Verlag OntoPrax Berlin

Präemption, Prävention und der Ukrainekonflikt

Zwischen Geopolitik und Völkerrecht

Übersicht

1. Die US-Machtstellung und die Bush-Doktrin
2. Präemption oder Prävention?
3. Die Geopolitisierung des Völkerrechts

Anmerkungen

„Wer die Entfaltung der Zeitalter überblickt,
dem erscheint der Krieg als das eigentliche
Wesen staatlicher Tätigkeit.“
(Bertrand de Jouvenel)1

1. Die US-Machtstellung und die Bush-Doktrin

Kurz nach Barack H. Obamas Wahl zum 44. US-Präsidenten hielt sein Vizepräsident Joe Biden am 7. Februar 2009 eine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, indem er u. a. verkündete:

„Wir werden versuchen, präventiv, nicht präemptiv vorzugehen, um wo oder wann auch immer möglich zu verhindern, die Wahl des letzten Mittels zwischen den Risiken eines Krieges und den Gefahren des Nichthandelns treffen zu müssen. Wir werden versuchen, alle Bestandteile unserer Macht einzusetzen – militärische und diplomatische, nachrichtendienstliche und strafverfolgungsrechtliche, wirtschaftliche und kulturelle – um das Entstehen von Krisen zu verhindern, bevor wir mit ihnen konfrontiert werden. Kurz gesagt, wir werden versuchen, die amerikanische Stärke voll und ganz wiederzuerlangen, angefangen mit der Diplomatie.“

Was der US-Vizepräsident Joe Biden 2009, wie selbstverständlich, verkündet hat, geht auf die Bush-Doktrin zurück, die vom US-Präsidenten George W. Bush dem Kongress in Washington und der amerikanischen Öffentlichkeit am 17. September 2002 mit einer neuen „National Security Strategy“ vorgelegt wurde.

Die „Nationale Sicherheitsstrategie“ 2002, die 2006 bestätigt wurde, gilt als das Grunddokument der Bush-Doktrin, in deren Zentrum das Recht auf präemptive im Gegensatz zu präventiver Selbstverteidigung (preemptive self-defense) steht.

Der entscheidende Satz der Doktrin lautet: „we will not hesitate to act alone, if necessary, to exercise our right of selfdefense by acting preemptively against such terrorists, to prevent them from doing harm against our people and our country.“

Begründet wurde die Bush-Doktrin mit dem Hinweis darauf, „dass das Konzept der präventiven Selbstverteidigung im Völkerrecht schon seit Jahrhunderten anerkannt sei, wenn auch gebunden an das Erfordernis des unmittelbar bevorstehenden Angriffes. Dieses Unmittelbarkeitskriterium müsse nunmehr an die Gegebenheiten und Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst und entsprechend erweitert oder gar völlig aufgegeben werden.“

Zwar rief das Konzept der „preemptive self-defense“ „in vielen Teilen der Welt negative Reaktionen hervor und konnte daher nicht zu bindendem Völkerrecht erstarken. Es wurde weder die UN-Carta entsprechend angepasst, noch konnte angesichts heftigen Widerspruchs großer Teile der Staatenwelt neues Gewohnheitsrecht entstehen. Damit wurden in der NSS 2002 erstmals seit der Erklärung seines Korollars zur Monroe Doktrin durch den US-Präsidenten Theodore Roosevelt Anfang des 20. Jahrhunderts Grundsätze zur Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen proklamiert, die den Anforderungen des geltenden Völkerrechts nicht entsprachen.“2

Zwar suchte diese neue Sicherheitsdoktrin vor dem Hintergrund des Terroranschlags von 9/11 das Verteidigungsverständnis neu zu definieren und löste eine Debatte über das Recht auf „vorbeugende Verteidigung“ bzw. „vorbeugenden Militäreinsätze“ (Preemptive Strikes)3 aus.

Dem Konzept der „preemptive self-defense“ stand aber unreflektiert und unausgesprochen die sog. „humanitäre Intervention“ 1999 Pate, die de facto den Grundsatz zur Gewaltanwendung proklamiert, ohne den Anforderungen der UN-Charta zu entsprechen.

Galt zurzeit der Bipolarität das Nato-Grundprinzip, den Beweis für die Angriffsabsicht des Rivalen abzuwarten, bevor die militärische Verteidigung eingeleitet würde, so wurde dieser Grundsatz im Zeitalter der Unipolarität und angesichts der terroristischen Bedrohung Anfang des 21. Jahrhunderts hinfällig.

Hinzu kam eine einmalige weltpolitische Lage der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts als Folge des Untergangs des ideologischen Systemrivalen. Keine andere Großmacht verfügte in dem angesprochenen Zeitraum über eine vergleichbare militärische und ökonomische Potenz. Keine andere potentielle Gegenmacht besaß nur annähernd eine vergleichbare geopolitische, geoökonomische und monetäre Vormachtstellung in der Welt wie die USA.

Die Amtsjahre der Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush (1993 – 2009) waren „eine einzigartige Phase amerikanischer Hegemonialpolitik . . . Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht< bezeichnet“.4

Und diese einmalige Machtstellung der USA schlug sich auch im Grunddokument über die „preemptive self-defense“ nieder, die im eklatanten Widerspruch zum Gewaltverbot der UN-Charta stand. Die UN-Charta verbietet nämlich die militärischen Interventionen und räumt dem Gewaltverbot höchste Priorität ein.

Nun vertrat die Bush-Administration vor dem Hintergrund des Kosovokrieges (1999), der ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats geführt wurde, die Auffassung, dass das Völkerrecht in seiner jetzigen Form nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei – einer Zeit, in der die „Hypermacht“ schalten und walten konnte, wie sie wollte.

Ausgerüstet mit einer neuen Sicherheitsdoktrin und im Bewusstsein der eigenen Unverwundbarkeit, forderten die USA jetzt die Möglichkeit der „präemptiven Selbstverteidigung“ (preemptive self-defense).

2. Präemption oder Prävention?

Folgt man Karl-Heinz Kamp, so spricht man von einem präemptiven Angriff, „wenn dieser vor einer unmittelbar zu erwartenden gegnerischen Angriffshandlung stattfindet. Als präventiv gilt eine Kriegshandlung hingegen, wenn sie lediglich auf der Annahme beruht, dass in der nächsten Zeit mit einer militärischen Offensive des Gegners zu rechnen ist. Während Präemption unter dem Aspekt der unmittelbaren Gefahrenabwehr durchaus legitim sein kann, ist ein Präventivkrieg, der vorbeugend die eigenen Interessen mit militärischen Mitteln durchsetzt, in der Regel nur schwer zu rechtfertigen.“5

Demgegenüber definiert der wissenschaftliche Dienst des Bundestages (WD) die Begriffe in seinem Gutachten „Zum Konzept der präemptiven Selbstverteidigung“ 2007 wie folgt:

„Die Begriffe der präemptiven Selbstverteidigung (>preemptive self-defense<) und präventiven Selbstverteidigung (>preventive self-defense<) werden nicht einheitlich verwendet. Überwiegend wird eine Kriegshandlung dann als präventiv bezeichnet, wenn sie in eine zweifelsfrei unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Angriffshandlung des Gegners hineinläuft. Von präemptiver Verteidigung wird gesprochen, wenn die ergriffene militärische Maßnahme lediglich auf der Annahme beruht, dass der Gegner in der nächsten Zeit eine militärische Offensive beabsichtigen könnte, ohne dass konkrete Angriffshandlungen erkennbar sind. Zum Teil werden die Begriffe aber auch genau entgegengesetzt definiert“ (S. 3).

Wie auch immer man die Begriffe definieren mag, die „Zulässigkeit des Konzepts der präemptiven Selbstverteidigung wird – soweit ersichtlich – vor allem im US-amerikanischen Schrifttum bejaht“, stellt WD fest und fährt fort:

So begründet Arend6 die Zulässigkeit dieses Konzepts mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Recht auf Selbstverteidigung, welches vor der Verabschiedung der VN-Charta bestanden und die VN-Charta überlebt habe. Zwar sei die VN-Charta hinsichtlich der Frage, ob sie ein über Art. 51 hinausgehendes und unter der Charta fortbestehendes völkergewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht anerkenne, nicht eindeutig. Ein Verbot präventiver Selbstverteidigung sei der Staatenpraxis nach Verabschiedung der VN-Charta jedoch nicht zu entnehmen.

Das Konzept der präemptiven Selbstverteidigung weite lediglich das Unmittelbarkeitserfordernis der sog. „Caroline“-Formel aus dem Jahr 1837 aus, nach der präventive Verteidigungsmaßnahmen in solchen Situationen als völkerrechtsgemäß anzusehen sind, „in which the necessity of self-defence is instant, overwhelming and leaving no choice of means and no moment for deliberation“. Diese Ausweitung sei jedoch erforderlich, um Staaten in Zeiten einer Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Terroristen eine wirksame Selbstverteidigung zu ermöglichen.

Allerdings empfindet Arend es als problematisch, dass sich bisher kein völkerrechtlicher Standard zur Bestimmung der Fälle herausgebildet habe, in denen präemptive Selbstverteidigungsmaßnahmen bei einer Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Terroristen zulässig sind.

Daneben begründet Arend die Zulässigkeit präemptiver Selbstverteidigungsmaßnahmen auch mit dem – seiner Ansicht nach „ehrlicheren“ – Argument, dass die VN-Charta aufgrund der vielen Verstöße gegen das Gewaltverbot mangels tatsächlicher Beachtung durch die Staaten keine Gültigkeit (mehr) besitze. Wenn aber das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 VN-Charta nicht (mehr) gelte, könne die Doktrin der präemptiven Selbstverteidigung auch nicht dagegen verstoßen.

Auch Yoo hält das Konzept der präemptiven Selbstverteidigung für zulässig. Er begründet dies mit dem gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrecht, welches die VN-Charta überlebt habe …

Im Hinblick auf die Zulässigkeit militärischer Selbstverteidigungsmaßnahmen seien deshalb folgende Hauptaspekte zu berücksichtigen:

  • der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Angriffs
  • das Bestehen einer möglicherweise nur kurzen Zeitspanne, in der die Ausschaltung der Bedrohung möglich ist, und
  • das Ausmaß des drohenden Schadens.

Diese Sicht der US-amerikanischen Völkerrechtler wird vom überwiegenden Teil des Völkerrechtsschrifttums außerhalb der USA abgelehnt. So verstößt das Konzept der präemptiven Selbstverteidigung nach Ansicht von O’Connell gegen das Völkerrecht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Das Problem all dieser Völkerrechtsdeutungen ist nicht nur, wie man das Gewaltverbot der UN-Charta auslegt, sondern auch, wer die Deutungshoheit darüber besitzt und in welchem geopolitischen Kontext diese Deutung stattfindet. Das bedeutet aber, dass das Völkerrecht und die Geopolitik miteinander eng verbunden und nicht voneinander zu trennen sind.

Wer die völkerrechtliche Deutungshoheit hat, bestimmt auch die geopolitischen Spielregeln und legt dann das Gewaltverbot der UN-Charta beliebig aus.

3. Die Geopolitisierung des Völkerrechts

Bemerkenswert am Konzept der „präemptiven Selbstverteidigung“ (preemptive self-defense) ist nicht allein die Aushöhlung des Gewaltverbots der UN-Charta, sondern auch und vor allem die Beliebigkeit der Gewaltanwendung. Die USA erheben hier einen Gewaltanspruch, der den Grundpfeiler des modernen Völkerrechts de facto negiert. Eine solche Negierung stellt letztendlich das Gewaltverbot der UN-Charta ebenso, wie das Verbot des Angriffskrieges, in Frage.

Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der Nato als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).7

Diese Geisteshaltung des US-Establishments zeigt deutlich, dass mit dem Konzept der „präemptiven Selbstverteidigung“ an Stelle des UN-Völkerrechts das Selbstermächtigungsrecht der einzig verbliebenen und zum Hegemonen aufgestiegenen Supermacht getreten ist. Das bedeutete aber gleichzeitig die Rückkehr zum klassischen Völkerrecht.

Erkennt das klassische Völkerrecht an, was sich faktisch durchsetzt, und kommt es durch die Legitimierung des Stärkeren in Einklang mit den tatsächlichen Machtverhältnissen, so kann das moderne Völkerrecht in Widerspruch zur Macht des Faktischen treten. Je nachdem wie die Macht des Faktischen sich durchsetzt, kann das moderne Völkerrecht mit seinem Gewalt-, Annexionsverbot und/oder dem Verbot des Angriffskrieges in einen solch starken Gegensatz zur Machtfaktizität treten, dass es de facto zu existieren aufhört.

Diese Macht des Faktischen birgt in sich immer die Gefahr der Unmöglichkeit des Völkerrechts, sich selbst durchzusetzen. Wenn etwa die gewaltsamen Gebietsänderungen vom modernen Völkerrecht nie anerkannt werden, obgleich sie sich faktisch durchsetzen, dann treten Legalität und Faktizität so weit auseinander, dass das Völkerrecht seine Glaubwürdigkeit verliert.

„Der Rigorismus der modernen Friedenssicherung durch das moderne Völkerrecht raubt dem Völkerrecht seine friedenssichernde Funktion“8, verschärft ungewollt die geopolitischen Spannungen zwischen den Großmächten und gefährdet den Weltfrieden. Diese geopolitische Dysfunktionalität des modernen Völkerrechts ist eine Legalitätsfalle, die zur Selbstzerstörung des Völkerrechts führt.

Das moderne Völkerrecht ist, anders formuliert, bereits in seinen Denkvoraussetzungen dysfunktional angelegt. Die Folge ist eine Geopolitisierung des Völkerrechts und seine Instrumentalisierung in der Außenpolitik.

Deswegen begründet Arend, wie oben zitiert, die Zulässigkeit „präemptiver Selbstverteidigung“ – aus der Perspektive des klassischen Völkerrechts gesehen – zu Recht mit dem Argument, „dass die VN-Charta aufgrund der vielen Verstöße gegen das Gewaltverbot mangels tatsächlicher Beachtung durch die Staaten keine Gültigkeit (mehr) besitze. Wenn aber das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 VN-Charta nicht (mehr) gelte,“ hört das Völkerrecht auf, de facto zu existieren, sodass „die Doktrin der präemptiven Selbstverteidigung auch nicht dagegen verstoßen (kann).“

Ohne sich dessen bewusst zu sein, postuliert Arend in Hinblick auf die Doktrin der präemptiven Selbstverteidigung den Primat der Geopolitik.

Da spielt „ein leerer Normativismus“ der UN-Charta (Carl Schmitt) gar keine Rolle, es sei denn zur Legitimierung der eigenen Geopolitik.9

Vor dem Hintergrund dieser Doktrin der „vorbeugenden Selbstverteidigung“ (preemptive self-defense) bzw. „vorbeugender Militäreinsätze“ (preemptive strikes) muss auch Russlands Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 gesehen werden. Aus russischer Sicht war diese Invasion kein Beginn eines Angriffskrieges, sondern ein präemptiver Militäreinsatz, mit dem Russland einem unmittelbar zu erwartenden Angriff des ukrainischen Militärs auf die Gebiete Donezk und Lugansk zuvorgekommen ist.

Dass der ukrainische Angriff zweifelsfrei unmittelbar bevorstand, war bereits eine Woche vor der russischen Invasion evident, sodass die ergriffene Militäraktion – die sog. „Spezielle Militäroperation“ (SVO) – aus russischer Sicht unabwendbar war.10

Geopolitisch gesehen, ähnelte die explosive Lage im Februar 2022 der Lage um den Euromaidan 2014, die zum Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor F. Janukowytsch (2010-2014) geführt und das prowestliche ukrainische Regime an die Macht gespült hat.

Das Euromaidan-Ereignis war keine demokratische Revolution, wie es die Meinungsmacher im Westen uns weismachen möchten. Es war vielmehr die weitreichendste, geostrategische Zäsur seit Jahrhunderten, die die Einheit des ostslawischen Machtraumes zu Lasten der bis dahin dominierenden russischen Raummacht und zu Gunsten der westlichen raumfremden Mächte sprengte und zur geostrategischen Niederlage Russlands führte.

2018 schrieb ich: „Keiner weiß heute, welches >geopolitische Risiko< sich noch dahinter verbirgt.“11 Heute wissen wir das! Euromaidan führte acht Jahre später 2022 zum großflächigen Krieg auf ukrainischem Boden, der bis heute fortdauert.

Die Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation war darum aus russischer Sicht nicht nur ein geopolitisches Minimum, das die geostrategische Niederlage etwas abmilderte, sondern auch und in erster Linie eine Präemptiv-Maßnahme und trug einen rein defensiven Charakter.

Denn hätten die Russen die Krim nicht übernommen, wären dort die Nato-Militärbasen stationiert und Russland vom Schwarzen Meer abgeschnitten. Das wäre dann nicht nur eine geopolitische Niederlage, sondern auch eine geostrategische Katastrophe.

Die Vorgehensweise der russischen Führung war aus ihrer Sicht 2014 genauso, wie 2022, geboten, um dem geopolitischen Gesetz des Handelns gerecht zu werden, das da lautet:

Im globalen Raum existiert weder ein geopolitisches Niemandsland noch ein geostrategisches Vakuum. Die Geopolitik duldet kein Vakuum. Man mag diese Tatsache beklagen, ändern lässt sie sich nicht. Ist es – warum auch immer – entstanden, wird es sicherheitspolitisch früher oder später beseitigt. Schon die bloße Gefahr einer weiteren Expansion der raumfremden Mächte erfordert die Beseitigung des geopolitischen Vakuums.

Das ist das geopolitische Fundament, worauf Präemption und/oder Prävention beruht. Als die russische Führung 2014 verstand, dass sie in der Ukraine eine schwere geopolitische Niederlage erlitten hat, handelte sie nicht zuletzt aus der Erfahrung mit der Jahrzehnte andauernden Nato-Osterweiterung umgehend, um das entstandene geopolitische Vakuum nicht schon wieder seinem geopolitischen Rivalen zu überlassen.

Die von Jeffrey Goldberg („The Obama Doctrine“, in: The Atlantic, April 2016) kolportierte Äußerung Obamas, der „Moskaus Verhalten in der Ukraine-Krise“ als „eine improvisierte Reaktion auf den bevorstehenden Ausbruch eines Klientelstaates aus dem Einflussbereich Russlands“ diagnostizierte, scheint vor diesem Hintergrund zwar plausibel, aber nur teilweise zutreffend zu sein.

Zutreffender ist da schon Henry Kissingers Feststellung, Sicherheit habe für Russland „immer auch eine geopolitische Grundlage.“12 Und das trifft auch auf den Kriegsausbruch 2022 zu, als Russland sich in seinen vitalen Sicherheitsinteressen bedroht fühlte.

Die Gefährdung der eigenen geo- und sicherheitspolitischen Existenz impliziert eine Tendenz, die zukünftige Entwicklungen vorwegzunehmen, d.h. die Tendenz zum präemptiven und/oder präventiven Handeln. Und genau das hat auch auf der Krim 2014, wie im Donezk und Lugansk 2022, stattgefunden, ob man das hören will oder nicht.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Ekkehart Krippendorff, Über den Krieg und die Funktion von Rüstung, in: des.,
Internationale Politik. Geschichte und Theorie. Frankfurt/New York 1987, 158-177 (158).
2. Pfisterer, V., Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Mai 2010 – ein Bericht, in:
ZaöRV 70 (2010), 735-765 (755).
3. Kamp, K.-H., Vorbeugende Militäreinsätze (Preemptive Strikes). Eine neue sicherheitspolitische Realität?
Sankt Augustin, Januar 2004.
4. Reinhard, W., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als
Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J., u. a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War.
Baden-Baden 2012, 11; Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen
Rivalität. Baden-Baden 2017, 29.
5. Kamp, K-H., Von der Prävention zur Präemption? Die neue amerikanische Sicherheitsstrategie, in:
Internationale Politik, 12. Dezember 2002, 19-24.
6. Vgl. Arend, in: The Washington Quarterly, S. 89 ff., S. 90 ff.; Yoo, in: American Journal of International
Law 97 (2003), S. 571 ff.; Sofaer, EJIL 2003, 209 ff., 220 FF. Alle nachfolgenden Zitate stammen aus WD-
Stellungnahme.
7. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes
Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
8. Stark, Ch., Zum Annexionsproblem im Völkerrecht, in: Recht und Staat. Festschrift f. Günther Küchenhoff
zum 65 G. am 21.08.1972. Berlin1972, 851-867 (859).
9. Vgl. Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland. Im Strudel von Geopolitik und Identitätsdiskurs.
Berlin 2018, 104 ff.
10. Vgl. Silnizki, M., Der Ukrainekrieg als Präventivkrieg? Zwischen Existenzbedrohung und Nichteinmischung.
29. September 2024, www.ontopraxiologie.de.
11. Silnizki (wie Anm. 9), 98.
12. Henry Kissinger in einer Rede in Moskau (abgedruckt in: The National Interest, 4.2.2016). Zitiert nach Peter
Rudolf, Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie, September 2016,
1-28 (28).

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