Nachdenken über die Ukraine in Zeiten des Krieges
Übersicht
1. Die Ukraine als „ein dysfunktionales Wrack“?
2. Ist die Ukraine eine Militärjunta?
3. Ist die Ukraine eine US-Kolonie?
Anmerkungen
«Нынешний украинский режим экспансионистский (и в таком качестве
aктивно эксплуатируется Западом). … Россию все равно украинский
режим в покое не оставит.»
(Das gegenwärtige ukrainische Regime ist auf eine Expansion aus und wird
in diesem Sinne vom Westen massiv unterstützt. … Es wird Russland
so oder so nicht in Ruhe lassen).
(Michail Pogrebinskij, ein ukrainischer Politologe)1
1. Die Ukraine als „ein dysfunktionales Wrack“?
Man darf nie die Hoffnung verlieren. Endlich gibt es im außenpolitischen US-Establishment Experten, die nicht nur Kriegspropaganda betreiben, sondern auch bereit sind, einen realistischen Blick auf das Geschehen an der ukrainischen Front zu werfen.
George Beebe und Anatol Lieven sind solche Experten. Beebe war mehr als zwei Jahrzehnte ein Geheimdienstanalyst, Diplomat und Politikberater, u. a. als Direktor der Russlandanalyse der CIA und Stabsberater für Russlandangelegenheiten von Vizepräsident Cheney. In seinem Buch „The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe“ (2019) warnte er davor, dass die USA und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation geraten könnten, ähnlich der Situation, mit der wir heute in der Ukraine konfrontiert sind.
Lieven ist Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Prof. an der Georgetown University in Katar und in der Kriegsstudienabteilung des King’s College London.
In ihrem in Responsible Statecraft am 11. Januar 2024 erschienenen Artikel „Russia’s upper hand puts US-Ukraine at a crossroads“ schreiben die Autoren:
Wenn wir eine prosperierende Ukraine mit einem „liberalen Regierungssystem“ (liberal governance) und einer Mitgliedschaft in der EU wollen, müssen wir akzeptieren, dass sie kein Verbündeter der Nato oder der USA sein kann und dass diese neutrale Ukraine über ein überprüfbares Waffenarsenal verfügen darf. Wenn wir uns aber weigern, diesen Bedingungen zuzustimmen, wird Russland die Ukraine höchstwahrscheinlich in „ein dysfunktionales Wrack“ (dysfunctional wreck) verwandeln, das nicht in der Lage ist, sich wieder aufzubauen, ein Verbündeter des Westens zu werden oder eine militärische Bedrohung für Russland zu sein.
Russland werde die Ukraine in „ein dysfunktionales Wrack“ verwandeln, sollte der Westen der russischen Forderung nach der „ukrainischen Neutralität“ nicht entsprechen. Das sind neue Töne, die man von den außenpolitischen Experten des US-Establishments nicht mehr zu hören glaubte. Es bedürfte eines zwei Jahre andauernden Krieges, den „fünfhunderttausend getöteten und verwundeten ukrainischen Militärangehörigen“2, eines weitgehend zerstörten, zerbombten und ökonomisch danieder darbenden Landes, um zu einer solchen trivialen Erkenntnis zu gelangen.
Diese Erkenntnis hätte man aber viel billiger und viel früher haben und dazu noch viele, sehr viele Menschenleben retten können. Das lag jedoch nicht im Interesse der US-Geopolitik. Man muss sich nur einige Äußerungen von Zbiegniew Brzezinski in Erinnerung rufen, um das zu verstehen, was heute vor sich geht.
Wie kein anderer verkörperte Brzezinski mit seinem Denken und Wirken die „imperiale Geostrategie“ der USA in den vergangenen dreißig Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.3 Zwar sprach er gegen Lebensende in seinem letzten Werk „Strategic Vision“ (2012) davon, dass es für das Überleben des Westens zentral sei, „Russland zu integrieren“.
Russlands „Integration“ in die westlichen Machtstrukturen war aber für die Transatlantiker nie eine Option, hätten die USA doch andernfalls ihre Ordnungsmacht in Europa mit Russland teilen müssen, was einem Albtraum gleichkäme. Und Brzezinski war ja selber derjenige, der sein Leben lang alles getan hat, um zunächst die Sowjetunion zu Fall zu bringen und dann mit seiner „imperialen Geostrategie“ den postsowjetischen Raum unter US-Kontrolle bringen zu wollen.
Für „Brzezinski stelle es eine Art Hobby dar, Russland Schaden zuzufügen“, bemerkte der US-Ökonom James K. Galbraith einst.4
Erst 2012 hat er verstanden, dass seine Strategie eine fixe Idee war und dass es im Eigeninteresse des Westens wäre, Russland lieber auf der eigenen Seite der geopolitischen Barrikade zu haben. Seine verspätete Einsicht verhallte jedoch wie das Echo in der Wüste und die Transatlantiker von heute sind immer noch die Kalten Krieger von gestern geblieben, wie Brzezinski es seit eh und je war.
1998 enthüllte er in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, „dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel dieser Politik sei es gewesen, so Brzezinski, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der UdSSR in Afghanistan zu erhöhen.
Gefragt, ob er die Unterstützung fundamentalistischer islamischer Gruppen inzwischen bereuen würde, antwortete er unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue.“
Als der Interviewer nachhakte und auf den Zusammenhang zwischen Islamismus und Terrorismus hinwies, antwortete Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“5
Getreu Brzezinskis Credo setzt sich auch heute die US-Strategie der verbrannten Erde in der Ukraine unvermindert fort. Was ist wohl in der Tat bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte ein paar hunderttausend getötete und verwundete Ukrainer als die „strategische Niederlage“ Russland im Ukrainekrieg?
Nicht die „Integration“, sondern die endgültige Lösung der „russischen Frage“ strebt heute der sog. „Westen“ an, zu dem neben den USA, EU-Europa auch Japan, Südkorea und Australien hinzugezählt werden kann und der ca. eine Milliarde Bevölkerung umfasst. Vom Streben nach einer „strategischen Niederlage“ Russlands in der Ukraine geradezu besessen und von seiner vermeintlichen Allmacht überzeugt, glaubt er mit vereinten Kräften nun endlich dieses Riesenreich bezwingen zu können.
Der Westen hat offenbar von der leidvollen und grausamen Geschichte der vergangenen hundert Jahre nach wie vor nichts gelernt und nichts verstanden.
Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass George Beebe und Anatol Lieven zu der Einsicht des späteren Brzezinskis gelangten, dass man auf Russland zugehen sollte, um „eine kompromissfähige Friedenslösung“ (a compromise peace settlement) auszuhandeln.
Denn „die Zeit ist nicht auf der Seite der Ukraine“ (But time is not on Ukraine’s side), weder militärisch noch wirtschaftlich, und daher könnte die Position der Ukraine in künftigen Verhandlungen durchaus sehr viel schlechter sein als heute, begründen sie ihre Empfehlung.
Das setze freilich voraus, dass die USA bereit seien, auf die russischen Sicherheitsinteressen und -bedenken einzugehen. „Diese Bedenken“ – betonen Beebe/Lieven – bestehen „tatsächlich im gesamten russischen Establishment“ (concerns that are genuinely held throughout the Russian establishment).
Das bedeute aber wiederum die westliche Akzeptanz des ukrainischen Neutralitätsstatus mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine vergleichbar mit dem neutralen Status von Finnland und Österreich zurzeit des „Kalten Krieges“.
Wir sollten allerdings – fügen Beebe/Lieven abschließend hinzu – die der Ukraine verbliebenen 80 Prozent des Landes als einen echten – wenn auch nicht vollständigen – Sieg betrachten. Diese Situation sei viel besser als die scheinbare Alternative eines Zermürbungskrieges mit katastrophalen Verlusten für die Ukraine, der früher oder später zu einer weitaus größeren Niederlage führen werde.
Diese realpolitische Analyse der Situation an der ukrainischen Front ist zwar begrüßenswert, erfolgt aber womöglich viel zu spät und kann die stattfindende russische Offensive nicht mehr stoppen.
2. Ist die Ukraine eine Militärjunta?
Neuerlich hat ein Liebling der Deutschen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, der englischsprachigen kanadischen Tageszeitung „The Globe and Mail“ sein Herz ausgeschüttet. In seinem am 19. Januar 2024 veröffentlichten Artikel „Kyiv’s mayor worries Ukraine under Zelensky becoming increasingly autocratic“ (Kiews Bürgermeister befürchtet, dass die Ukraine unter Selenskyj zunehmend autokratisch wird) berichtet der kanadische Journalist Mark Mackinnon über ein in Kiew stattgefundenes Interview mit Klitschko.
In diesem Interview äußert der Kiewer Bürgermeister die tiefe Besorgnis über die ukrainische Verfassungswirklichkeit. Sein Land befinde sich im Krieg, beginnt Klitschko beschwichtigend das Gespräch, und er weiß, dass sich jeder hinter der Flagge und dem Präsidenten scharen sollte.
Er habe aber auch die Verantwortung, sich zu dem zu äußern, was seiner Meinung nach die Abkehr der Ukraine von den demokratischen Prinzipien sei, für die sie eigentlich kämpfen sollte. In Klitschkos Augen entwickele sich sein Land in die falsche Richtung und werde „immer autokratischer“.
Seit dem Kriegsbeginn strahlen die ukrainischen Fernsehsender eine einzige Sendung „United News Telemarathon“ aus, die wenig Raum für abweichende Meinungen lasse. Während Journalisten, die Selenskyj und seine Regierung kritisieren, unter Druck geraten seien, wurden laut Klitschko gleichzeitig seit Februar 2022 mehr als 200 Bürgermeister und Gemeinderatsvorsitzende im ganzen Land durch Militärverwalter ersetzt.
„Die Entwicklung, die wir gerade sehen, kann ich nicht als Demokratie bezeichnen. Es riecht nach … Autoritarismus“, beklagt sich Klitschko bei dem kanadischen Journalisten. „Dahinter steckt der Wunsch einiger Leute– ich kann ihre Namen nicht nennen – Medien und Fernsehen zu zentralisieren und … eine Machtvertikale (power vertical) aufzubauen“, empört sich Klitschko.
„Die von den Bürgern gewählten Bürgermeister und Gemeindevorsteher werden durch Leute ersetzt, die von oben eingesetzt werden. Deshalb mache ich mir Sorgen“, sagte er. Ferner berichtet Mackinnon über einen gewissen Denys Bihus, dem Inhaber einer Website, der durch die Aufdeckung von Korruption im Militär bekannt geworden sei.
Nach dessen Angaben wurden seine Mitarbeiter seit mindestens einem Jahr überwacht und belästigt und man versuchte die Arbeit seines Teams zu diskreditieren. „Jeder Druck auf Journalisten ist inakzeptabel“, zitiert Mackinnon die Äußerung eines Repräsentanten vom Transparency International Ukraine.
Auf die Frage, ob ihm jemals die Gelegenheit verwehrt worden sei, seinen Standpunkt im „United News Telemarathon“ darzulegen, hielt Klitschko inne und biss sich 17 Sekunden lang auf die Lippe, bevor er eine indirekte Antwort gab: „Wir sehen die eigentliche Tendenz, nur eine Information zu präsentieren, die sie zu kontrollieren versuchen. Objektive, wahrheitstreue Informationen sind für die Gesellschaft sehr wichtig und ein Informationsmonopol ist meiner Meinung nach nicht gut.“
„Seine Entscheidung“, beschwichtigte Klitschko zugleich, „Alarm zu schlagen“, sei „konstruktiv“ und nicht als Angriff gegen den Präsidenten gedacht. „Kritik ist keine aggressive Tätigkeit; sie hilft, keine Fehler zu machen“, sagte er auf die Frage, ob seine Äußerungen das Land in Kriegszeiten spalten könnten.
„Es ist sehr, sehr wichtig, nie zu vergessen, wofür wir kämpfen. Wir wollen ein Teil der demokratischen europäischen Familie, ein Teil der demokratischen Welt sein.“ Seine Bedenken hat er nach eigenen Angaben auch den westlichen Botschaftern mitgeteilt und dabei volle Zustimmung erhalten.
Der Bürgermeister äußerte sich, berichtet der Kanadier, im vergangenen Monat erstmals in einem Interview mit Schweizer Medien zum zunehmenden Autoritarismus in der Ukraine. Seine wiederholte Kritik gegenüber „The Globe and Mail“ folgten auf zwei Vorfälle, die neue Bedenken hinsichtlich der Pressefreiheit im Land aufkommen ließen.
Der investigative Journalist Yuriy Nikolov – ein ausgesprochener Kritiker Selenskyjs –, wurde von unbekannten Männern belästigt, die in seine Wohnung gekommen seien und ihn zum Militärdienst aufgefordert hätten. In einem Video, das von einem Telegramm-Kanal, der als Pro-Selenskyj gilt, online gestellt wurde, ist an Nikolovs Tür ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift „Verräter“ angebracht.
Nun ja, was der kanadische Journalist hier wage und vorsichtig schildert, ist ein Tropfen im Meer der nicht erst seit dem Kriegsausbruch grassierenden Willkürherrschaft in der Ukraine.
Wenn man das Interview genauer analysiert, so wird deutlich, wie beschwichtigend und mit Bedacht
Klitschko seine Kritik äußert – wohl wissend, dass er nicht zu weit gehen kann – und wie unangenehm es für den kanadischen Journalisten doch selber ist, über Klitschkos „Enthüllungen“ zu berichten.
Denn man möchte im Westen all das, was in der Ukraine wirklich passiert, gar nicht hören, um das eigene selbstgemalte Bild von einer „demokratischen“, „rechtsstaatlichen“ und die „westlichen Werte“ hochhaltenden Ukraine, die tapfer gegen Putins „Autokratie“, „Autoritarismus“ und „Diktatur“ im Namen von Demokratie und Menschenrechten kämpft, nicht zu zerstören.
Hinter dieser schönen Fassade verbirgt sich (und das veröffentlichte Interview mit Klitschko gibt zwar wage, aber deutlich genug zu verstehen) weder eine Demokratie noch ein Rechts- oder Verfassungsstaat, sondern eine stinknormale Militärjunta, die keine Skrupel hat, ihre Machtinteressen notfalls mit Brachialgewalt durchzusetzen.
Schlimmer noch: Was der kanadische Journalist gar nicht wissen konnte, ist, dass die Ukraine zu keiner Zeit ihrer jüngsten Vergangenheit als ein souveräner Staat eine liberal verfasste Gesellschaft war. Die Ukraine ist mit ihrem dreißigjährigen Versuch, sich von Moskau geopolitisch abzukoppeln und nach Westen zu orientieren, zwar ebenso erfolgreich gewesen, wie der seit dem Jahr 2014 unternommene Versuch, das Geschäftsmodell „Anti-Russland“ zu etablieren.
Die geopolitische Abwendung von Russland bedeutet freilich noch lange nicht eine liberale Zuwendung zum Westen: Die Ukraine ist weder rechts- noch verfassungsstaatlich, noch mental oder rechtlich ein westeuropäisches Land geworden.
Ganz im Gegenteil: In der Ukraine hat sich nach 2014 nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat als vielmehr dessen Fassade etabliert. Diese Fassade verschleiert ein Machtgebilde, das die liberale Verfassungsrhetorik nach außen zwar zur Schau stellt, nach innen aber weder in der Lage noch gewillt ist, ihr Folge zu leisten.
Diese bloße Imitation geht zum einen mit Verlust der eigenen kulturellen Identität einher, ohne dass sich die liberalen Verfassungsgrundsätze etablieren können, und wirkt sich zum anderen destruktiv auf die traditionellen Lebensstrukturen aus, nachdem sie die eigene historisch gewachsene Tradition für disponibel erklärt hat.
Weil die ukrainischen Machteliten eine prowestliche und antirussische Außenpolitik betrieben haben, glaubten sie ein westliches Land geworden zu sein, obschon sie sich tagtäglich von der westlichen Rechts- und Verfassungskultur immer weiter entfernten. Vom Rechts- und Verfassungsverständnis hergesehen, ähnelte das ukrainische Machtkonstrukt bereits vor dem Kriegsausbruch eher dem untergegangenen Sowjetstaat als einem westlichen Rechts- und Verfassungsstaat, dessen ideologisches Gerüst nicht mehr die Sowjetideologie, sondern ein brachialer ukrainischer Ultranationalismus ist.
Es überrascht daher kaum, wenn Klitschko instinktiv den ukrainischen Machtstrukturen „Autoritarismus“, „Machtvertikale“ und „autokratische“ Regierungsführung vorwirft, ohne dessen bewusst zu sein, dass diese Entwicklung bereits vor dem Kriegsausbruch voll im Gange war und mit dem Krieg nur beschleunigt wurde.
Da der Westen seinerseits aus eigenem geopolitisch motiviertem Opportunismus die antiliberalen und menschenrechtsverletzenden Tendenzen in der ukrainischen Verfassungswirklichkeit konsequent ausgeblendet bzw. toleriert hat, entstand bei den antirussisch gesinnten ukrainischen Führungs- und Machteliten das Gefühl der Narrenfreiheit, wodurch sie noch unberechenbarer und unverfrorener geworden sind und die Entwicklung der Ukraine zu einem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat erst recht verunmöglichten.
Der Westen steht heute vor dem Scherbenhaufen sowohl seiner Ukraine- als auch seiner Russlandpolitik. Die geopolitisch motivierte opportunistische Ignorierung der Illiberalität in der ukrainischen Verfassungswirklichkeit verschärfte nicht nur die antiliberalen und antidemokratischen Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik, sondern verwandelte die Ukraine im Kriegsverlauf zu einer Militärjunta.
Nicht erst der Krieg hat die illiberalen Tendenzen in der Ukraine ausgelöst, wohl aber vollendet. Und der Westen, allen voran die USA, haben dazu entscheidend beigetragen. Die Ukraine steht heute dank der prowestlich orientierten Geo- und Sicherheitspolitik mit dem Rücken zur Wand und es besteht eine akute Gefahr des Verlustes ihrer Eigenstaatlichkeit.
3. Ist die Ukraine eine US-Kolonie?
Der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergei J. Naryškin, behauptete am 22. Januar 2024 in einem Interview, dass die US-Ukrainepolitik eine „totale Vasallisierung“ (тотальная вассализация) der Ukraine anstrebt und in diesem Land zur Errichtung einer „Kolonialverwaltung“ (колониальная администрация) übergegangen sei, die aus im Westen ausgebildeten und den US-Interessen verpflichteten Ukrainern bestehen wird.
Naryškin wies zudem darauf hin, dass die USA vom ukrainischen Präsidenten verlangt hätten, „unter dem einen oder anderen Vorwand Personen von führenden Regierungsposten zu entfernen, die das Vertrauen des Weißen Hauses verloren haben“.
„Auf der schwarzen Liste stehen Dutzende hochrangige ukrainische Beamte aus dem Team Selenskyjs“, erklärte er. „Es wurde ihm mitgeteilt, dass Washington andernfalls ein >tödliches< Korruptionsdossier gegen Vertreter seines Umfelds veröffentlichen würde. Selenskyj weiß ganz genau, dass die Amerikaner über belastete Beweise verfügen, die ihn als Präsidenten zerstören könnten. Unter diesen Bedingungen wird er weiterhin nach der Pfeife seiner amerikanischen Herren tanzen.“
Naryškin betonte ebenfalls, dass die US-Führung „die Vasallenabhängigkeit Kiews von Washington erhöht. Die US-Berater sind bereits in allen wichtigen ukrainischen Regierungsabteilungen vertreten, ähnlich wie die Angelsachsen des British Empire ihre >politischen Agenten< in ihre Kolonien schickten, um die Aktivitäten der lokalen Behörden zu verwalten bzw. zu kontrollieren“.
„Während des Besuchs Selenskyjs in den USA im Dezember 2023 erhielt er eine dringende Empfehlung für die Personalveränderungen in den Exekutivbehörden der Ukraine. Die US-Amerikaner forderten den Posten des ukrainischen Premierministers für die ukrainische Botschafterin in Washington, Oksana Markarowa, die ihre Ausbildung an der Indiana University in Bloomington erhielt. Der stellvertretende Leiter des Finanzministeriums, Alexander Kava, der in Harvard studierte, soll zum Finanzminister ernannt werden.“
Was Naryškin hier schildert, ist nichts anderes als die Folge einer jahrzehntelangen US-Ukrainepolitik, an deren „erfolgreichem“ Ende eine ökonomische und administrative Domestizierung der Ukraine steht, die Naryškin nicht ohne Recht als Vorgang der „Kolonisierung“ des Landes bezeichnet.
Dieser „Erfolg“ ist mit hohem Blutzoll erkauft. Je nach Schätzungen schwankt die Opferzahl an den getöteten, verwundeten und verschollenen ukrainischen Militärangehörigen zwischen 500.000 und eine Million Menschen in diesem seit beinahe zwei Jahren tobenden blutigen Krieg.
Und der letzte und entscheidende „Erfolg“ ist noch lange nicht garantiert; er kann sich noch als Pyrrhussieg erweisen. Noch nie war der europäische Kolonialismus auf Dauer von Erfolg gekrönt. Auch die US-Expansionsstrategie findet in diesem blutigen Krieg ihr Ende. Die Geschichte hat immer all jene abgestraft, die glaubten, Russland militärisch bezwingen zu können. Nichts anderes wird es auch den USA ergehen, wenn sie glauben, Russland die Ukraine zu entreißen und auf Dauer kolonisieren zu können.
Auch mit Berufung auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg kommen wir nicht weiter, solange es hier um die vitalen geo- und sicherheitspolitischen Interessen geht. Die Geo- und Sicherheitspolitik priorisiert immer das Völkerrecht – erst recht, wenn es um die Rivalität der Groß- und Weltmächte geht. Was das bedeutet, ist heute auf den Schlachtfeldern der Ukraine zu besichtigen.
Dass die Kolonisierung der Ukraine überhaupt möglich war, ist nicht nur dem Zerfall des Sowjetreiches und der anschließenden Herausbildung der dem Westen ergebenen Macht- und Funktionseliten geschuldet, die ihre national- und eigenstaatlichen Machtinteressen mit den westlichen bzw. US-amerikanischen gleichsetzten. Das führt aber zu einem entzweiten Loyalitätsbewusstseins der ukrainischen Eliten, die ihre Machtinteressen allmählich, jetzt aber ausschließlich von den westlichen bzw. transatlantischen Machteliten abhängig gemacht haben.
Das bedeutete aber die Selbstaufgabe und Preisgabe der eigenstaatlichen Interessen seitens der ukrainischen Eliten, die sich und dem Volk diese fremdbestimmte Politik als die Politik der Verwestlichung der Ukraine und als ihre zivilisatorische Errungenschaft eingeredet haben. Die Folge war aber im nächsten Schritt die Selbstaufgabe der eigenen historischen und kulturellen Identität, sodass der Weg zur freiwilligen Selbstkolonisierung durch die Fremdmächte freigelegt wurde.
Diese Entwicklung kann nichts anderes als ein Vorgang der zivilisatorischen Selbstentmachtung und kulturellen Selbstentleibung der ukrainischen Eliten bezeichnet werden.
Dieses erstaunliche und faszinierende Phänomen kann nur dadurch erklärt werden, dass die Ukraine weder eine nationalstaatliche noch eine eigenstaatliche Tradition kannte und darum für die dominante und dominierende westliche Zivilisation empfänglich war.
Ganz besessen davon, sich von der großrussischen Zivilisation beinahe um jeden Preis befreien zu müssen und dadurch unabhängig sein zu können, haben die ukrainischen Eliten sich zunächst unbewusst und dann immer tiefer in die Abhängigkeit vom Westen begeben, aus der es anscheinend kein Entrinnen mehr gibt. So ist die „Kolonisierung der Ukraine“ durch den Westen bzw. die USA zu einer konsequenten und nicht mehr abwendbaren Entwicklung geworden, zumal die Ukraine vor dem Hintergrund des tobenden Krieges nun auch noch zur Schuldenkolonie des Westens geworden ist.
Da kann man mit Goethe darüber nur seufzend reimen:
„Wer mit dem Leben spielt,
Kommt nie zurecht;
Wer sich nicht selbst befiehlt,
Bleibt immer ein Knecht.“
Anmerkungen
1. Погребинский, М./Тренин, Д., Соседство или братство. Погребинский и Тренин о переоценке
близости России и Украины. Московский центр Карниги. 5.10.2021.
2. Näheres dazu siehe „Troop Deaths and Injuries in Ukraine War Near 500,000, U.S. Officials Say“. The New
Yorck Times, 18. August 2023.
3. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbigniew
Brzezinski, in: Blätter für dt. u. intern. Politik 7 (2012), 89-97 (90).
5. „How Jimmy Carter and I Started the Mujahideen“, Interview mit Zbigniew Brzezinski, in: Le Nouvel
Observateur, 15.01.1998. Zitiert nach Ritz (wie Anm. 3). 90.