu Zeiten des Kosovo-Kriegs werden die sog. „Gesinnungspazifisten“ als Putins „nützliche Idioten“ denunziert. Folgt man diesen Denunzianten, so müsste der Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden wie zu Zeiten des „Tausendjährigen Reiches“ bis zum „Endsieg“ geführt werden.
2. Ist die Ukraine ein souveränes Land?
Zu diesen Zeitgenossen kann auch unser Brite gezählt werden, der sich in seinem Interview bitter beklagt, dass die „Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine ab(nimmt)“. Und „das ist eine fatale Entwicklung“, empört sich James. Denn die „Unterstützung reicht nicht, um die Souveränität der Ukraine zu verteidigen.“
Seine Sorge um „die Souveränität der Ukraine“ ist freilich völlig unbegründet. Dass die Ukraine ihre Souveränität „verteidigen“ muss, ist ein Gerücht, das von der interessierten Seite stets in den Umlauf gebracht wird. Denn man kann nicht etwas „verteidigen“, was gar nicht existiert. Wer wie die Ukraine einen Krieg auf Kosten der anderen führt, hat seine Souveränität längst an die Kriegsfinanzierer und Waffenlieferanten verkauft.
Schlimmer noch: Der Souveränitätsverlust der ukrainischen Staatlichkeit wurde spätestens seit 2014 in die Wege geleitet, als infolge der US-amerikanischen Expansions- und Interventionspolitik ein als „Maidan-Revolution“ verklärter Staatsstreich in Kiew stattgefunden hat.
Die US-amerikanische Interventionspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine offene territoriale Annexion vermeidet. Der territoriale Status des von der Intervention betroffenen Landes wird nicht in der Weise verändert, dass es in das Staatsgebiet der intervenierten Supermacht eingegliedert wird; wohl aber wird dieses Staatsgebiet in den Einflussbereich der USA bzw. in deren Raumhoheit einbezogen bzw. geo- und sicherheitspolitisch sowie geoökonomisch integriert.
Die äußere, territoriale Souveränität bleibt zwar unangetastet, deren Innenraum aber der Sicherung der geoökonomischen, monetären und geopolitischen Machtinteressen der USA angepasst. Das ist aber nichts anderes als eine andere Art von Annexion bzw. Raumbeherrschung, die wir als eine innere Annexion bezeichnen.6
Diese innere Annexion garantiert zwar den äußeren, territorialen Status quo, höhlt aber den Innenraum der Macht des beherrschten Landes politisch, ökonomisch und monetär aus. Die pseudoterritoriale Souveränität verwandelt sich dann „in einen leeren Raum für wirtschaftlich-soziale Vorgänge. Der äußere territoriale Gebietsbestand mit seinen linearen Grenzen wird garantiert, nicht aber der soziale und wirtschaftliche Inhalt der territorialen Integrität, ihre Substanz. Der Raum der ökonomischen Macht bestimmt den völkerrechtlichen Bereich. Ein Staat, dessen Handlungsfreiheit in solcher Weise Interventionsrechten unterliegt, ist etwas anderes als ein Staat, dessen territoriale Souveränität darin besteht, kraft eigener souveräner Dezision über die konkrete Verwirklichung von Begriffen wie Unabhängigkeit, öffentliche Ordnung, Legalität und Legitimität oder gar über seine Eigentums- und Wirtschaftsverfassung frei zu entscheiden und den Grundsatz cujus regio ejus economia zu realisieren.“7
Am Beispiel einer monetären Raumbeherrschung kann man diese Unterscheidung sehr plastisch demonstrieren. Die Sowjetunion suchte durch Abtrennung von Territorien und Ressourcentransfer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den erlittenen Kriegsschaden zu vermindern, wohingegen die USA keine Gebietsabtretungen erzwangen.
Sie bewirkten stattdessen „die Überleitung von Überschusseinkommen aus der Güterproduktion durch Integration der westdeutschen Wirtschaft in die Hierarchie des New Yorker Finanzzentrums“, indem sie „ein an den US-Dollar gekoppeltes Geld“ einführten und „den bestehenden politischen und wirtschaftlichen Steuerungszusammenhang“ auflösten.
Das erlaubte den USA, die Ressourcen der westdeutschen Wirtschaft „der Bewirtschaftung durch das New Yorker Finanzzentrum zu unterwerfen . . . Die sogenannte Währungsreform wird so als ein Akt der Reservierung von Überschusseinkommen für das Finanzzentrum in New York erkennbar. Es handelt sich um eine Maßnahme, die sich gleichermaßen gegen das besetzte Deutschland wie gegen die Verbündeten der Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet hat.“8
Eine vergleichbare Entwicklung der Souveränitätsaushöhlung findet auch in der Ukraine seit 2014 statt, sodass James´ Sorge um „die Souveränität der Ukraine“ völlig unbegründet ist. Denn sie hat diese Souveränität schon lange nicht mehr.
3. Chinas Rolle im Ukrainekonflikt
„Ein entscheidender Faktor (im Ukrainekonflikt) wird es sein, China dazu zu bringen, Druck auf Russland auszuüben“, glaubt James zu wissen. Dieser geläufige, im Westen immer wieder zu hörende, nicht desto weniger aber zweifelhafte Glaube daran, dass China auf Russland irgendeinen Druck ausüben kann, ist nur mit einer völligen Fehleinschätzung der russisch-chinesischen Beziehungen zu erklären, weil man in erster Linie auf die vermeintliche ökonomische Abhängigkeit Russlands von China verweist, ohne dabei eine tiefgehende geo- und sicherheitsstrategische Dimension der russisch-chinesischen Beziehungen zu beachten.
Verwunderlich ist zudem die fehlerhafte Annahme, dass China aus eigenen handelspolitischen Interessen und/oder geoökonomischen Abhängigkeiten vom Westen Russland zu irgendwelchen Zugeständnissen im Ukrainekonflikt ohne die Respektierung seiner eigenen vitalen Sicherheitsinteressen bewegen kann.
Warum soll China aber für die westliche Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik Kastanien aus dem Feuer holen, zumal die transatlantischen Geostrategen selber alles Denkbare und Undenkbare tun, um China sicherheits- und handelspolitisch unter Druck zu setzen? Und kann China es sich wirklich leisten, dem Westen zuliebe die geo- und sicherheitsstrategischen Beziehungen zu Russland aufs Spiel zu setzen? Das wäre für die chinesische Sicherheitspolitik eine unverzeihliche Dummheit.
Wie begründet James nun seinen Glauben daran, dass China Druck auf Russland erfolgreich ausüben könnte? China ist laut James´ Lagebeurteilung „noch immer sehr zurückhaltend, was direkte militärische Hilfe an Russland betrifft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Putin wegen chinesischer Warnungen von einer nuklearen Eskalation abgerückt ist. China hat großen Einfluss auf Russland – und vor allem: Es hat kein Interesse, die multilaterale Weltordnung aufzugeben.“
„Sehr wahrscheinlich“? Chinas „großer Einfluss auf Russland“? Putins „nukleare Eskalation“? Das sind die üblichen Mutmaßungen, Unterstellungen, Vermutungen der Transatlantiker, die von den strategischen Beziehungen zwischen Russland und China wenig bis gar keine Ahnung haben. Und was tut man, wenn man nichts Genaues weiß? Man phantasiert, denunziert, diskreditiert, deformiert, delegitimiert usw. usf.
Und so schließt der Brite sein Interview in Beantwortung der Frage, ob die „Autokratien … weiter vor(rücken) und die Demokratien … immer stärker in die Defensive (geraten),“ mit der despektierlichen Bemerkung ab: „Das glaube ich nicht. Der Ukrainekrieg offenbart nicht die Stärke, sondern die Schwäche autokratischer Regime. Niemand hat es gewagt, Putins Kriegsplänen zu widersprechen und auf die Risiken hinzuweisen. Genauso ist es im Iran und in China. Autokratien sind von Natur aus anfällig. Anfällig für Korruption und Fehlkalkulation.“
Was für ein Unfug! Hat sich Little Britain als Nicht-Autokratie unter Tony Blair nicht verkalkuliert? Haben die Nicht-Autokratien Afghanistan nach dem verlorenen, zwanzig Jahre andauernden Krieg nicht schmachvoll und fluchtartig verlassen? War das keine zwanzig Jahre andauernde Fehlkalkulation? Und was versteht James überhaupt unter Autokratie und deren „Natur“?
Das sind alles „leere Worte und poetische Metaphern“ (Aristoteles). Seit wann ist China als ein kommunistisches Land urplötzlich eine „Autokratie“ geworden? Und kann man überhaupt das kommunistische China, den Iran als eine islamische Republik und Russland als ein orthodoxes Land in einen axiologischen Topf werfen, über einen ideologischen Kamm scheren und verfassungstheoretisch als „Autokratien“ denunzieren?
Hier ist nicht ein Wissenschaftler, der die Leser aufklären will, sondern ein Propagandist in seinem Element, der die geopolitischen Rivalen deklassieren und delegitimieren will.
Und was die „nukleare Eskalation“ angeht, von der Putin angeblich „wegen chinesischer Warnungen … abgerückt ist“, so ist der Brite auch hier auf dem Holzweg. Dass China dazu fähig und willig ist, Russland unter Druck zu setzen, ist ein Wunschdenken derer, die bereits seit gut zweieinhalb Jahren fieberhaft versuchen, Russland „eine strategische Niederlage“ zuzufügen und zu ihrem eigenen Entsetzen deprimiert zugeben müssen, dass sie dazu gar nicht in der Lage sind.
Jetzt rufen sie die Chinesen um Hilfe, indem sie allerorts das Gerücht in die Welt setzen, dass „Putin wegen chinesischer Warnungen von einer nuklearen Eskalation abgerückt ist“. Sie kennen offenbar die russische Militärdoktrin nicht.
Die 2010 verabschiedete und von Dmitrij Medwedew genehmigt Militärdoktrin hat Putin zuletzt per Dekret am 2. Juni 2020 bestätigt. Die Kriterien für den Einsatz von Atomwaffen haben sich seitdem (noch) nicht geändert. Eine neue Nukleardoktrin ist jetzt in Vorbereitung. Russland betrachtet bis dato Atomwaffen ausschließlich als Mittel zur Abschreckung; seine Politik ist in diesem Bereich rein defensiver Natur und zielt allein darauf ab, die nuklearen Fähigkeiten auf einem Niveau zu halten, „das ausreicht, um eine nukleare Abschreckung zu gewährleisten“.
Der Einsatz von Atomwaffen erfolgt unter ganz bestimmten Bedingungen. Insgesamt sind es vier. Ein Nuklearwaffeneinsatz gegen ein Nichtnuklearland gehört nicht dazu. Eine solche Bedingung können z. B. die verlässlichen Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen oder den Einsatz von Atomwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen gegen Russland und/oder seine Verbündeten sein.
Die dritte Bedingung ist wie folgt formuliert: „Einwirkung des Feindes auf kritische staatliche oder militärische Einrichtungen der Russländischen Föderation, deren Ausfall zur Störung der Reaktionsmaßnahmen der Nuklearstreitkräfte führen kann.“ Die vierte Bedingung ist eine Aggression gegen Russland mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates bedroht ist.
Keines von diesen Bedrohungsszenarien sind bis heute gegeben, zumal Russland sich heute im Besitz solcher konventionellen Waffen befindet, mit deren Hilfe es im Westen verheerende Wirkung verursachen könnte, sollte es sich vom aus dem Westen gelieferten „strategischen Ressourcen und hochpräzisen Langstreckenraketen“ bedroht fühlen.
Und folgt man Putins Überzeugung, dass die Russen und Ukrainer ein Volk seien, so wäre allein schon vor diesem Hintergrund der Einsatz der Nuklearwaffen in der Ukraine völlig ausgeschlossen, will er doch nicht sein eigenes Volk mit Nuklearwaffen vernichten.
Vor diesem Hintergrund möchte man Harold James und vielen anderen sog. „Russlandexperten“, die in Putin ein Monster sehen und Russland ein verantwortungsloses Hantieren mit Nuklearwaffen unterstellen, zurufen: Statt Propaganda zu betreiben, sollten sie lieber lernen und forschen, um nicht Opfer ihrer eigenen Propaganda zu werden.
Anmerkungen
1. Vgl. Silnizki, M., Die Erzfeinde. Great Britain und Russland. 9. Oktober 2024, www.ontopraxiologie.de.
2. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
3. Корниенко, Г. М., Холодная Война. Свидетельство её участника. Москва 1995, 9 ff.
4. Habermas, J., Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: Die Zeit,
29. April 1999.
5. Merkel, R., Das Elend der Beschützten. Rechtethische Grundlagen und Grenzen der sog. humanitären
Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in: ders. (Hrsg.), Der Kosovo-
Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt 2000, 66-98 (75).
6. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland. Im Strudel von Geopolitik und
Identitätsdiskurs. Berlin 2018, 104 ff.
7. Schmitt, C., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950, 226.
8. Stadermann, H.-J., Der stabile Euro und seine Feinde. Marburg 2014, 404.