Zwischen Bürgerkrieg, Kulturkampf und Geopolitik
Übersicht
1. „Land for Peace“?
2. Geopolitik, Kulturkampf und Glaubenskrieg
3. Zwischen Tradition und Moderne
Anmerkungen
“There never was a good war or a bad peace.”
Benjamin Franklin (1783)
1. „Land for Peace“?
In einem Artikel „A Ukraine Strategy for the Long Haul“ (Foreign Affairs, 10. Juni 2022) nahm der Präsident des Council on Foreign Relations Richard Haass eine kritische Stellung zur US-Strategie im Ukrainekrieg. Der Wunsch – schreibt Haass -, den Krieg zu beenden, wachse von Tag zu Tag mit Zunahme von Schäden an Menschen, Wirtschaft und Diplomatie. Die meist diskutierte Regulierung des Konflikts seien mögliche territoriale Zugeständnisse der Ukraine an Moskau nach dem Motto: „land for peace“. Ob ein solches territoriales Zugeständnis für Frieden („terrtory for peace“) in der Ukraine eine erstrebenswerte Lösung sei, hänge davon ab, welche und wie viel Territorien abgetreten werden sollten. Man könne sich allerdings kaum vorstellen, dass die Ukraine sich einverstanden erklären könnte, an Russland Territorien abzutreten. Die USA erklären ihrerseits, dass die Ukraine selber entscheiden müsse, welche Regelung sie bevorzuge. Die Biden-Administration habe sich wiederum die Lage dadurch verkompliziert, dass sie gleichzeitig eine Reihe heterogener Ziele von einer Schwächung Russlands bis zum „regime change“ verfolge.
Nun gab der US-Präsident Joe Biden in New York Times Ende Mai ein Statement ab: „We want to see a democratic, independent, sovereign and prosperous Ukraine with the means to deter and defend itself against further aggression.“ Dieses Statement sei zwar hilfreich, beseitige aber nicht die Konfusion („This statement helps, but it does not end the confusion“), kritisiert Haass.
Die US-amerikanische Strategiediskussion zeigt, wie wenig die US-Geostrategen verstehen, worum es im Ukrainekrieg aus russischer Sicht geht und welche Art vom Krieg da überhaupt geführt wird. Zwar ist die Landnahme auch ein Ziel der russischen Invasion, aber bei weitem nicht das entscheidende. Allein mit einem territorialen Zugeständnis wird der Ukrainekonflikt aus russischer Perspektive gesehen mitnichten gelöst. Russland geht es in diesem Konflikt nicht so sehr um Landnahme als vielmehr um die Wiederherstellung des Machtgleichgewichts in Europa und – damit eng verbunden – um die axiologische sowie geo- und sicherheitspolitische Zurückdrängung der raumfremden Mächte aus dem von Russland traditionell beherrschten bzw. domestizierten ostslawischen Machtraum. Es steht, anderes formuliert, die ukrainische Souveränität zur Disposition. Jedwede Diskussion über „land for peace“ verfehlt darum die eigentliche Intention der russischen Ukrainepolitik und vernebelt darüber hinaus die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts angestauten Probleme der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.
Bevor man überhaupt über eine „Ukraine Strategy“ diskutieren sollte, muss man sich über die ganze Komplexität des Ukrainekonflikts erst im Klaren sein. Sieht man von völkerrechtlichen und geopolitischen Aspekten des Konflikts zunächst einmal ab1, so ist der tobende Krieg in der Ukraine in erster Linie ein Bürgerkrieg, ein Kulturkampf und ein Glaubenskrieg.
Der Ukrainekrieg ist neben einem zwischenstaatlichen und geopolitischen Konflikt ein Bürgerkrieg zwischen den zwei ostslawischen „Brüdervölkern“ innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen der Ukraine. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Und selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein „Brüdermord“ aus ideologischen, axiologischen und kulturellen Gründen statt. Russland führt zum einen einen erbitterten ideologischen Krieg gegen den ukrainischen Ethnonationalismus, wohingegen die seit 2014 in der Ukraine an die Macht gekommene, angeblich „westlich“ orientierte, aber ethnonationalistisch geprägte ukrainische Machtelite Front gegen alles Russische macht. Es ist zum zweiten ein Kulturkampf um eine historische und sprachliche Identität des gespaltenen Landes, die mittlerweile in einen regelrechten Glaubenskrieg ausartete.2 Es geht schließlich zum dritten um eine axiologische bzw. verfassungspolitische Orientierung des Landes. Hier prallen das übernationale Prinzip der russischen Staatlichkeit und der ukrainische Ethnonationalismus als ideologisches Fundament der „neuen“ Ukraine nach 2014 unversöhnlich und knallhart aufeinander. Jedwede Versöhnung ist von vornherein ausgeschlossen.
Wie die Weißgardisten von den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges im russischen Bürgerkrieg gegen die Rotarmisten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unterstützt wurden, so unterstützt der Westen heute in diesem innerslawischen Bürger- und Glaubenskrieg nicht etwa die „westlichen Werte“, wie er naiverweise glaubt, sondern einen brachialen Ethnonationalismus ukrainischer Herkunft, den das Europa der Nachkriegszeit längst zu überwinden glaubte. Und dieser Bürger- und Glaubenskrieg wird „bis zum letzten Ukrainer“ geführt, wie manche Zyniker diesseits und jenseits der geopolitischen Barrikaden behaupten.
Wo der Westen hinkommt, bringt er gewöhnlich sein eigenes Wertesystem mit; dieses löste aber im Falle der Ukraine in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht etwa einen axiologischen Transformationsprozess, sondern einen ideologischen Kulturkampf innerhalb der Ukraine aus und verschärfte dadurch erst recht neben einer geo- und sicherheitspolitischen auch noch eine kulturelle und religiöse Konfrontation innerhalb des ostslawischen Vielvölkerstaates.3 Was dann seit 2014 passierte, war eine innerslawische bzw. russisch-ukrainische Tragödie: Die Ukraine befand sich unterschwellig stets in einer politischen, sozialen und ideologischen Krise und geriet dadurch bereits vor dem Kriegsausbruch immer mehr und immer tiefer in eine kultur-, verfassungs- und geopolitische Sackgasse, von den dauerhaften Kriegshandlungen im Donbass und Lugansk ganz zu schweigen.
2. Geopolitik, Kulturkampf und Glaubenskrieg
Nachdem die Verhandlungen zwischen Russland und den USA bzw. der NATO im Zeitraum vom 15. Dezember 2021 bis etwa Mitte Februar 2022 ergebnislos verlaufen sind, wird die von Russland in der Ukraine eingesetzte rohe Gewalt von den USA und der EU als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – auf die militärischen Drohgebärden zähneknirschend verzichtend – gebrandmarkt, um dann den russischen Angriffskrieg mit harten, aber „friedlichen“ Finanz- und Wirtschaftssanktionen zu belegen, von Waffenlieferungen an die Ukraine ganz zu schweigen. Wieso sind die USA und ihre NATO-Verbündeten überhaupt über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands so empört, wo sie doch selber oft und gern in den vergangenen zwanzig Jahren davon ausgiebig Gebrauch gemacht haben?
Da führten die USA mit einer wohlwollenden Unterstützung der NATO-Bündnisgenossen im Zeitraum vom 1999 bis 2021, also gut dreiundzwanzig Jahre, völkerrechtswidrige Angriffskriege, empören sich zugleich aber, ja sind geradezu entsetzt darüber, dass der geopolitische Rivale sich „anmaßt“, das Gleiche zu tun, um ebenfalls einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun zu brechen, ohne den Westen um Erlaubnis zu bitten.
Nun ja, was seit Jahren die Zeitungsspalten füllte und von allen Seiten kommentiert wurde: die zahlreichen Angriffskriege im untergegangenen Jugoslawien, Afghanistan und Irak u. a., ist heute vergessen und vergeben. Was nur vor wenigen Monaten die Aufmerksamkeit der ganzen Welt fesselte: der fluchtartige Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan nach einem zwanzig Jahre andauernden erbarmungslosen Krieg, all das ist ebenfalls vergessen und längst aus dem Gedächtnis gestrichen, ja ausradiert und verbannt? Wir sind schnell bereit, die eigenen Sünden und Schandtaten vergessen zu machen, je mehr wir eine willkommene Gelegenheit finden, die Schandtaten und die Verbrechen der anderen anzuprangern, erst recht wenn wir ausgerüstet mit medialer Übermacht dazu auch in der Lage sind.
Wie lässt sich denn sonst – wenn nicht medial – ausschlachten und genießen, was geopolitisch eigentlich im Verborgenen bleiben sollte, um zu zeigen, was der geopolitische Rivale vorhätte, hätte er es nicht getan, was er getan hat, um medial anschließend anzuprangern, was er getan hat, um das eigene Tun zu verbergen?
Der Rückzug der Biden-Administration aus Afghanistan offenbart sich heute immer mehr und immer deutlicher als eine radikale geostrategische Zäsur und ein geostrategischer Schachzug des alten Haudegens des „Kalten Krieges“ Joe Biden, der Putin ins ukrainische Messer laufen ließ. Zu Putins „Ehrenrettung“ muss man allerdings hinzufügen, Biden habe Putin aus russischer Sicht keine andere Wahl gelassen, als in die Ukraine einzumarschieren. Denn hätte er das nicht getan, so stünde er vor einem unlösbaren Dilemma: Entweder die Ukraine an den Westen und d. h. an die NATO zumindest de facto – wenn nicht de jure – ganz zu verlieren und die Ukraine als das „Anti-Russland“-Modell der Angelsachsen (USA & Great Britain) endgültig verwirklicht zu sehen, was für den Großrussen Putin nicht nur ein Alptraum wäre, sondern auch die geo- und sicherheitsstrategische Lage Russlands dramatisch – nicht nur dem Westen, sondern auch China gegenüber – unterminiert hätte. Oder nach dem Motto verfahren: Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende, soll heißen: Russland dreht mit seiner militärischen Intervention die Geschichte zurück und zerstört damit ein für alle Mal das im Verlauf von dreißig Jahren (seit dem Jahr 2014 sogar in beschleunigter Weise) aufgebaute Anti-Russland-Modell der feindselig gewordenen Ukraine, zugleich nimmt es aber gezwungenermaßen die monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen des Westens bewusst in Kauf.
Die russische Führung hat sich für die zweite Variante entschieden und es auf die Sanktionen ankommen lassen. Die Geopolitik stand immer schon in der russischen Geschichte über Allem und die Geoökonomie hatte wieder das Nachsehen. Der sich seit langem anbahnende neue „Kalte Krieg“ ist mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine voll entbrannt.
Wurde der alte „Kalte Krieg“ ideologisch als Wettbewerb zwischen Kommunismus und Kapitalismus und geopolitisch als bipolare Rivalität zwischen zwei Supermächten um die Weltherrschaft geführt, so existiert heute ein solcher „Kalter Krieg“ nicht mehr. Sowohl der ideologische Klassenkampf der beiden antagonistischen Weltentwürfe als auch die Bipolarität der Weltordnung gehört unwiderruflich der Vergangenheit an.
Begreift man hingegen den „Kalten Krieg“ allein militär- bzw. sicherheitspolitisch dergestalt, dass dieser ein Krieg sei, weil die Diplomaten versagt haben, ihre Meinungsdifferenzen auf dem Verhandlungsweg zu regeln, und kalt, „weil sie weder fähig noch willens waren, sie mit Gewalt zu regeln,“4 so hat dieser so verstandene „Kalte Krieg“ im Grunde nie aufgehört zu existieren. Vielmehr schwankte er in den vergangenen dreißig Jahren immer wieder hin und her zwischen Spannung und Entspannung.
Begreift man schließlich den „Kalten Krieg“ im Sinne Stalins, so kommt man an die Gegenwart noch näher heran. In einem Gespräch mit Tito merkte Stalin an: „Dieser Krieg hat mit früheren Kriegen nichts gemein; wer ein Gebiet besetzt, errichtet dort sein eigenes soziales System, soweit wie seine Armee vorstoßen kann. Anders kann es gar nicht geben.“5 Mit anderen Worten: Wo die Rote Armee hinkam, brachte sie das Sowjetsystem mit. Die Sowjets handelten im Grunde in der gleichen Weise wie die Briten und US-Amerikaner: Die einen wie die anderen errichteten ein System, „das dem eigenen ähnlich war, und bedienten sich daher verschiedenen Menschen und verschiedenen Methoden.“6
Auf die geopolitische Rivalität der Gegenwart übertragen, dürfte das wohl heißen: Die EU- und NATO-Expansion gen Osten würde automatisch (?) ein Wertsystem mit sich bringen und für Russland dadurch ein sicherheitspolitisches wie auch ein axiologisches Problem verursachen, wäre da nicht ein Haken. Hätte die Ukraine geistes-, rechts- und verfassungsgeschichtlich dem europäischen Kulturkreis angehört, wäre die westliche und NATO-Expansionsstrategie möglicherweise (?) aufgegangen. Das war aber eben nicht der Fall.
Wo die EU hinkommt, bringt sie zwar ihr eigenes Wertsystem mit sich; dieses löste aber im Falle der Ukraine nicht etwa einen axiologischen Transformationsprozess, sondern einen Kulturkampf innerhalb der Ukraine aus und verschärfte dadurch erst recht neben einer sicherheitspolitischen auch noch eine kulturelle und religiöse Konfrontation innerhalb des ukrainischen Vielvölkerstaates. Was ist passiert? Die Ukraine geriet in eine kultur-, verfassungs- und geopolitische Sackgasse.7
Und genau darin besteht die Quintessenz des neuen „Kalten Krieges“ bzw. des Ukrainekrieges: Auf ukrainischem Boden wird eine geopolitische Rivalität zwischen Russland und dem Westen ausgetragen, in welcher Sicherheitspolitik mit Bürgerkrieg und Kulturkampf vermengt und verschränkt wird. Diese Konfrontation ist darum umso erbarmungsloser, je mehr sie in einen säkularisierten Glaubenskrieg ausartet. Geopolitik verschränkt sich hier mit der Geotheologie. Nicht von ungefähr ist das Kriegsziel der russischen Führung nach ihren eigenen Beteuerungen neben der „Entmilitarisierung“ eine
„Entnazifizierung“ der Ukraine, wobei sich der Ausdruck „Entnazifizierung“ hier nicht auf das ukrainische Volk, sondern sich auf die ukrainische Führung und die herrschende Machtelite bezieht, die nach russischer Lesart die Ukraine „verraten“ und „verkauft“ hat. Nur in diesem Kontext können wir diesen für uns ziemlich irritierenden Sprachgebrauch verstehen.
Dieser Krieg ist umso dramatischer, tragischer und ja gefährlicher, je mehr er Geopolitik mit Geotheologie bzw. Sicherheitspolitik mit Kulturkampf verschränkt und je weniger der Westen diese Komplexität des Konflikts begreift. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass die geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen im nuklearen Zeitalter stattfindet, was die Lösung des Konflikts noch komplizierter macht. Denn die beiden Kontrahenten beanspruchten natürlich das Recht für sich allein: Die eine Seite rechtfertigt ihre Expansion formalrechtlich mit der Wahlfreiheit bzw. Selbstbestimmung eines jeden souveränen Staates, die andere beruft sich auf die jahrhundertealte kulturelle Tradition und lehnt darüber hinaus sicherheitspolitisch jede Einmischung der raumfremden Mächte in die eigenen traditionell beherrschten bzw. dominierten Machträume kategorisch ab.
Dieser sicherheits- und machtpolitisch ausgetragene axiologische Zusammenprall war früher oder später unabwendbar und unvermeidbar, sodass der Konflikt zwischen Russland und dem Westen auf ukrainischem Boden vorprogrammiert war und letztendlich auch in Krieg mündete. Oder anders formuliert: Mit dem Krieg in der Ukraine ist der „Kalte Krieg“ zum Glaubenskrieg mutiert, lokal >heiß< geworden, ohne dabei global (noch) >heiß< zu laufen. Ob diese Entwicklung das Ende der Fahnenstange bleiben wird? Zweifel sind immer dann angebracht, wenn es nicht nur geopolitisch um die Aufrechterhaltung der Hegemonie oder deren Sturz, sondern auch geotheologisch um einen Glaubenskrieg geht.
Russland zerstört momentan gewaltsam systematisch das geopolitische Spielzeug der Angelsachsen, das aus russischer Sicht nicht nur die Sicherheit und die kulturelle Identität und Souveränität Russlands, sondern auch den Zusammenhalt des gesamten ostslawischen Machtraumes bedroht. Mag sein, dass Russland eine „Entmilitarisierung“ der Ukraine gelingen könnte. Ob auch die sog. „Entnazifizierung“ – richtiger wäre zu sagen: eine kulturelle bzw. axiologische Rückabwicklung der Ukraine durch Russland – gelingen kann, da sind manche Zweifel angebracht.
3. Zwischen Tradition und Moderne
Bereits 1951 warnte George F. Kennan die „wohlmeinende(n), aber doktrinäre(n) und ungeduldige(n) Freunde aus dem Westen“ vor dem abenteuerlichen Versuch, dem künftigen Russland (womit auch die Ukraine gemeint war) die westlichen Verfassungsvorstellungen „in ihrer Idealform“ oktroyieren zu wollen. Ein solcher Versuch werde unweigerlich in „einen russischen Abklatsch der westlichen Demokratie“ ausarten,8 den Kennan schroff ablehnte, indem er auf eine mögliche Verfassungsentwicklung hinwies, welche die Gefahr einer Kollision zwischen den geopolitisch motivierten Idealvorstellungen des Westens und der seit Jahrhunderten ausgebildeten russischen (bzw. ukrainischen) Herrschaftstradition hervorrufen könnte.
Im Gegensatz zu der sogenannten „liberalen Demokratie“, die zu jenem einzigartigen Phänomen der Weltgeschichte gehört, das nur der Okzident hervorgebracht hat, vollzog Russland eine ganz andere rechts- und verfassungshistorische Entwicklung, dessen zentral gesteuerte Raumbeherrschung die Entwicklung zu einer „liberalen Demokratie“ verunmöglichte, sodass die Delegitimierung der traditionellen russischen Herrschaftsauffassung selbst nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches 1917 nicht stattgefunden hat. Der Sowjetstaat hat die autokratische Herrschaftstradition des Russischen Reiches nicht zerstört, sondern ganz im Gegenteil bis auf die Spitze getrieben und letztlich totalisiert.
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums traten an die Stelle der totalitären die tradierten Herrschaftsstrukturen. Und lassen wir uns nicht täuschen: Die Revitalisierung der tradierten Herrschaftsauffassung fing nicht erst mit Putins Regentschaft an, sondern geht bereits auf Jelzins Präsidentschaft zurück. Eine „liberale Demokratie“ hatte weder im Russland noch in der Ukraine der 1990er-Jahre wegen der fehlenden institutionellen Strukturen, der fehlenden Rechtstradition und der mentalen Voraussetzungen gar keine Chance auf Verwirklichung. Bis heute vermisst man in Russland wie auch in der Ukraine einen funktionierenden Rechts- und Verfassungsstaat. Zu Recht diagnostizierte Gleb Pavlovskij noch im Jahr 2018: „Die Konvergenz der Politiken Russlands und der Ukraine enthüllt die tiefste Verbundenheit unserer Länder (Конвергенция политик России и Украины выявляет глубинную связь наших стран).“9 Prägnanter und knapper kann man die verfassungspolitische Konvergenz Russlands und der Ukraine kaum formulieren.
Die Funktionsfähigkeit eines liberalen Verfassungsstaates setzt eine jahrhundertelange Entwicklung der westlichen Rechtskultur voraus, die es nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch in den anderen, außereuropäischen bzw. außerwestlichen Kulturen so nie gegeben hat.
Hinzu kommt ein verfassungshistorisches Problem. Als eine zentral gesteuerte Raummacht war Russland nie ein Nationalstaat, der eine gewisse kulturelle und ethnische Homogenität zur Voraussetzung hat. Der westeuropäische Nationalstaat war aber „in aller Regel auch ein moderner Verfassungs- und Rechtsstaat“.10 Das liegt nicht nur, aber auch am imperialen Charakter der russischen Geschichte der vergangenen dreihundert Jahre.
Der Versuch der Ukraine, nach der Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit bzw. nach der Loslösung vom Sowjetreich den eigenen ethnisch gefärbten Nationalstaat im multikulturellen Umfeld und gleichzeitig einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat aufzubauen, musste kraft des Fehlens jedweder national- und rechtsstaatlichen Tradition zwangsläufig zu einer dysfunktionalen Entwicklung der politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Formationen führen. Hinzu kamen die geopolitisch motivierten Einwirkungen der raumfremden Mächte, welche die ukrainische Verfassungswirklichkeit zusätzlich verkomplizierten.
Dieses gleichzeitige, sich selbst ausschließende Zusammenwirken vom Nationalismus, Herrschaftstradition und Geopolitik hat den Aufbau der rechts- und verfassungsstaatlichen Strukturen erschwert und eine macht-, sozial- und wirtschaftspolitische Verfassungswirklichkeit entstehen lassen, deren dysfunktionaler Charakter eine rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung praktisch verunmöglichte.
Als Folge dieser Dysfunktionalität entsteht eine Symbiose von der dem Westen entlehnten liberal-demokratischen Ideenwelt, dem ethnisch gefärbten Nationalstaatsbewusstsein und der tatsächlich gelebten, aber von den ukrainischen Führungs- und Machteliten unreflektierten russischen bzw. sowjetischen Herrschafts- und Verfassungstradition.
Kein geringerer als Bismarck sah klar und deutlich die Gefahren einer nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung, die zwischen liberal-demokratischen Ideen und ethnisch gefärbten Nationalismus schwankte. Im Bann dieser Entwicklung befand er sich „im Zwiespalt zwischen einer älteren Ordnungsidee, in der das Nationale noch gebändigt erschien, und dem durch den Nationalliberalismus geprägten Nationalstaat, der das Nationale zugleich beschränkte und entfesselte.“11
Diese Janusköpfigkeit der Moderne, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte, war schon in der Revolution von 1848 zu beobachten. Bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze12 in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“ Diese moderne aneinandergekoppelte Nationsbildung und Verfassungsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins bis zum brachialen Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus usw. einher.
Im Unterschied zu der westeuropäischen Verfassungsentwicklung, in der das individuelle Bekenntnis zur grande nation die Nation als politische Willensgemeinschaft konstituierte, war in Mittel- und Osteuropa „die Nationszugehörigkeit dem Belieben des Individuums weitgehend entzogen. Sie war durch objektive Faktoren wie blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung bedingt. Einem voluntaristischen stand mithin ein deterministischer Begriff der Nation gegenüber.“13 Genau diese Entwicklung beobachten wir heute in der Ukraine.
Mehr noch: Vor dem Hintergrund der geopolitisch motivierten verfassungsideologischen Expansionspolitik des Westens im postsowjetischen Raum und insbesondere in der Ukraine ist festzustellen, dass die westliche Verfassungsoffensive auf einen unüberwindbaren Granit des deterministischen Nationalstaatsbewusstseins gestoßen ist und dadurch einen grandiosen Schiffbruch erlitten hat. Sie musste auch deswegen auf der ganzen Linie scheitern, weil das erwachte Nationalbewusstsein darüber hinaus noch von der fehlenden neuzeitlichen Rechts- und Verfassungstradition begleitet wurde.
Diese verfassungsideologische Oktroyierungspolitik des Westens hinterließ sodann nur noch einen ukrainischen „Abklatsch der westlichen Demokratie“, anstatt eine liberal-demokratische Erneuerung des Landes in Gang setzen zu können.
Der Übergang zu einem liberalen Verfassungsstaat ist aber „gerade dadurch bestimmt, dass das Territorialprinzip im Ganzen durch das des Personenverbandes ersetzt wird“ und dass dieser „Austausch von Prinzipien den modernen Staat (erst) konstituiert.“14 Ein liberaler Verfassungsstaat ist nämlich nicht „eine Habe“ (Kant), ein Territorium, auf dem Menschen „als bloße Anhängsel des Bodens zu behandeln (sind), die mit diesem erworben oder veräußert werden können“.15 Genau dieses liberale Verständnis von einem modernen Rechts- und Verfassungsstaat fehlt aber vollständig in der Ukraine.
Der Wandel vom totalitären Einheitsstaat zu einem liberal-demokratisch verfassten Nationalstaat schlug in der Ukraine allein schon deswegen fehl, weil die abgespaltete Sowjetrepublik sich primär als Territorial- und nicht als Personenverband definierte.
Das Kernproblem dieses vom Sowjetimperium abgespaltenen Territoriums ist der Umstand, dass das neu entstandene Machtgebilde namens Ukraine nach wie vor einerseits den Traditionsbeständen wie Abstammung und Schicksalsgemeinschaft und andererseits der russischen Herrschaftstradition verhaftet ist und darum per definitionem zu einer Entgrenzung ihres nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins weder fähig noch willig ist. Der westlichen Verfassungsideologie steht eben diese traditionsbedingte und ethnisch gefärbte Entgrenzungsunwilligkeit des ukrainischen Nationalismus entgegen. Sie kann ihn darum weder überwinden noch brechen. Indem alle tradierten Inhalte einer verfassungspolitischen Integration des vormodernen Europas durch das neuzeitliche Legitimationsprinzip aufgerieben wurden und an ihre Stelle Verfahren traten, in denen über Inhalte unter Beteiligung der Staatsbürger erst entschieden wird, bezeichneten die nationalstaatlichen Grenzen nichts anderes als die Geltungsgrenzen dieses neuen Legitimationsprinzips und der auf dessen Grundlage zustande gekommenen Verfassungsordnung. „Grenzen dieser Art sind aber von vornherein auf Grenzüberschreitungen hin angelegt“16, was dem ukrainischen Nationalismus zuwider ist.
Allein die prowestliche und antirussische Geopolitik der Ukraine verschleiert diese antiliberale, antidemokratische und darum an und für sich antiwestliche Verfassungsgesinnung der ukrainischen Führungs- und Machteliten. Der immer wieder stattfindende Versuch einer Sprengung dieses ethnisch gefärbten, antiliberalen Identitäts- bzw. Nationalbewusstseins mittels des grenzüberschreitenden liberalen Legitimationsprinzips der Neuzeit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Da aber das ukrainische Identitätsbewusstsein raumgebunden, nicht entgrenzend und darum gegenüber dem Entgrenzungszwang der westlichen liberalen Verfassungsideologie immun ist, hat sich in der Ukraine nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat etabliert, als vielmehr, wie gesagt, dessen Fassade.
Die neben dem ukrainischen Nationalismus gleichzeitig existierenden, auf die russische Herrschaftstradition zurückgehenden, historisch-gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen lassen sich zudem trotz einer prowestlichen Geopolitik der Ukraine weder transformieren noch reformieren, sondern nur camouflieren, da diese kraft ihrer Eigengesetzlichkeit bestehen können und genügend Abwehrkräfte besitzen, um sich selbst unbeschadet der geopolitischen Orientierung zu behaupten.
Dieser unauflösbare Knäuel des ukrainischen verfassungs- und geopolitischen Gewirres zu entwirren, ist unmöglich, solange die beiden sich selbst ausschließenden Entitäten ineinander verknäuelt und miteinander unentwirrbar verknotet sind. Der Ukrainekrieg hat diese verworrene Realität des ukrainischen Staatswesens lediglich überdeckt, aber nicht beseitigt, sodass alle Überlegungen, die darauf hinzielen, „land for peace“ abzutreten, ins Leere laufen werden, weil sie die fundamentalen Probleme der ukrainischen Staatlichkeit und der russisch-ukrainischen Spannungen nicht lösen können und nicht lösen werden. Die Ukraine wird so nie zur Ruhe kommen, es sei denn, es kommt entweder zur Auflösung der Ukraine oder zum Modus Vivendi zwischen allen geopolitischen Kontrahenten.
Anmerkungen
1. Näheres dazu Silnizki, Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Im Strudel von Kulturkampf und Glaubenskrieg. Zur Verschränkung von Geopolitik und Geomoral. 21. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Aron, R., Die imperiale Republik. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die übrige Welt seit 1945. Zürich 1975, 60.
5. Zitiert nach Aron (wie Anm. 4), 62.
6. Aron (wie Anm. 4), 77 f.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
8. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353 (343); siehe auch Silnizki, M., George F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. Russlandbild im Lichte der ideologischen Konfrontation des „Kalten Krieges“. 4. Oktober 2021.
9. Павловский, Г., Прогулка с мечтателями, Россия в глобальной политике, 9.04.2018.
10. Wehler, H.-U., Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 52019, 100.
11. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
12. Conze (wie Anm. 11).
13. Winkler, H. A., Der Nationalismus und seine Funktion, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1979, 52-80 (54).
14. Maus, I., Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder der Verlust der Demokratie, in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 375-406 (378).
15. Maus (wie Anm. 14), 379.
16. Maus (wie Anm. 15).