Robert Kagan und der Ukrainekrieg
Übersicht
1. Die vertauschten Rollen
2. Sind die Nato-Staaten Kriegsteilnehmer auch im Sinne des Kriegsvölkerrechts?
3. „Die Erosion der Abschreckung“ und die Folgen
4. Putins „Schattenkrieg“ oder der Nato-„Proxykrieg“?
Anmerkungen
„Wenn wir nicht zu der globalen Rechtsordnung zurückkehren,
bekommen wir das Faustrecht.“
(Willy Wimmer, 2003)1
1. Die vertauschten Rollen?
Robert Kagan, der im Vorfeld des Irakkrieges 2003 mit seinem zunächst in einem Aufsatz und dann in einem Buch formulierten provokanten Spruch „Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus“2 in Europa eine rege Diskussion auslöste, macht erneut auf sich aufmerksam.
Unter dem marktschreierischen Titel „The Beginning of the End of NATO“ veröffentlichte er am 10. September in The Atlantic einen Artikel, der es in sich hat. Genauso wie vor zweiundzwanzig Jahren tritt Kagan heute als ein unbelehrbarer Neocon in Erscheinung. Nur die Zeiten haben sich zu seinem Pech drastisch geändert. Heute weiß man nicht ganz genau, wer „Mars“ und wer „Venus“ ist.
Die US-Hegemonie, die noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor lauter Kraft kaum gehen konnte, hat ihre unangefochtene Weltmachtstellung weitgehend verloren und eine mächtige Konkurrenz durch die aufgestiegenen bzw. wiedererstarkten Groß- und Weltmächte China und Russland bekommen. Was allerdings zurückgekehrt ist, sind von Neuem aufgeflammte Spannungen zwischen den USA und Europa.
Wie zurzeit des Irakkrieges 2003 wird heute immer deutlicher, dass die geopolitischen und geoökonomischen Interessen von Trumps Amerika und den transnationalen Machteliten diesseits und jenseits des Atlantiks nicht mehr identisch sind und dass die Spannungen innerhalb der Nato-Allianz wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen und Machtinteressen nicht zuletzt bezüglich des Ukrainekonflikts drastisch zugenommen haben.
Nur weiß man heute nicht mehr so genau, wer „Mars“ und wer „Venus“ ist. Die EU-Europäer sehen in Trumps Amerika keinen zuverlässigen Nato-Verbündeten mehr im Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden und benehmen sich so, als wären sie „vom Mars“. Und die Trump-Administration tritt so auf, als wäre sie „von der Venus“, und tut so, als wollte sie mit dem Krieg nichts zu tun haben, ist aber de facto im Krieg tief involviert.
Schlitzohrig, wie er immer schon war, veröffentlichte Trump einerseits am 13. September 2025 ein Schreiben auf „Truth Social“, das er an die europäischen Nato-Partner gerichtet hat: Er sei bereit, bedeutende Sanktionen gegen Russland zu verhängen, wenn alle Mitglieder der Allianz sich auf den gleichen Schritt verständigten und aufhörten, Öl in Russland zu kaufen, und erweckte damit den Eindruck, als wäre er „vom Mars“, will aber die EU-Partner nur in eine geoökonomische Falle locken.
Gleichzeitig hob er andererseits hervor, der Ukrainekrieg sei nicht sein Krieg, sondern „Bidens und Selenskyjs Krieg“, ohne dabei Putin zu nahe zu treten. Wenn die Nato tue, was er sage, werde dieser Krieg schnell vorbei sein. Wenn nicht, dann verschwendeten die Nato-Partner nur seine kostbare Zeit und die der Vereinigten Staaten.
„Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“! Ist Trump nun „vom Mars“ oder „von der Venus“? Folgt man Trumps Äußerung, so ist dieser Krieg nicht Putins Krieg, wie die Transatlantiker uns einhämmern, sondern „Bidens und Selenskyjs Krieg“. Ist dieser auch ein Krieg der Nato?
In einem Privatgespräch gab Macron gegenüber dem US-Wirtschaftswissenschaftler, Jeffrey Sachs (Prof. der Columbia University), zu, dass die Nato für den Ausbruch des Ukraine-Konflikts verantwortlich sei, berichtete die italienische Tageszeitung Il Fatto Quotidiano.
Sachs sagte dies am 14. September am Ende einer gut besuchten Debatte über den Krieg in der Ukraine: „Macron mi ha dato la Legione d’onore e in privato mi ha detto quello che in pubblico non dice: la guerra è colpa della Nato. Voglio che si sappia, perché questa cosa mi“ (Macron hat mir die Ehrenlegion verliehen und privat gesagt, was er nicht öffentlich sagt: Der Krieg ist die Schuld der Nato. Ich möchte, dass dies bekannt wird, denn diese Sache ist ungeheuerlich.“
Das Misstrauen auf beiden Seiten des Atlantiks verhärtet sich und führt zu Entfremdung und Unverständnis. Die Fronten bleiben dessen ungeachtet verschwommen und fließend und gehen oft ineinander auf. Auf beiden Seiten gibt es Gegner und Befürworter des Krieges und selbst innerhalb der Trump-Administration verschwimmt die Frontlinie zwischen Gegnern und Befürwortern.
Während Keith Kellogg ein bedingungsloser Unterstützer des Kiewer Regimes ist – nicht zuletzt deswegen, weil seine Tochter sich in der Ukraine engagiert und mittlerweile ein Vermögen verdient hat, nimmt Trumps engster Berater und Freund, Steve Witkoff, als ein >Mann für alle Fälle< eher eine neutrale bis prorussische Haltung ein.
Es ist darum nicht einerlei, wer, wo und auf welcher Seite der Kriegsbarrikade steht und selbst Trump ist, wie man sieht, ein unsicherer Kantonist und man weiß nie genau, wo man mit ihm dran ist. Seine pseudo-strategische Ambiguität wird infolge der eigenen Haltungslosigkeit bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
2. Sind die Nato-Staaten Kriegsteilnehmer auch im Sinne des Kriegsvölkerrechts?
Vor dem Hintergrund der eben skizzierten amerikanisch-europäisch-transatlantischen Unzweideutigkeit und Mehrdeutigkeit sowie der inneramerikanischen und innereuropäischen Querelen sind erst Kagans Überlegungen zu begreifen, die er in der oben erwähnten Schrift vorgestellt hat. Drei Kernthesen stellte er dabei zur Diskussion:
Die erste These lautet: Die Nato-Staaten sind im Ukrainekrieg nicht neutral, sondern eine Kriegspartei, und darum Kombattanten gemäß dem Kriegsvölkerrecht. Die Begründung ist bemerkenswert und ungewöhnlich zugleich:
Den „Neutralitätsgesetzen“ (the „laws“ of neutrality) werde heute kaum noch Beachtung geschenkt, Jahrhunderte vor dem Zweiten Weltkrieg galt jedoch: Wenn die Regierung eines Landes Waffen und Kriegsmaterial direkt an ein anderes Land lieferte, das sich mit einem Drittland im Krieg befand, war der Waffenlieferant rechtlich ein Kriegsteilnehmer und somit angreifbar, begründet Kagan seine These und fährt fort: Eine Ausnahme galt für private Waffenverkäufe, über die die USA während der Neutralität Washingtons im Ersten Weltkrieg Großbritannien und Frankreich mit Waffen belieferten. Direkte Waffenlieferungen und -verkäufe zwischen Regierungen stellten jedoch einen Verstoß gegen die Neutralität dar, die dem Drittland das Recht gab, nach eigenem Ermessen Krieg gegen das Geberland zu führen oder die Versorgung mit Gewalt zu unterbinden. Die Neutralitätsgesetze unterscheiden nicht zwischen Angreifer und Opfer, da diese Unterscheidungen nicht immer eindeutig sind. Hätte Putin jemals beschlossen, die Versorgungslinien von Polen, Rumänien oder der Slowakei in die Ukraine zu bombardieren, wäre er dazu berechtigt gewesen.
Mit seiner These widerspricht Kagan entschieden der vorherrschenden Rechtsauffassung der Nato-Staaten, dass sie zu Waffenlieferungen berechtigt sind, ohne dabei Kriegsteilnehmer zu sein. Das Bemerkenswerte an Kagans These ist, dass er trotz seiner Rechtsauffassung, dass die Nato-Allianz auch völkerrechtlich Kriegspartei sei und Russland, zu Ende gedacht, berechtigt wäre, gegen die Nato militärisch vorzugehen, ohne Wenn und Aber für eine militärische Unterstützung der Ukraine plädiert.
Kagan versteckt sich mit anderen Worten nicht hinter einer juristischen Rabulistik und redet Tacheles.
Ihm geht es letztlich nicht um eine juristische Wortklauberei, sondern um Geopolitik. Im Gegensatz zu denjenigen, die ihre wahren geo- und sicherheitspolitischen Absichten hinter den blumigen Worten von Demokratie, Menschenrechten und Beachtung des Völkerrechts verbergen, ist er zumindest ehrlich, unverblümt und nimmt kein Blatt vor dem Mund.
Selbst wenn man manche Rechtauffassungen zu dem in Rede stehenden Problem genauer analysiert, so sind diese auch nicht gerade das Gelbe vom Ei und durchaus anfechtbar. So hat beispielsweise Markus Krajewski kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 9. März 2022 zur rechtlichen Bewertung von Waffenlieferungen an die Ukraine Stellung genommen, um am Ende seiner ausführlichen Rechtsauslegung festzustellen:
„Im Ergebnis lässt sich somit festhalten: Wenn man das Neutralitätsrecht nach wie vor für anwendbar hält, dürfte Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine gegen das Neutralitätsgebot verstoßen haben. Dieser Verstoß ist jedoch kein völkerrechtliches Delikt, das Russland zu Repressalien berechtigen würde. Vielmehr sind Waffenlieferungen als weniger einschneidende Maßnahme als die offene Beteiligung am Konflikt analog dem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung gerechtfertigt. Gleichwohl wird Deutschland nicht Konfliktpartei im humanitär-völkerrechtlichen Sinne, solange im Ukraine-Krieg keine militärische Gewalt ausgeübt wird, die Deutschland zurechenbar wäre. Insofern ist Deutschland im Krieg zwar berechtigterweise nicht neutral, aber auch nicht Konfliktpartei.“3
Soll also die „Nichtkonfliktpartei“ Deutschland, das dank seiner Waffenlieferungen „im humanitär-völkerrechtlichen Sinne“ de facto Kriegspartei ist und dazu beigetragen hat, hunderte und tausende russische Soldaten zu töten, nicht de jure Kriegspartei sein? Diese spitzfindige Haarspalterei überzeugt heute keinen mehr.
Deutschland und die anderen Nato-Staaten sind längst Kriegspartei auch im völkerrechtlichen Sinne des Wortes. Erkennt das klassische Völkerrecht an, was sich faktisch durchsetzt, und kommt es durch die Legitimierung des Stärkeren in Einklang mit den tatsächlichen Machtverhältnissen, so kann das moderne Völkerrecht in Widerspruch zur Macht des Faktischen treten.
Je nachdem wie die Macht des Faktischen sich durchsetzt, kann das moderne Völkerrecht mit seinem Gewaltverbot und/oder Verbot des Angriffskrieges in einen solch starken Gegensatz zur Machtfaktizität treten, dass es de facto zu existieren aufhört. Diese Macht des Faktischen birgt in sich immer die Gefahr der Unmöglichkeit des Völkerrechts, sich selbst durchzusetzen. Wenn etwa die gewaltsamen Gebietsänderungen vom modernen Völkerrecht nie anerkannt werden, obgleich sie sich faktisch durchsetzen, dann treten Legalität und Faktizität so weit auseinander, dass das Völkerrecht seine Glaubwürdigkeit und Geltung verliert.4
Selbst wenn Putin dazu berechtigt wäre, die Versorgungslinien von Polen, Rumänien oder der Slowakei in die Ukraine zu bombardieren, warum hat er das nicht getan, fragt Kagan und beantwortet die selbstgestellte Frage mit folgender Vermutung: Zu Kriegsbeginn fehlten Putin möglicherweise die Kapazitäten: Russische Raketen konnten Kiew anfangs nicht einmal zielsicher treffen. Die größere Abschreckung war jedoch mit ziemlicher Sicherheit die Aussicht, die Nato und damit die USA in den Krieg hineinzuziehen.
Das mag sein. Nur steht das nicht im Widerspruch zu Kagans eigener Rechtsauffassung, dass die Nato-Staaten Kriegsteilnehmer auch im Sinne des Kriegsvölkerrechts seien.
3. „Die Erosion der Abschreckung“ und die Folgen
Kagans zweite These lautet: „Wäre die Nato in den letzten drei Jahren in den Krieg eingetreten, wären die russischen Streitkräfte in der Ukraine dem Untergang geweiht gewesen.“ Seine Begründung lautet:
Die USA hätten allein mit schiffs- und u-bootgestützten Raketen die Kertsch-Brücke zerstören und damit die wichtigste russische Versorgungslinie und den Rückzugsweg abschneiden können. In der Ukraine eingeschlossene russische Streitkräfte wären ein leichtes Ziel für die Nato-Raketen und -Flugzeuge gewesen. Putin hätte vor der Wahl zwischen einem umfassenden Krieg mit der Nato gestanden, den er unmöglich gewinnen konnte – einem Atomkrieg, der, was auch immer er sonst bewirken würde, Russland zerstören würde – oder einer Kapitulation. Putin hielt die Biden-Administration mit Drohungen einer nuklearen Eskalation ständig in Atem, achtete aber in Wirklichkeit äußerst darauf, nichts zu tun, was eine Reaktion der USA und der Nato hätte provozieren können.
Diese maßlose Selbstüberschätzung der Nato, die Russland angeblich zerstören könnte, ist typisch für die transatlantischen Machteliten jenseits und diesseits des Atlantiks, die immer noch davon überzeugt sind, dass die Nato die stärkste Allianz aller Zeiten ist. Zuletzt hat Trumps Sondergesandte, Keith Kellogg, von sich reden gemacht, als er auf einer Konferenz in Kiew am 13. September 2025 allen Ernstes behauptete, dass „Putin den Krieg in der Ukraine faktisch verliert“.
Wie verfehlt diese Selbstbeweihräucherung ist, zeigt allein der Afghanistankrieg, der gegen einen militärisch weit unterlegenen Gegner geführt und nach einer zwanzigjährigen Dauer mit Pauken und Trompeten verloren wurde.
Wenn die Nato die Kriege im Irak und Afghanistan nicht einmal gegen solche Gegner gewinnen kann, wie will sie dann einen Krieg des 21. Jahrhunderts gegen einen militärisch gleichwertigen Gegner, der zudem noch im kriegsentscheidenden Bereich wie Raketentechnologie weit überlegen ist, gewinnen? Manche bezeichnen die Nato schon heute als Papiertiger.
Schlimmer noch: Im Atomzeitalter von Siegern und Verlierern zu sprechen, ist nicht nur völlig abwegig, sondern auch Wahnsinn. Vom Hass verblendet, leiden die transatlantischen Kriegsfalken unter einer unheilsamen Krankheit namens Realitätsverlust, weil sie Opfer einer „gefährlichen Erosion der Abschreckung“ (The Dangerous Erosion of Deterrence) geworden sind, wovor Kagans Kollegen, Carter Malkasian und Zachary Constantin, am 17. Juli 2025 in Foreign Affairs gewarnt haben.5
Wohin eine solche „Erosion“ führen kann, darauf hat Albert Einstein längst hingewiesen: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“
Die „Vernunft des nuklearen Friedens“ (Michael Stürmer) scheint heute solchen „Militärstrategen“ wie Kagan abhandengekommen zu sein6 und „diesem Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen“ (Immanuel Kant).
Selbst die Biden-Administration war klüger und unterließ jede weitere Eskalation, die zum nuklearen Inferno hätte führen können, worüber sich Kagan ebenfalls empört zeigt: „Von Anfang an war es allein die Amerikaner, die eine amerikanische Intervention noch mehr fürchteten als Putin“ (from the beginning, the only people more fearful than Putin of American intervention were Americans).
Die Biden-Administration unternahm nichts, was auf eine mögliche Beteiligung der USA oder der Nato hätte hindeuten können, obschon sie seit Monaten von Putins Invasionsplänen wusste, schreibt Kagan verärgert. Er hat offenbar bis heute nicht begriffen, dass Russlands Invasion in der Ukraine von der Biden-Administration nicht nur gewollt, sondern auch provoziert wurde.7
Die militärischen Vorbereitungen auf der russischen Seite sprechen zudem dafür, dass Putin keinen Krieg, sondern eine Strafexpedition zur Einschüchterung des Kiewer Regimes plante. Jedenfalls verfügte Russland zu Kriegsbeginn nicht über die erforderliche Mannschaftsstärke, um einen umfassenden Krieg führen zu können. Heute wissen wir, dass es anders kam, als die russische Führung plante.
4. Putins „Schattenkrieg“ oder der Nato-„Proxykrieg“?
Kagans dritte These lautet: Putins größeres Ziel sei der Kollaps der Nato-Allianz (the collapse of the NATO alliance). Er führe deswegen seit Monaten „einen >Schattenkrieg< gegen die Nato-Staaten (a „shadow war“ against NATO member states).
Die These zeigt, dass Kagan bei der Beurteilung des Kriegsgeschehens genauso, wie Selenskyj, „den Bezug zur Realität verloren hat“, wie Paul Hockenos am 16. September 2025 in seinem Beitrag „Zelensky Is Losing Touch With Reality“ (Selenskyj verliert den Bezug zur Realität) für Foreign Policy plastisch formulierte.
Dass Putin einen Kollaps der Nato-Allianz anstrebt, ist eine Missdeutung der Ziele der sog. „Speziellen Militärischen Operation“ (SVO). Zwar hätte der Kreml nichts dagegen, wenn die Nato als das feindliche Militärbündnis, das seit dem „Kalten Krieg“ besteht, obschon dieser längst der Geschichte angehört, kollabiert. Das Ziel ist und bleibt aber nicht die Kollabierung, sondern zuallererst das Ende der Nato-Expansionspolitik und die Zurückdrängung der Nato bis zu den Grenzen des Jahres 1997, wie Russland in seinem Forderungskatalog Mitte Dezember 2021 formuliert hat.
Die russischen Kernforderungen haben die Biden-Administration und die Nato-Allianz von vornherein brüsk abgeschmettert. Schlimmer noch: Liest man die Überschriften der Zeitungsartikel vom Januar 2022, so wird deutlich, dass sich jede Verhandlung erübrigt hat, bevor sie überhaupt begonnen wurde:
- „Blinken lehnt Forderungen aus Moskau erneut ab“ (Spiegel, 27. Januar 2022);
- „Die Tür der Nato ist offen und bleibt offen – Absage an Russlands Forderung nach einem Ende der Nato-Osterweiterung“ (Handelsblatt, 26. Januar 2022);
– „USA: Keine Zusage an Moskau für das Ende der NATO-Erweiterung“ (Salzburger Nachrichten, 27. Januar 2022) usw. usf.
Hätte der Westen Konzessionen gemacht, wäre es nie zu einem Krieg gekommen. Nun beteuert Kagan, dass Putin zwecks Zerstörung der Nato-Allianz einen „Schattenkrieg“ (shadow war) führt, den das Center for European Policy Analysis (CEPA) als „konzertierte und koordinierte Angriffskampagne“ bezeichnet, die darauf abziele, die Kosten und Risiken für die Ukraine-Hilfen zu erhöhen. List man den CEPA-Bericht „Defend, Deny, Deter: Countering Russia’s Shadow War“ (Verteidigen, Leugnen, Abschrecken: Gegen den russischen Schattenkrieg), so behauptet dieser allen Ernstes: „Seit Russlands groß angelegter Invasion in der Ukraine haben die physischen Aggressionen gegen den europäischen NATO-Bereich sogar das Niveau des Kalten Krieges übertroffen.“
Diese unbelegte Anschuldigung ist eine Provokation, macht den Bock zum Gärtner und verschleiert damit den eigentlichen Grund – den Nato-Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden -, den der US-Außenminister, Marco Rubio, selber am 6. März 2025 als einen „Proxykrieg“ charakterisierte: „Frankly, this is a proxy war between the nuclear powers: the United States, which is helping Ukraine, and Russia, and it needs to come to an end.“
Mit einer solchen Anschuldigung ausgerüstet, beteuert Kagan nun, dass der „Schattenkrieg“ Putins typischer Versuch sei, zu testen, was die USA tolerieren würden. Die fehlende Reaktion der Trump-Administration ermutigte angeblich Putin, den nächsten Schritt zu gehen und „den >Schattenkrieg< aus dem Schatten zu holen“ (bring the „shadow war“ out from the shadows). Die Formulierung ist zwar flott, aber irreführend und unhaltbar.
Denn >den Schattenkrieg aus dem Schatten treten zu lassen< bedeute Putins „offener Angriff auf Polen“ (overtly attacking Poland) mit Drohnen, argumentiert Kagan. Die Argumentation verfolgt ein klares Ziel, nämlich Trump zu einer härteren Reaktion gegen Putin zu provozieren. Und deswegen schließt Kagan seinen Artikel mit den Worten ab:
„Dass Trump auf die ständigen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine nicht reagierte, war eine Sache. Wenn er (aber auch) auf einen russischen Angriff auf Polen nicht reagiert, müssen die Europäer aufhören, sich selbst etwas vorzumachen und der Tatsache ins Auge sehen, dass die Amerikaner nicht wirklich für sie da sind“ (For Trump to do nothing in response to the constant strikes against civilian targets in Ukraine was one thing. If he does nothing in response to a Russian attack on Poland, Europeans will have to stop fooling themselves and face the fact that the Americans really aren’t there for them).
Bei dieser „Theorie“ von dem sog. „Schattenkrieg“ (shadow war), der angeblich mit einem „offenen Angriff auf Polen“ >aus dem Schatten getreten< sei, geht es einzig und allein darum, Trump zu einer härteren Vorgehensweise gegen Russland zu provozieren, damit Kagan, Keith Kellogg, Boris Johnson und viele andere Repräsentanten der transatlantischen Kriegspartei ihren „Proxykrieg“ (Marco Rubio) gegen Russland auf ukrainischem Boden „bis zum letzten Ukrainer“ fortsetzen können.
Dass der sog. „offene Angriff auf Polen“ nur ein vorgeschobener Grund und ein Ablenkungsmanöver ist, verrät die Äußerung des polnischen Außenministers, Radosław Sikorski, der als Reaktion auf das Eindringen der Russland zugeschriebenen Drohnen in den Nato-Luftraum die Schließung des Himmels über der Ukraine forderte: „Wir sollten über eine Flugverbotszone nachdenken“ (FAZ, 15.09.25).
Die russische Reaktion ließ freilich nicht lange auf sich warten. Der Ex-Präsident und stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medvedev, schrieb daraufhin auf seinem Telegram-Kanal: „Die Umsetzung der provokativen Idee Kiews und anderer Idioten, eine >Flugverbotszone über der Ukraine< zu schaffen und den Nato-Ländern die Möglichkeit zu geben, unsere Drohnen abzuschießen, wird nur eines bedeuten – Krieg zwischen der Nato und Russland“.
Medvedev hat freilich etwas überreagiert und über das Ziel hinausgeschossen, da er genau weiß, dass Sikorski mit seiner Äußerung nur posiert und sein „Nachdenken“ folgenlos bleibt. Das hat Sikorski indirekt selbst eingestanden, als er im Zusammenhang mit den diskutierten Sicherheitsgarantien für die Ukraine vor leeren Versprechungen warnte, wie The Guardian am 15. September 2025 berichtete.
Sikorski wird darin mit den Worten zitiert: „Sicherheitsgarantien sollen potenzielle Gegner abschrecken. >Wir sagen also: Wenn es zumindest eine Art Frieden gibt, könnten wir, sollte Russland gegen die Ukraine irgendetwas unternehmen, Krieg gegen Russland führen. Ich halte das für wenig glaubwürdig. Denn wer gegen Russland Krieg führen will, kann das heute tun, und ich sehe keine Freiwilligen. Und es gibt nichts Gefährlicheres in den internationalen Beziehungen, als eine Garantie zu geben, die nicht glaubwürdig ist<.“8
Da kann man Sikorski nur zustimmen. Europas Hauptproblem ist dessen Glaubwürdigkeit. „Ukraine is on its own. Europe is all talk, no action“ (Die Ukraine ist auf sich allein gestellt. Europa redet nur, tut aber nichts) betitelte der britische Journalist und Historiker, Owen Matthews, deswegen am 5. September 2025 seinen Beitrag für The Telegraph und fügte im Untertitel hinzu: „Macron’s promise of boots on the ground is an empty show of solidarity that Putin will never allow“ (Macrons Versprechen, Soldaten vor Ort zu entsenden, ist eine bloß zur Schau gestellte Solidarität, die Putin niemals zulassen wird).
Spöttisch merkte er anschließend an: „Wenn wir Ursula von der Leyens Schlussfolgerung bezüglich der Sicherheitsgarantien, die darauf abzielen, die Ukraine in ein >Stahlstachelschwein< zu verwandeln, entschlüsseln, bedeutet es, dass Kiew bezüglich der künftigen russischen Aggressionen in Ruhe gelassen wird und seine Verbündeten einen Sicherheitsabstand wahren werden.“
Und mit dieser EU-Truppe will Kagan in einen Krieg gegen Russland ziehen? Man sollte ihm dabei viel Glück wünschen! Nein, die Europäer bleiben „die Venus“ und werden nie „der Mars“ sein.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Jochen Bölsche, Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus, Der Spiegel,
19.02.2003.
2. Robert Kagan, Power and Weakness, Policy Review, No. 113 (June and July 2002); Robert Kagan, Macht
und Ohnmacht. Amerika gegen Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003.
3. Markus Krajewski, Weder neutral noch Konfliktpartei? Zur rechtlichen Bewertung von Waffenlieferungen
an die Ukraine, Völkerrechtsblog, 09.03.2022.
4. Vgl. Silnizki, M., Die geopolitische Sackgasse des modernen Völkerrechts, in: des., Außenpolitisches Denken
in Russland. Im Strudel von Geopolitik und Identitätsdiskurs. Berlin 2018, 104-110.
5. Carter Malkasian/Zachary Constantin, Nuclear Powers, Conventional Wars. The Dangerous Erosion of
Deterrence). Foreign Affairs, 17. Juli 2025.
6. Vgl. Silnizki, M., In Zeiten von Kriegen und Gefahren nuklearer Eskalation. Gefangen zwischen neuen
Kriegstechnologien und Fehleinschätzungen. 5. August 2025, www.ontopraxiologie.de.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-
Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Vgl. „Russian drone incursion into Poland >was Kremlin test on Nato<“. Polish minister says Moscow sought
to gauge reaction without starting war as Romania reports new incursion, The Guardian, 15. September 2025.