Im Zeitalter der Verwirrung
Übersicht
1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Krieg“?
2. Zwei konträre außenpolitische Denkansätze
3. In einer außenpolitischen Sackgasse
Anmerkungen
„Die Zukunft ist eine vergrabene Zeitbombe, deren
Zeitzünder in der Gegenwart abläuft.“
(Stephen Spender)1
1. Vom „Kalten Krieg“ zum „Kalten Krieg“?
Wir leben im Zeitalter des Übergangs – in einer Übergangszeit, in welcher sich alles im Fluss befindet und nichts beständig ist. Was heute insbesondere destabilisierend und verunsichernd wirkt, ist eine Vielzahl von gleichzeitig stattfindenden geopolitischen und geoökonomischen Krisen und Spannungen, die nicht (mehr) in einem – und sei es nur den Anschein erweckenden – formal geordneten Koordinatensystem verlaufen. Vielmehr finden sie in einem weltpolitischen Umfeld statt, in dem wir das Gefühl haben, dass alles uns entgleitet und über den Kopf wächst.
Und so stellen wir – wie der Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos – ernüchternd fest: „Das System internationaler Zusammenarbeit, das Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat, steht zur Disposition.“
Es reicht jedoch nicht mehr aus, allein festzustellen, dass das Erhoffte nicht eingetreten und das Eingetretene unerwünscht ist. Das kann keinen mehr befriedigen. Offenbar bleibt diese uns irritierende Übergangszeit derart undurchsichtig, dass wir nicht wissen, was passiert und wie es weiter geht. Und so bewegen wir uns verwirrt im Machtschatten einer geopolitischen Realität, in der eine (zerfallende) Weltordnung (noch) da ist und eine im Entstehen begriffene (noch) nicht sichtbar geworden ist.
Die Frage nach dem Warum bleibt uns aber dennoch nicht erspart, auch wenn wir uns beharrlich weigern, uns dieser Frage zu stellen. Lieber verweilen wir im Ungefähren und/oder bevorzugen krisen- und kriegsgesteuerte Propaganda.
Unsereine(r) findet sich also in einer verwirrenden Realität, wo Unvereinbares nebeneinanderbesteht, das Gewohnte scheinbar nicht mehr zu gelten vermag und alle geglaubten Wahrheiten auf einmal fragwürdig und unglaubwürdig werden. Sie irritieren und stoßen nicht mehr auf Akzeptanz. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zeit zurückgedreht wird und dass wir um dreiunddreißig Jahre zurückgeworfen werden und uns erneut in einer Zeitschleife befinden, an deren Anfang das Ende des „Kalten Krieges“ stand und an deren Ende der Anfang eines (neuen) „Kalten Krieges“ steht.
Die vergrabene Leiche des „Kalten Krieges“ aus der Versenkung geholt und hier und heute reanimiert, kehrt die Weltgeschichte zum Ausgangspunkt ihrer Bewegung zurück? „Die Geschichte wiederholt sich nicht“, lautet die abgedroschene Floskel. Wirklich nicht? Bewegt sie sich nicht hin und wieder in einem Circulus vitiosus – einem Teufelskreis? Statt Euphorie erleben wir erneut Resignation; statt Hoffnung auf die bessere, d. h. friedfertigere Welt fürchten wir die Gefahr eines (neuen) heraufziehenden Gewitters des (globalen) Krieges; statt frohlockender Zukunft steuern wir auf eine Neuauflage des „Kalten Krieges“ zu. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?
„Wenn man annimmt“ – sinnierte Raymond Aron 1954 -, „dass der Sowjetblock sich auflöst und die Staaten Osteuropas eine gewisse Autonomie, ja, völlige Unabhängigkeit wiedergewinnen, dann wäre die Wiederherstellung eines Gleichgewichtes zwischen mehreren Staaten vergleichbarer Stärke vorstellbar.“2 Diese Zukunftsvision eines großen Franzosen ist nach dem Ende des „Kalten Krieges“ nie in Erfüllung gegangen. Vielmehr wurden wir im Laufe der vergangenen dreißig Jahre eines Besseren belehrt. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und dem Zerfall des Sowjetblocks samt Sowjetimperium
waren wir Zeugen einer Entwicklung, in welcher das Gleichgewichtsdenken auf dem europäischen Kontinent zu einem Anachronismus geworden ist. Das Ergebnis dieser Entwicklung war der Aufstieg der USA zum gesamteuropäischen Hegemonen, die Nato-Expansion, der Versuch einer sicherheitspolitischen Marginalisierung Russlands und infolgedessen die Etablierung einer hegemonialen Dysbalance in Europa.3
Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine wurde die dreißig Jahre lang andauernde Nato-Expansion gestoppt und in Frage gestellt. Und es besteht eine sichtbare Diskrepanz zwischen den militärisch-ökonomischen Möglichkeiten und den marktschreierischen Ankündigungen des Westens, Russland militärisch zu schwächen und ökonomisch zu ruinieren. Es ist bis dato weder eine Abschwächung der Kriegshandlungen und der russischen Offensive noch ein ökonomischer Ruin Russlands eingetreten.
Der Westen schwächelt und es fällt ihm immer schwerer, diese Schwäche zu verbergen und/oder sich selbst einzugestehen. Gleichzeitig wird jedwede diplomatische Lösung von vornherein ausgeschlossen und damit das eigene außenpolitische Aktionsfeld mutwillig eingeengt. Die Lösung des Konflikts wird bis auf weiteres auf dem Schlachtfeld gesucht. Das Rad der Geschichte scheint sich wieder gedreht zu haben: In eine falsche Richtung!
2. Zwei konträre außenpolitische Denkansätze
Nichts charakterisiert den dramatischen Wandel der Zeit besser als die Gereiztheit, mit welcher der Westen auf die ablehnende Haltung der außerwestlichen Welt zum westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland reagiert. Noch verblüffender als die demonstrativ zur Schau gestellte Distanz ist die Ohnmacht des Westens, daran substantiell irgendetwas zu ändern. Gestern noch hätte niemand sich nur vorstellen können, dass der Rest der Welt sich so selbstbewusst und souverän verhalten könnte, ohne die Angst vor westlichen Drohungen, Repressionen, Bestrafungen usw. zu haben. Mit welcher Herzlichkeit der russische Außenminister Sergej Lawrow unlängst in Afrika empfangen wurde, erstaunt Freund wie Feind.
Trotz einer ausdrücklichen Ermahnung der westlichen Diplomaten im Vorfeld des Treffens der afrikanischen Gastgeber mit dem russischen Außenminister, auf Distanz zu Russland zu gehen, wurde Lawrow mit offenen Händen empfangen. Die westliche Forderung: die afrikanischen Gastgeber dürfen sich mit dem Russen in der Öffentlichkeit nicht fotografieren, bewirkte genau das Gegenteil und blamierte die westliche Diplomatie. Dass die Afrikaner darüber hinaus noch diese Forderung demonstrativ zurückgewiesen haben, zeigt, wie dramatisch der Einflussverlust des Westens auf die afrikanischen Machteliten geworden ist.
Heutzutage besitzt anscheinend jeder das Recht, sich über die westlichen Drohungen und Ermahnungen hinwegzusetzen. Und selbst der omnipotente US-Hegemon muss gelegentlich Rückzieher machen und spürt die Grenzen seiner imaginären „Omnipotenz“. Indem der Westen versuchte, Russland zu isolieren, hat er letztlich sich selbst isoliert. Sein diplomatischer, außen- und geopolitischer Aktionsradius wird immer kleiner und enger. Was für eine „überraschende“ Entwicklung! Wie konnte es dazu überhaupt kommen? Sieht so etwa der Niedergang einer jahrhundertelangen Weltdominanz der westlichen Hemisphäre aus?
Um die gegenwärtige weltpolitische Lage besser verstehen zu können, muss man sich zunächst die unterschiedlichen außenpolitischen Denkansätze vergegenwärtigen, die durch ideologische Denkstrukturen, axiologische Denkvoraussetzungen und innenpolitische Rücksichtnahmen beeinflusst und geprägt werden. Die russische Außenpolitik ist vor dem Hintergrund der russischen Verfassungswirklichkeit weitgehend frei von innenpolitischen Rücksichten. Sie ist traditionell eine Funktion der Geopolitik und darum in ihrer Taktik und Strategie der vergangenen dreißig Jahre ziemlich pragmatisch und stets an Kräftegleichgewicht orientiert und interessiert. Der Westen und insbesondere der US-Hegemon treten demgegenüber – universalideologisch in der Rhetorik, taktisch aber stets auf Eigeninteresse bedacht – als dominante und maßgebende Größe der Weltpolitik auf und agiert meistens – wie der bekannte französische Journalist und Schriftsteller Renaud Girard einst sarkastisch anmerkte4 – nach der Devise: „Tue so, wie ich dir sage, und nicht so, wie ich selbst tue.“
Die Ausrichtung der russischen Außenpolitik stößt verständlich auf mehr Zustimmung in der außerwestlichen Welt als die des Westens, weil sie sich genauso wie die Chinas in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten nicht einmischt und weder belehrend noch bevormundend auftritt.
Strategisch starr, weil ideologisch fixiert, gilt die EU-Außenpolitik demgegenüber als unbeweglich und unflexibel und lässt sich zudem von der US-Geo- und Sicherheitspolitik vereinnahmen. Man kann nicht, zumindest nicht in absehbarer Zeit, eine Änderung dieser unflexiblen und starren Außenpolitik erwarten. Zu abhängig ist die EU von ihren ideologischen Vorgaben und der US-Geopolitik, wohingegen die russische Außenpolitik durch ihren grundsätzlichen Pragmatismus – zumindest in den Bereichen, in denen die vitalen Interessen Russlands nicht tangiert werden – jederzeit veränderbar und dadurch anpassungsfähiger ist.
Diesen beiden derart konträren Außenpolitiken liegen zwei völlig heterogenen Weltentwürfe des geopolitischen Denkens zugrunde. Der eine ist auf Hegemonie, der andere auf Machtgleichgewicht angelegt. Das führt aber letztlich zu dem, was Raymond Aron mit Bezug auf den Systemwettbewerb der beiden Hauptakteure des „Kalten Krieges“ diagnostizierte: „Das Risiko des Nicht-Verstehens wächst, wenn die Führer eines der Lager im Rahmen eines globalen Interpretationssystems denken und die anderen dieses System nicht begreifen können, ja sich nicht einmal vorzustellen vermögen, wie man überhaupt nach einem solchen System denken kann.“5
Ohne den außenpolitischen Denkansatz des geopolitischen Rivalen verstehen, geschweige akzeptieren zu wollen, führt die geopolitische Konfrontation den Westen in eine diplomatische Ausweglosigkeit, die nur in eine außenpolitische Sackgasse führen kann und – wie man sieht – auch geführt hat.
3. In einer außenpolitischen Sackgasse
Der unüberwindbare Widerspruch zwischen den universalideologischen Postulaten und den eigenstaatlichen bzw. „nationalen Interessen“, Außenideologie6 und Außenpolitik ist nicht nur eine tagtäglich erfahrbare und erlebbare Tatsache in der Weltpolitik, sondern bewirkt auch eine dauerhafte Dysfunktionalität der internationalen Beziehungen. Die Konsequenzen einer solchen Entwicklung trifft nicht immer, aber immer öfter Freund wie Feind gleichermaßen.
So kann niemand mehr die Tatsache leugnen, dass der Druck der Nato- und EU-Partner auf die Bundesrepublik, beispielsweise den Gashandel zwischen Russland und Deutschland wegen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine zu unterbinden, eher den Nato-Verbündeten Deutschland als den russischen „Feind“ trifft. Folgt ein Außenpolitiker der Logik eines Außenideologen, der alles verurteilt, was seinen Prinzipien widerspricht, so ist er – um Raymond Aron erneut zu bemühen – „gewissenmaßen zur Falschheit verurteilt“7. Denn die unmittelbare Konfrontation mit der brutalen geopolitischen Realität lässt ihn – ob er will oder nicht – seinen ideologischen Postulaten untreu werden.
Indem der Universalideologe den Staaten das Recht abspricht, ihre eigenen inneren Angelegenheiten nach eigenem Gusto zu gestalten, ignoriert er das völkerrechtliche Prinzip, das zwischen den inneren und den „völkerrechtlichen“ Angelegenheiten der UN-Mitgliedstaaten unterscheidet, und gerät dadurch in eine ausweglose Position, sobald er mit einem mächtigen Gegenpart konfrontiert wird. Die Folge ist meistens ein und dieselbe: Die Ideologen geben ihre hehren Prinzipien schnell auf, sobald und insofern sie selber in Kriegs- und Krisensituationen involviert werden.
Falls der Universalideologe selbst zur Kriegspartei wird, kommt er nicht umhin sich für Opportunität und gegen Universalität zu entscheiden, erst recht wenn es um Weltkrieg oder Weltfrieden geht. Als US-Außenminister rief Henry Kissinger einmal aus Verzweiflung (?) aus: „For Godsake, what is the meaning of superiority, when it comes to the strategic nuclear forces?“ („Mein Gott, was kann Überlegenheit noch bedeuten, wenn es um strategische Nuklearwaffen geht?“).8 Geht es um die vitalen Interessen, verblassen alle hochtrabenden Prinzipien und an deren Stelle tritt im besten Falle „Leidenschaft zur praktischen Vernunft“ (Helmut Schmidt) und im schlimmsten Falle eine außenpolitische Obsession.
Die EU-Europäer stehen sicherheitspolitisch nach wie vor in einem totalen Abhängigkeitsverhältnis zu den USA. Die sicherheitspolitische Ohnmacht Europas ist unüberwindbar und auf Dauer angelegt. Zwar ist die EU dank ihrer Wirtschaftsleistung, Produktivität und technologischer Potenz eine ökonomische Großmacht. Doch viele Gründe mentaler, sozialpolitischer und geographischer Art lassen die Vermutung zu, dass aus ihrem ökonomischen Potential kaum ein militärisches herauswachsen könnte.
Und die USA? Die Biden-Administration hat sich im Ukrainekonflikt derart verrannt, dass sie vor lauter ideologischen Bäumen („Demokratie versus Autokratie“) den geopolitischen Wald nicht mehr sieht. Neuerlich schrieb Doug Bandow in seinem Artikel „Can America Afford to Lead the World“ (Foreign Affairs, 4. August 2022): „President Joe Biden is the foreign policy equivalent of an alcoholic. He can’t get enough of U.S. meddling around the world. Although he withdrew American forces from the endless Afghan imbroglio, he has taken the U.S. into a dangerous proxy war against Russia, announced that he is prepared to fight China over Taiwan, and threatened Iran with attack. Where would he get the money necessary to fight so many conflicts? The U.S. is heading toward national bankruptcy. … How much longer can Washington afford to take on such an inflated international role? … Americans will have to set priorities and decide whether they want to continue playing globocop as fiscal crisis engulfs Washington. … The looming debt crisis will have at least one silver lining: forcing Americans to finally rethink U.S. foreign policy.“
Wird die Biden-Administration wirklich ihre Außenpolitik überdenken („rethink“)? Solange Joe Biden „das außenpolitische Äquivalent eines Alkoholikers“ („the foreign policy equivalent of an alcoholic“) sei und seine Administration einen „Weltgendarm“ („globocop“) spiele, ist mit einer Änderung der US-amerikanischen Außen- und Geopolitik nicht zu rechnen. Ideologie bestimmt heute wie zurzeit des „Kalten Krieges“ die US-amerikanische Außenpolitik.
In den amerikanischen Eliten herrschte – merkte Henry Kissinger einst spöttisch an – eine außenpolitische Stimmung vor, die entweder von der Theologie oder von der Psychiatrie vorgegeben wurde und folgerichtig „geopolitische Erwägungen ganz einfach ausschloss“. „Die Väter der >containment<-Politik – Acheson, Dulles und ihre Kollegen“ – fuhr er fort – „hatten . . . ihr Werk ausschließlich mittels theologischer Kategorien konzipiert.“9
Heute konzipiert man die Russlandpolitik lieber mittels der Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten, verschweigt aber geflissentlich, dass eben diese Universalideologie gleichzeitig auch eine geopolitische Wirkung ausüben kann und auch ausübt.
Die Universalideologie schließt geopolitische Erwägungen nicht aus, sondern verschleiert sie. Die ide-ologische Rhetorik camoufliert vielmehr die geopolitischen und geoökonomischen Intentionen der west-lichen Russland- und China-Politik. „Da man den Sturz der Sowjets als Hauptaufgabe amerikanischer Außenpolitik betrachtete“ – so Kissinger (ebd.) -, „waren umfassende Verhandlungen, ja selbst ein entsprechender diplomatischer Plan, so lange zwecklos (wenn nicht gar unmoralisch), wie eine >Position der Stärke< keinen Wandel ihrer Absichten herbeiführte.“
Die Ost-West-Beziehungen waren also zurzeit der Regierungsübernahme durch die Nixon- Administration „in eine Sackgasse geraten. Die traditionelle Eindämmungstheorie hatte eine diplomatische Pattsituation herbeigeführt“10. Diese Pattsituation erforderte laut Kissinger eine neue, sich auf ganz andere Grundlagen fußende Außenpolitik. An die Stelle einer „totalen Konfrontation (im Sinne der >Theologen<)“ oder „totalen Versöhnung (wie die >Psychiater< forderten)“ sollte nach der Nixon-Doktrin „das nationale Interesse als maßgebliches Kriterium für eine langfristige amerikanische Außenpolitik“11 treten.
Die Nixon-Administration ging von einem realpolitischen und ideologiefreien Leitgedanken aus, dass die Verfassungsordnung der Großmächte als legitim erachtet und deren Existenz getreu dem Motto anerkannt wird: „Nicht der Kommunismus, sondern die internationale Anarchie sei die größte Gefahr“12.
Weder die Missionierung der sog. „westlichen Werte“ noch die Oktroyierung von Demokratie und Menschenrechten den wertfremden Kultur- und Machträumen notfalls mittels des „militanten Humanismus“ steht im Zentrum der „Nixon-Doktrin“, sondern eben eine Vision von Frieden, in der die vitalen Interessen des Gegenparts berücksichtigt werden sollte.
Diese Friedensvision scheint heute in Anbetracht der stattgefundenen zahlreichen blutigen Invasionen und farbigen Revolutionen und angesichts der erbittert geführten Großmächterivalität offenbar kein vorrangiges Ziel der US-amerikanischen und westeuropäischen Außen- und Geopolitik mehr zu sein. „Vernunft des nuklearen Friedens“ (zurzeit des Kalten Krieges) scheint heute vergessen bzw. irrelevant geworden zu sein. Die Zeiten haben sich geändert. Der Triumphalismus des Westens scheint sich nach der erfolgreichen Beendigung des Kalten Krieges nicht abgeschwächt zu sein und dominiert immer noch in der US-amerikanischen und EU-europäischen Russlandpolitik.
Die bipolare Weltordnung, in der die Supermächte noch „in den Abgrund“ schauten und darin „die Trümmer ihrer eigenen Existenz“ sahen, gibt es nicht mehr. Das „aus Furcht und Vernunft“ entstandene bipolare System, das Raymond Aron in den Worten fasste: >Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich<, erzwang „den langen nuklearen Frieden“13. Nixons Entspannungspolitik hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet.
Und heute? Der Frieden steht offenbar nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste der westlichen Außenpolitik. Der Westen ist zu selbstsicher und zu übermütig geworden. Will er keinen „langen Frieden“ mehr? Wohl kaum! Die Gründe liegen woanders. Der Westen hat heute die Sorge vor einem langfristigen Trend, der die jahrhundertelang andauernde geopolitische und geoökonomische Vormachtstellung der westlichen Hemisphäre erodieren lässt.
Diese Sorge überlagert jede Angst vor einer Weltfriedensgefährdung und macht ihn ideologisch und geoökonomisch umso aggressiver, je weniger er fähig und in der Lage ist, sich auf eine militärische Konfrontation gegen die Großmächte China und Russland einzulassen. Das ist der eigentliche Grund für die Rückkehr des „Kalten Krieges“ auf die Weltbühne der Geschichte. Das ist aber zugleich auch ein Irrweg. Dieser wird zum keinem Zerfall Russlands führen, falls manche westliche Geostrategen sich das wünschen und mit Verweis auf den Untergang des Sowjetreiches darauf setzen. Russland liegt heute im Gegensatz zum dreiundsiebzigjährigen Bestehen des Sowjetsystems eine jahrhundertelange Tradition der russischen imperialen Vergangenheit zugrunde. Und diese imperiale Vergangenheit ist in den russischen Macht- und Funktionseliten verankert und verinnerlicht worden.
Man mag das bedauern; ändern lässt sich das nicht. Die Geschichte des „Kalten Krieges“ wird sich zumindest in diesem Kontext nicht wiederholen. Und darum ist heute ein realpolitischer Denkansatz gefragt. Alles andere führt bestenfalls in eine außenpolitische Sackgasse und schlimmstenfalls zu einer nuklearen Konfrontation. In einer solchen Konfrontation gilt immer noch das Postulat des „Kalten Krieges“: „Wenn einer siegt, sind beide am Ende“ (Harvey Wheeler)14.
Anmerkungen
1. Spender, S., Das Jahr der jungen Rebellen. München 1969, 235; zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 21.
2. Aron, R., Die Analyse diplomatischer Konstellationen (1954), in: ders., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 267-283 (274).
3. Zum Begriff hegemoniale Dysbalance Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Le Figaro, 12. Juli 2022.
5. Aron (wie Anm. 2), 282.
6. Zum Begriff Außenideologie Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik. 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Aron, R., Die letzten Jahre des Jahrhunderts. Stuttgart 1986, 224.
8. Aron (wie Anm. 7), 239.
9. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782.
10. Kissinger (wie Anm. 9), 784.
11. Kissinger (wie Anm. 9), 784, 788.
12. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 108.
13. Schweigler, G., Von Kissinger zu Carter. Entspannung im Widerstreit von Innen- und Außenpolitik 1969-1981. München Wien 1982, 25.
14. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1987, 7.