Zur Frage nach der „Salamitaktik“ im Ukrainekrieg
Übersicht
1. Die „Salamitaktik“-These und Putins „rote Linien“
2. Russlands „offensive Defensive“ versus die US-Eskalationsdominanz
Anmerkungen
„Defensive“ und „Offensive“ werden „auswechselbare Versatzstücke einer auf
die Beherrschung der Lage gerichteten Machtpolitik klassischen Vorbilds.“
(Lothar Ruehl)1
1. Die „Salamitaktik“-These und Putins „rote Linien“
In ihrem Beitrag „The Real Risks of Escalation in Ukraine“ (Die realen Eskalationsrisiken in der Ukraine) für Foreign Affairs vom 3. Januar 2025 werfen die Autoren Michael Poznansky und William C. Wohlforth die These auf, dass die Vorgehensweise der Biden-Administration im Ukrainekrieg einer „Salamitaktik“ (salami-slicing strategy) ähnelt und dass deren Kritiker „Putins rote Linien“ (Putin’s Redlines) missverstehen.
Die „Salamitaktik“, bei der man versucht, die roten Linien des Gegners in kleinen Schritten zu untergraben, dergestalt, dass eine massive Vergeltung darauf als völlig unangebracht erscheint, wird im Übrigen auch in den russischen Expertenkreisen seit langem diskutiert. Nur nennen die Russen diese Vorgehensweise nicht „Salamitaktik“, sondern das Phänomen des „gekochten Frosches“ (engl. the „boiled frog“ phenomenon; russ. „синдром лягушки в кипятке“).
Die Metapher stammt aus der Geschäftswelt und besagt, dass ein Frosch, den man in einen Topf mit sehr heißem Wasser setzt, versuchen wird, sich durch Springen aus dem Wasser zu retten. Wenn man aber denselben Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser setzt und die Hitze zunächst niedrig einstellt und dann peu à peu heißer macht, wird er ruhig liegen bleiben und sich schließlich zu Tode kochen lassen.
Ob das überhaupt stimmt, sei dahingestellt, das „Phänomen“ ist jedenfalls mit der sog. „Salamitaktik“ vergleichbar. Nun beteuern die Autoren, dass diese Taktik der Biden-Administration erfolgreich war, da sie „das Eskalationsrisiko“ (the risk of escalation) beherrschbar machte und es deswegen nicht zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato kam.
Umgekehrt behaupten manche russischen Militärexperten, dass Russlands militärische Strategie der allmählichen Geländegewinnung nicht zuletzt dazu dient, eine direkte Konfrontation zwischen Russland und den USA zu vermeiden und die Nato nicht zu unüberlegten Entscheidungen zu provozieren.
Was man auch immer von diesen beiden Theoremen halten mag, es wird deutlich, dass es sich hier mehr als nur um einen Ukrainekonflikt handelt und die beiden nuklearen Supermächte alles tun, um die Eskalation nicht auf die Spitze zu treiben.
Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Behauptung der Autoren, dass Washingtons „Salamitaktik“ das Opfer des eigenen Erfolgs geworden ist. Das Ausbleiben einer größeren Eskalation in der Ukraine hat Kritiker dazu veranlasst, zu argumentieren, dass die Biden-Administration mutiger hätte sein müssen und ihre graduelle Vorgehensweise hätte längst aufgeben müssen, weil sie die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Invasionstruppen behindert hat.
Diese Salamitaktik-These ist freilich nur bedingt zustimmungsfähig. Dem muss entgegengehalten werden, dass die Autoren sich allein mit der US-amerikanischen Kriegsführungsstrategie auseinandergesetzt haben, ohne die russische Taktik und Strategie der Kriegsführung zu analysieren, und sind dadurch Opfer ihrer eigenen Kriegspropaganda geworden.
Poznansky/Wohlforth gehen davon aus, dass Putins „Redlines“ nicht in Stein gemeißelt, sondern „sozial konstruierte, bewegliche Ziele sind, die endogen in Konflikten entstehen. Was sich zu einem bestimmten Zeitpunkt als eine rote Linie darstellt, funktioniert nicht auf Dauer als solche.“
Diese sog. „Fluidität von Redlines“ versuchen sie mit Verweis auf die „Operation Cyclone“ zu erläutern. „Operation Cyclone“ war das verdeckte Programm, das die CIA von 1979 bis 1992 durchführte, um den Mudschaheddin zu helfen, die sowjetische Intervention in Afghanistan zu bekämpfen. Die Reagan-Administration zögerte zunächst den Rebellen Stinger-Raketen zur Verfügung zu stellen, die sowjetischen Hubschrauber abschießen konnten. Mitte der 1980er Jahre hat sie allerdings ihre Eskalationseinschätzung geändert und die Stinger-Raketen geliefert, wohingegen die anderen „roten Linien“, darunter das Verbot der Unterstützung direkter Überfälle auf die sowjetischen Interventionstruppen in Kraft blieben.
Vor diesem Hintergrund sind Poznansky/Wohlforth der Auffassung, dass die zu Kriegsbeginn als Überschreitung einer „echten roten Linie“ angesehen wurde, wie z. B. die offene Waffenlieferung, im Kriegsverlauf nicht mehr als solche betrachtet wurde. Auch die Lieferung der Langstrecken-Präzisionsraketen (ATACMS) habe die Biden-Administration erst gebilligt, „als die Ukraine bereits auf russischem Boden operierte und nachdem die nordkoreanischen Truppen in erheblicher Zahl an der Front stationiert wurden.“
Nichts ist an diesem Vortrag zutreffend. Die russische Führung hat zu keiner Zeit irgendwelche „roten Linien“ gezogen. Der Westen hat vielmehr selber stets „roten Linien“ gezeichnet, die er Russland unterstellte und bei deren Überschreiten dann frohlockte, dass die Russen sich deren Verletzung aus Angst gefallen lassen, um dann die weiteren phantasierten „roten Linien“ zu überschreiten, im Glauben auf dieser Art und Weise endlos eskalieren zu können.
Des Weiteren hat die ukrainische Kriegspropaganda, die von der Kriegspartei diesseits und jenseits des Atlantiks mit Verzögerung aufgegriffen wurde, die nordkoreanischen Truppen „entdeckt“, die an der russisch-ukrainischen Front kämpfen sollten, um weiter eskalieren zu können. Gleichzeitig wird aber die Anwesenheit tausender und abertausender Söldner aus Nato-Ländern seit dem Kriegsausbruch in den westlichen Mainstream-Medien weitgehend totgeschwiegen.
Getreu ihrer These kommen die Autoren mit Verweis darauf, dass „es Biden langsam gelang, Putins rote Linien zu erodieren und zu untergraben“ (Slowly, Biden succeeded in eroding and undermining Putin’s redlines) schließlich zum folgenden Ergebnis:
„Das Konzept der Salamitaktik entspricht im Wesentlichen der Strategie der Biden-Administration (The concept of salami tactics essentially captures the Biden administration’s strategy). … Die schrittweise Bereitstellung von Militärhilfe ermöglichte es Russland, sich langsam an einen neuen Status quo anzupassen, in dem die Ukraine immer leistungsfähigere Kampfmittel erhielt. Die bewusste Grenzverschiebung dergestalt, dass keine einzelne Entscheidung Washingtons eine dramatische Eskalation durch Russland rechtfertigte (z. B. der Einsatz taktischer Atomwaffen), ermöglichte die massive Waffenlieferung.“
„Die Salamitaktik war strategisch klug“ (salami tactics were strategically wise) in Anbetracht der Unsicherheit über Putins „Redlines“, schlussfolgern Poznansky/Wohlforth, geben aber gleichzeitig zu, dass „die Salamitaktik keine überwältigenden Siege brachte, auf die viele gehofft haben“ (Salami tactics did not offer the ringing victories that many hoped for).
Die der Studie zugrunde gelegte „Salamitaktik“-These ignoriert vollständig die Taktik und Strategie der russischen Führung im Ukrainekonflikt und kann darum vor lauter (US-amerikanischen) Bäumen den (russischen) Wald nicht sehen. Ihre ausschließliche Fokussierung auf die US-Kriegsführungsstrategie verkennt Putins bewusst gewählte Defensivstrategie der Kriegsführung, was zwangsläufig zur Fehleinschätzung des gesamten Kriegsgeschehens führt.
2. Russlands „offensive Defensive“ versus die US-Eskalationsdominanz
Das Ende des Ost-West-Konflikts hat das Machtgleichgewicht oder – modern gesprochen – die Machtsymmetrie zwischen Russland und den USA pulverisiert. Die Welt trat in ein neues Zeitalter – das Zeitalter der Unipolarität – ein, in der die USA die Geschicke der Welt nach Belieben bestimmen konnten. Die geopolitischen Karten wurden neu gemischt und Russland fand sich – tief abgestürzt und aus dem Zentrum des Weltgeschehens vertrieben – „urplötzlich“ an der Peripherie dieser neuen unipolaren Weltordnung.
Das Weltzentrum war von jetzt an Washington und an Stelle der Supermächte der bipolaren Weltordnung trat die transatlantische Gemeinschaft, an deren Spitze sich die einzig verbliebene Supermacht befand, um die sich die europäischen Satellitenstaaten versammelten. Es entstand eine Machtasymmetrie, der Moskau ohnmächtig gegenüberstand und macht- und kraftlos zuschauen musste, wie die gesamteuropäischen Sicherheitsordnung von den anderen, transatlantischen Akteuren diktiert und gestaltet wurde.
Kurzum: Russland befand sich in einer geo- und sicherheitspolitischen Starre, von der es sich bis heute nur mühsam befreien kann. Die Folge war eine beinahe dreißig Jahre lang praktizierte Defensivstrategie gegenüber der scheinbar allmächtigen Nato-Allianz, die im Ukrainekonflikt mittlerweile entzaubert wird.
Diese geradezu versteinerte Defensivstrategie ist zur tiefverankerten Geisteshaltung der Moskauer Macht- und Funktionseliten geworden. Das spürt man heute noch in Zeiten des Krieges in beinahe allen Reden und Denkansetzen der russischen Führung, die sich für die eigenen Entscheidungen stets rechtfertigt und verteidigt, statt diese offensiv und selbstbewusst nach außen zu vertreten.
Deswegen klingt der immer wieder geäußerte Vorwurf der Transatlantiker an die Adresse der russischen Führung: Sie bedrohe den „Westen“ sogar mit Einsatz von Atomwaffen, derart abstrus, dass unsereiner ernste Zweifel an der fachlichen Eignung der sog. „Russlandexperten“ haben muss, es sei denn, sie betreiben gezielt eine Desinformation der Öffentlichkeit, um die eigene westliche Aggressivität und Eskalationsdominanz zu verschleiern.
Und genau diese jahrzehntelang praktizierte Defensivstrategie wendet Putin heute im Ukrainekonflikt an. Allein vor diesem Hintergrund konnte die „Salamitaktik“-These entstehen, die ohne die russische Defensivstrategie gar nicht möglich wäre, die Poznansky/Wohlforth aber komplett ignorieren.
Die russische Kriegsführung trug von Anfang an einen defensiven Charakter und bis heute reagiert Putin auf die Provokationen und Eskalationen der Biden-Administration wie im Falle des Einsatzes der Landstreckenraketen überwiegend reaktiv, was im Westen fälschlicherweise als „Schwäche“ ausgelegt wird.
Die transatlantische Eskalationsstrategie, die unsere Autoren als „Salamitaktik“ darstellen, ist dessen ungeachtet kurzsichtig, blendet sie doch die Risiken aus, die sehr schnell in eine harte russische Reaktion umschlagen können, falls Russland sich in seinen vitalen Sicherheitsinteressen real und nicht nur abstrakt bedroht fühlt.
Ungeachtet ihrer „Salamitaktik“ befindet sich die Biden-Administration mit ihrer Anti-Russlandpolitik, was die Autoren selber zugeben, in einer militärstrategischen Sackgasse. Denn die noch vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine bestehende militärische Machtasymmetrie zu Lasten Russlands scheint sich mit dem Kriegsverlauf in Luft aufzulösen. Mittlerweile sieht es so aus, als würden die russischen Streitkräfte immer stärker, wohingegen die Nato-Staaten selbst mit Ankurblung ihrer Rüstungsindustrie mit Russland nicht Schritt halten können und darum gar nicht in der Lage sind, die Ukraine ausreichend mit Waffen zu versorgen.
Putins Mannschaft verfolgt dessen ungeachtet konsequent ihre Defensivstrategie gegenüber der Nato, die keineswegs als „Schwäche“ missverstanden werden darf.
Dass die russische Führung sich getraut hat, der Nato-Expansion in der Ukraine militärisch Einhalt zu bieten, ist nicht nur mit den russischen vitalen Sicherheitsinteressen, sondern auch mit der erreichten nuklearstrategischen Überlegenheit Russlands zu erklären, auch wenn die Nato-Allianz diese Entwicklung nicht wahrhaben will und konsequent ignoriert.
Russland besitzt heute aber mehr als nur eine Zweitschlagfähigkeit, was von der Nato nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. Seine Defensivstrategie birgt freilich in sich ein unlösbares Dilemma. Solange es selber die strategische Initiative unterlässt und defensiv agiert, hat es ein strategisches Defizit bei der Realisierung seiner geo- und sicherheitspolitischen Interessen.
Das Ergreifen einer strategischen Initiative bedeutet wiederum, dass Russland aus der defensiven Deckung herauskommen, die US-„Salamitaktik“ durch sein eigenes rigoroses militärisches Handeln desavouieren und die Bedingungen für die Kriegsbeendigung und Friedenserzwingung diktieren muss. All das setzt aber nicht unbedingt voraus, dass es stets vor den nuklearen Gefahren der Eskalation warnt und/oder mit der Nuklearkeule schwingt.
Die Überwindung der Machtasymmetrie bedeutet für Russland in erster Linie die Ergreifung einer solchen strategischen Initiative, die eine militärpolitische Situation herbeiführt, in der jede weitere „Salamitaktik“ gefährlich oder sinnlos wird, bis deren Nutzeffekt auf null zusammenschrumpft. Das würde aber in der letzten Konsequenz die Ausweitung der Grenzen des Ukrainekonflikts bedeuten, in deren Folge die Eskalationskosten die Eskalationsnutzen bei weitem übersteigen.
Russlands Defensivstrategie befeuert nur die Eskalationsspirale, provoziert offene oder verdeckte Eskalationsdrohungen und führt, statt die Gegenseite abzuschrecken, ungewollt zu noch mehr Eskalation.
Mit seiner defensiven Haltung befindet sich Russland in einem Dilemma: Überwindet es seine Defensivstrategie, riskiert es eine Verschärfung der Eskalation, verbleibt es in der Defensive, provoziert es eine weitere Eskalationsspirale. Hinzu kommt, dass die Ukraine ihrerseits alles tut, um eine direkte Involvierung der Nato-Allianz in die Kämpfe an der ukrainischen „Ostfront“ zu provozieren, was die russische Defensivhaltung nur noch verstetigt.
Mit dem Einsatz des neuen Waffensystems „Oreschnik“ demonstriert Putin andererseits, dass er mehr als nur eine strategische Nuklearoption hat, was ihm ermöglicht, seine Defensivstrategie offensiv zu gestalten, um glaubwürdig zu bleiben, wohingegen die USA es vor diesem Hintergrund schwer haben werden, die Eskalationsspirale aufrechterhalten bzw. weiterdrehen zu können.
Russland kann sich mittlerweile in Anbetracht seines erfolgreich getesteten neuen Waffensystems leisten, tendenziell weiterhin defensiv zu agieren, zugleich aber mit Ansage jederzeit und an jedem Ort im Umkreis von 5000 km zurückzuschlagen – im Bewusstsein dessen, dass die Nato-Allianz dem nichts entgegensetzen kann.
Mit einer solchen „offensiven Defensive“2 setzt Moskau tendenziell de facto jede Eskalationsspirale und damit jede „Salamitaktik“ außer Kraft, sodass die US-amerikanische Eskalationsdominanz hier ihre Grenzen findet.3 Und so bewahrheitet sich auch hier das „Gesetz“ des US-Ökonomen Herbert Stein: „Wenn etwas nicht ewig andauern kann, wird es eines Tages zu Ende sein.“
Anmerkungen
1. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf/Wien 1981, 417.
2. Der Ausdruck stammt von Lothar Ruehl (wie Anm. 1).
3. Vgl. Silnizki, M., Gefangen in einer strategischen Asymmetrie. Russlands Defensivstrategie und die US-
Eskalationsdominanz. 25. August 2024, www.ontopraxiologie.de.