Der Ökonom Schularick und sein Interview
Übersicht
1. Militante Rhetorik statt einer geo- und sicherheitspolitischen Kompetenz
2. Sicherheitspolitik versus Handelspolitik
3. „Schuster, bleib bei deinem Leisten“
Anmerkungen
Die Strategie der Abschreckung, die „vorsätzliche Vernichtung von Millionen
Menschen“ billigend in Kauf nimmt, ist „an sich schon eine Abweichung
vom Normalzustand …, ein Fall von Anomalität und, wenn man will,
ein pathologischer Geisteszustand.“1
1. Militante Rhetorik statt einer geo- und sicherheitspolitischen Kompetenz
Ein merkwürdiges Interview hat das Handelsblatt am 11. November 2024 veröffentlicht. Der Interviewte ist Moritz Schularick – ein Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft. Merkwürdig an diesem Interview ist, dass der Interviewte als Ökonom am wenigstens über die Ökonomie und umso mehr über die Geo- und Sicherheitspolitik bzw. über den Krieg in der Ukraine sprach.
Das wäre auch in Ordnung, hätte der Ökonom auf fremdem Terrain auch seine Versiertheit unter Beweis gestellt. Das Gegenteil ist aber leider der Fall. Schularick, der sein ökonomisches Fachwissen offenbar auch als Geo- und Sicherheitspolitiker zu nützen glaubte, hat seine Prüfung nicht bestanden.
„Deutschland muss in den nächsten Monaten geopolitisch und sicherheitspolitisch handlungsfähig sein“, mahnt er und hebt gleich hervor: „Das ist von überragender Bedeutung“. Freilich hängt Deutschlands „Handlungsfähigkeit“ nicht von der „deutschen Geopolitik“ ab, die es gar nicht gibt. Über die „deutsche Geopolitik“ wird in Washington und nicht in einem außen- und sicherheitspolitisch halbsouveränen Deutschland entschieden.
Dass der Ökonom seine Äußerungen zur Geo- und Sicherheitspolitik hauptsächlich auf Russlands Feldzug in der Ukraine bezieht, geht deutlich aus seinem Interview hervor, erwähnt er doch in beinahe jedem dritten Satz Russland und seinen Krieg in der Ukraine. Auf „das Regierungschaos“ in Deutschland angesprochen, meint er:
„Trump ist bald wieder im Weißen Haus und ein kriegerisches und revisionistisches Russland produziert aktuell in drei Monaten so viele Panzer, Haubitzen und Luftabwehrsysteme, wie die Bundeswehr überhaupt in ihren Beständen hat. Drohnen haben wir noch gar keine, sollten aber Hunderte haben … Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat es die Regierung versäumt, die europäische Verteidigung entschlossen und massiv zu stärken. … Wir müssen die Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse ausnehmen …“
Versteht Schularick überhaupt, wovon er da spricht, wenn er die russische Rüstungsindustrie mit der deutschen vergleicht, das mangelhafte Engagement der Bundesregierung kritisiert und diese dazu auffordert, die Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen?
Russland kämpft auf ukrainischem Boden nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch und vor allem gegen die Anti-Russland-Koalition, die aus mehr als fünfzig Ländern mit einer Milliarde Bevölkerung besteht. Es ist deswegen kein Wunder, dass Russland „in drei Monaten so viele Panzer, Haubitzen und Luftabwehrsysteme (produziert), wie die Bundeswehr überhaupt in ihren Beständen hat.“
Wie sollte Russland sonst dieser gewaltigen Koalition standhalten? Dass Russland dazu überhaupt in der Lage ist, verdankt es nicht etwas Nordkorea oder dem Iran und China, wie die antirussische Kriegspropaganda beteuert, sondern vor allem und in erster Linie dem Erbe der sowjetischen militärischen Infrastruktur und Rüstungsindustrie.
Als eine der Supermächte war die Sowjetunion ein übermilitarisiertes Land. Sie bereitete sich stets auf einen Krieg gegen die Nato-Allianz vor, die bis heute prahlt, das mächtigste Bündnis aller Zeiten zu sein. Deswegen zentrierte sich die Sowjetwirtschaft schon immer um den militärisch-industriellen Komplex, den bereits Lenin als „ideales Modell“ betrachtete und als permanente Kriegswirtschaft konzipierte, wofür im Übrigen die Kriegswirtschaft des Deutschen Kaiserreiches Pate stand.2
Das führte dazu, dass die Sowjetwirtschaft insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gigantische Überkapazitäten im Bereich der Rüstungsindustrie aufgebaut hat, die nach dem Untergang des Sowjetreiches nur teilweise vernichtet bzw. abgebaut, vieles aber stillgelegt wurden.
Russland konnte auf die stillgelegte militärische Infrastruktur zurückgreifen, aufbauen und mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine reaktivieren. Im Gegensatz dazu hat das Nachkriegsdeutschland einen solchen militärisch-industriellen Komplex nie gehabt. Um mit Russland gleichzuziehen, braucht es, wenn überhaupt, Jahrzehnte. Wozu? Um gegen Russland in den Krieg ziehen zu können?
Und was „Hunderte“ von Drohnen angeht, die die Bundeswehr braucht, aber nicht hat, so kennt der Ökonom offenbar die Kriegsrealität an der „Ostfront“ nicht, an der hunderte Drohnen verschiedenster Art an einem einzigen Tag gebraucht, verbraucht und zerstört werden und jede Kriegspartei Hunderttausende davon benötigt.
Unlängst hat die Ukraine angekündigt, eine Million Drohnen pro Jahr produzieren zu wollen. Nun spricht Schularick von einem „revisionistischen Russland“ und wiederholt damit kritiklos einen gängigen Revisionismus-Vorwurf an die Adresse Russlands, die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zum Kanon der antirussischen Kriegspropaganda geworden ist.
Was versteht Schularick aber darunter? Was will Russland seiner Meinung nach „revidieren“? Darauf gibt er keine Antwort. Er hätte auch keine Antwort geben können, selbst wenn er wollte, weil er mit seinem ökonomischen Fachwissen keine geo- und sicherheitspolitischen Prozesse „modellieren“ kann. Das erfordert eine ganz andere Wissensart.
Dass die USA nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als Revisionsmacht aufgetreten sind und die UN-basierte Nachkriegsordnung zwecks Errichtung ihrer eigenen unipolaren Welt, die euphemistisch als eine „regelbasierte Ordnung“ verklärt wird, revidierten, entzieht sich seinem Kenntnisstand.
Oder will er uns sagen, dass „ein revisionistisches Russland“ mit dem Krieg in der Ukraine bestrebt ist, die von den USA errichtete unipolaren Weltordnung rückgängig zu machen, und damit eine Revision der Revision betreibt?
Nein soweit geht Schularick natürlich nicht. Als Ökonom hat er weder von den USA als Revisionsmacht noch von den tiefgreifenden geopolitischen Prozessen der vergangenen dreißig Jahren etwas gehört. Er begnügt sich lieber mit Belehrungen der Bundesregierung und will damit seine geo- und sicherheitspolitische Kompetenz zeigen. Sein gesamtes Interview überzieht er dabei mit einer irritierenden militanten Rhetorik.
Ihm kommt es nicht einmal in den Sinn, dass die europäische Sicherheitspolitik mit und nicht gegen Russland betrieben werden und Diplomatie auch sicherheitspolitisch relevant sein könnte.3 Mit seiner militanten Rhetorik macht er sich zwar in den Mainstream-Medien beliebt, wiederholt er stets die gängigen antirussischen Klischees und Ressentiments. Eine fehlende geo- und sicherheitspolitische Kompetenz lässt sich aber nicht durch eine militante Rhetorik substituieren.
2. Sicherheitspolitik versus Handelspolitik
Nun plädiert Schularick dafür, „das Geld vor allem in Europa auszugeben, um positive ökonomische Effekte mitzunehmen. Wenn wir nur im großen amerikanischen Waffensupermarkt einkaufen gehen, bringt uns das wirtschaftlich und technologisch nichts.“
Auf die Frage: „Wenn das nicht passiert: Wo steht Europa in vier Jahren?“ reagiert Schularick mit der Replik: „Dann sind wir einem großen Krieg in Europa sehr viel nähergekommen. Darum mein Appell: In dieser neuen geopolitischen und geoökonomischen Welt können wir uns nicht von einem Land wie Trumps Amerika abhängig machen, das nicht mehr nach den Regeln spielt. Handel und Sicherheit gehören zusammen …“
Dass „Handel und Sicherheit zusammen(gehören)“, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Die Frage ist aber, wer von wem heute mehr abhängig ist und welche Prioritäten in einem konkreten geopolitischen und geoökonomischen Umfeld gesetzt werden.
Folgt man der These des Ökonomen, so erweckt er den Eindruck, als würde der Handel die Sicherheit und nicht die Sicherheit den Handel priorisieren, wenn er dazu auffordert, handelspolitisch von „Trumps Amerika“ unabhängig zu werden.
Schularick ignoriert hier einen langwierigen Trend in den transatlantischen Handelsbeziehungen der Nachkriegszeit, der von der Geo- und Sicherheitspolitik zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedlicher Art und Weise überlagert und geprägt wurde.
Mit dem Ende des „Kalten Krieges“ entfiel nicht nur die jahrzehntelang andauernde Systemkonfrontation, sondern auch die Rücksichtnahme und Hinnahme der „unfairen“ Handelspraktiken der europäischen „Vasallenstaaten“ (Zbigniew Brzezinski) seitens des US-Hegemonen.
Bereits kurz nach dem Ende der Systemkonfrontation machte Andreas Falke 1994 eine bemerkenswerte Voraussage: „Das Ende des Kalten Krieges wird den Paradigmenwechsel beschleunigen und die Pluralisierung handelspolitischer Ansätze neben der etablierten Ideologie des Handelsliberalismus fördern.“4
Schreckten sich die USA trotz Desillusionierung durch die europäische Agrarpolitik in den 1960er-Jahren vor der stärkeren Berücksichtigung der eigenen Handelsinteressen aus geo- und sicherheitspolitischen Erwägungen vor allen Versuchungen zurück, „das protektionistische europäische Agrarregime zu brechen“ (ebd., 266 f.), und war der Vorrang der geostrategischen und sicherheitspolitischen Ziele vor jedem handelspolitischen Interesse faktisch bis zum Ende des „Kalten Krieges“ ungebrochen, so änderte sich diese handelspolitische Rücksichtnahme beinahe schlagartig Anfang der 1990er-Jahre.
Mit dem Ende der Unterordnung der US-amerikanischen Handelsinteressen unter die Geo- und Sicherheitspolitik setzt sich zunehmend die nationalökonomisch geleitete Außenwirtschaftspolitik durch. „Das Ende des „Kalten Krieges“ hat die Notwendigkeit beseitigt, die handelspolitischen Interessen der USA zu kompromittieren, um die Allianzpartner in der Abwehr gegen die Sowjetunion zu stärken. Die Klammer der Sicherheitspolitik fällt heute weg. Sie ist weder ein Hebel noch ein Faktor, der zur Rücksichtnahme gegenüber den Verbündeten zwingt“ (ebd., 267).
Trumps mögliche protektionistische Handelspolitik ist, wie man sieht, kein Novum in den transatlantischen Handelsbeziehungen. Was 1994 kurz nach dem Ende des Ost-West-Konflikts galt, bleibt auch dreißig Jahre danach für „Trumps Amerika“ trotz des Krieges in der Ukraine uneingeschränkt bestehen.
„Die Klammer der Sicherheitspolitik“ ist freilich unter ganz anderen Vorzeichen zurückgekehrt. Die Geo- und Sicherheitspolitik hat vor allem für die EU-Europäer in den Kriegszeiten einen absoluten Vorrang vor allen anderen, auch handelspolitischen Erwägungen.
Dass sich Schularick darüber ärgert, dürfte wohl das kleinste Problem für „Trumps Amerika“ sein. Dass die EU-Europäer sicherheitspolitisch erpressbar sind, ist das Problem Europas und nicht Trumps.
Im Übrigen ist seine Verärgerung über „Trumps Amerika“ unglaubwürdig, hat doch Bidens Amerika auf die europäischen Wirtschaftsinteressen ebenfalls keine Rücksicht genommen. Fiel der Kriegsausbruch in der Ukraine etwa nicht in Bidens Amtszeit? Ist die Biden-Administration nicht auch mitverantwortlich für diesen überflüssigen Krieg5 mit verheerenden Folgen auch für die deutsche Wirtschaft?
Wenn man allein nur auf einen möglichen handelspolitischen Protektionismus der Trump-Administration starrt, dann verkennt man die geo- und sicherheitspolitischen Prozesse, dann kommt man in der Tat zu der These von einer handelspolitischen Unabhängigkeit Europas und zu dem Ergebnis, dass man statt „im großen amerikanischen Waffensupermarkt einkaufen (zu) gehen“, lieber im europäischen Waffensupermarkt einkauft, um einen „großen Krieg in Europa“ zu vermeiden.
Offenbar ist Schularick entgangen, wie sehr die europäische Sicherheit von der US-Rüstungsindustrie abhängig ist. Zudem stellt sich die Frage, ob er mit seiner Äußerung nicht einer protektionistischen Handelspolitik Deutschlands und der EU das Wort redet. Das wird „Trumps Amerika“ sicherlich nicht gefallen.
Freilich möchten wir das ihm nicht unterstellen. Denn er will auf etwas ganz anderes hinaus. Auf die Frage nach der Schaffung eines „souveränen, verteidigungsfähigen Europas“ antwortet er: „Wir haben die ökonomischen Ressourcen, wir müssen in der Lage sein, unseren Frieden, unsere Freiheit und unseren Wohlstand selbst zu beschützen.“
Und so ruft er selbstbewusst dazu auf, „Trumps Amerika“ „von zoll- und außenpolitischen Abenteuern abzubringen.“ Nur: Wie will er denn uns ohne die US-Schutzmacht beschützen?
Auch hier ist Schularick in seinem Element, in dem er die Militärmacht mit ökonomischer Potenz verwechselt. „Macht ist nicht identisch mit Wirtschaftskraft und der Verfügung über materielle Machtmittel,“ belehrte uns Lothar Ruehl bereits 1974 inmitten des „Kalten Krieges“.6
Zuletzt stellte die ehem. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in ihrer zweiten Grundsatzrede am 17. November 2020 fest: „Nahezu 100% der Abwehrfähigkeiten gegen ballistische Raketen werden von den USA in die Nato eingebracht. Und natürlich stellen die USA den weit überwiegenden Teil der Fähigkeiten zur Abschreckung“.
Dessen ungeachtet beklagt Schularick ganz bitter das Scheitern der Europäischen Verteidigungsunion 1954. Diesen aus der Mottenkiste der Geschichte ausgegrabenen und von Gott und der Welt längst vergessenen Pleven-Plan, dem die Bundesregierung am 8. November 1950 in einer Erklärung im Bundestag zustimmte, der aber letztlich am 30. August 1954 von der französischen Nationalversammlung mit 319 zu 264 Stimmen zurückgewiesen wurde, hatte nie einen Hauch auf dessen Verwirklichung.
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und inmitten des „Kalten Krieges“ lag es nicht im geo- und sicherheitspolitischen Interesse der US-Amerikaner und Briten, deren Sicherheitsphilosophie im bekannten Spruch des ersten Nato-Generalsekretärs, Baron Ismay, seinen markanten Ausdruck gefunden hat: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“, im Kontinentaleuropa eine vom Nato-Bündnis unabhängige Militärmacht zuzulassen
Die US-amerikanische Europa- und Sicherheitspolitik war schon immer darauf aus, eine von der Nato-Allianz unabhängige militärische Machtbildung in Europa im Keim zu ersticken. Noch im Jahr 1973 forderte Kissinger „eine Beschränkung der regionalen Autonomie, und die amerikanische Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion muss eher einen europäischen Machtverzicht begünstigen als eine europäisch Machtbildung, zumindest im strategisch relevanten Bereich und der Verteidigung, aber auch auf dem Feld der allgemeinen auswärtigen Politik.“7
Seitdem hat sich nichts Wesentliches geändert. Ganz im Gegenteil: Nach dem Aufstieg der USA zur globalen Hegemonialmacht ist der europäische Machtverzicht eher größer als kleiner geworden und es bewahrheitete sich eine geradezu prophetische Voraussage des Nationalen Sicherheitsberaters der US-Präsidenten Kennedy und Johnson, McGeorge Bundy (1961-1966), dass nämlich „die westeuropäischen Bündnispartner sich mit diesem Zustand ein für allemal angefunden hätten und einen dauernden >Machtverzicht< übten, der die Minderung der Rolle Europas in der Welt als >irreversibel< erscheinen lasse.“8
Diese langwierigen historischen Prozesse ignorierend und von den geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen der Gegenwart losgelöst, träumt der Ökonom von einem „souveränen, verteidigungsfähigen Europa“. Nun ja, Träumen schaden nie. Da befindet sich Schularick durchaus in einer guten Gesellschaft. Auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron träumt seit seinem Amtseintritt bis heute vergeblich von einer „strategischen Autonomie Europas“.
3. „Schuster, bleib bei deinem Leisten“
Nun betätigt sich Schularick auch als „Militärexperte“ und beteuert: „Die Ukrainer haben enorme Kampfkraft bewiesen. Aber in ein paar Monaten könnte Trumpf Russland ein Angebot unterbreiten, das für die Ukraine und Europa nicht akzeptabel ist“. Ob er überhaupt weiß, was für einen Krieg in der Ukraine stattfindet, welches Leiden die ukrainische Bevölkerung erleidet und wie dramatisch die militärische Lage der Ukraine an der Front ist, wenn er über Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz der Friedensverhandlungen redet?
Nein, das weiß Schularick nicht, sonst würde er sich nicht anmaßen, in Europas Namen und im Namen der Ukraine Namen darüber zu urteilen, was für die Ukraine „akzeptabel“ oder „nicht akzeptabel“ sei. Schlimmer noch: Forsch und kompromisslos warnt er „davor, den Fehler des Appeasements zu wiederholen, das dann den nächsten, noch größeren Krieg wahrscheinlicher macht.“
Als der Interviewer nachfragte, ob er „auf die Zugeständnisse der europäischen Staaten an Adolf Hitler an(spielt)“, antwortet er hochtrabend: „Durch Appeasement wird der Aggressor stärker und sein Anreiz steigt, die zugewonnene Stärke zu nutzen und weiter anzugreifen. Die einzige Antwort darauf sind glaubwürdige Sicherheitsgarantien für die Ukraine inklusive Abschreckung, die Europa notfalls allein leisten muss.“
Mit seinem „Appeasement“-Vergleich setzt er, wie man sieht, ganz bewusst Russland mit Nazideutschland gleich, womit er en passant den „totalen Krieg“ der Nazi verharmlost und die 27 Millionen Opfer des Sowjetvolkes verunglimpft.
Dass der Westen und nicht Russland seine „zugewonnene Stärke“ nach dem Ende des „Kalten Krieges“ genutzt hat, um in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren zahlreiche Aggressions- und Angriffskriege durchzuführen, hat ihn bis dato gar nicht bekümmert. Ausgerechnet auf Russland als „Aggressor“ reagiert er „urplötzlich“ empört. Wo war der Empörte nur bloß in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren?
Davon abgesehen, fragt sich unsereiner irritiert: Woher hat diese junge Generation Schularicks, Baerbocks, Habecks und Co. eine solche kompromiss- und erbarmungslose Militanz und einen solchen kriegerischen Geist? Sind sie etwa Friedensmüde geworden? Wollen Sie wieder den „totalen Krieg“ in Europa beinahe achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges?
Oder ist diese verwöhnte Wohlstandsgeneration einfach ahnungslos, halbgebildet und versteht nicht, welche deplatzierte öffentliche Verlautbarungen sie da von sich geben? Es sieht so aus, sonst ist es gar nicht zu erklären, warum Schularick der nuklearen Supermacht Russland mit „Abschreckung“ droht, „die Europa notfalls allein leisten muss.“
Wie denn? Ganz einfach: „Wir wären gut beraten, erste Gespräche mit Paris darüber zu führen, wie wir den französischen Nuklearschirm europäisieren können. Das muss nicht heißen, dass wir den amerikanischen Schirm nicht mehr haben. Aber es heißt, die Voraussetzung für den Fall zu schaffen, dass die Nato durch eine erratische US-Politik so ausgehöhlt ist, dass ihre Abschreckung nicht mehr glaubwürdig ist. Alles andere wäre verantwortungslos“, behauptet Schularick.
Da möchte man unserem Geo- und Sicherheitspolitiker im Nebenberuf zurufen: Die Nato ist die USA. Ohne die USA gibt es keine Nato und keine Abschreckung. „Verantwortungslos“ ist vielmehr sein verantwortungsloses Gerede von der nuklearen Abschreckung durch eine „Europäisierung“ des französischen Nuklearpotenzials.
Schularick weiß nicht einmal, dass Frankreich mit seinen 290 nuklearen Sprengköpfen keine Abschreckung Russlands, das im Besitz von 5.580 nuklearen Sprengköpfen ist, gewährleisten kann und dass in einem zwar unwahrscheinlichen, aber nicht ganz auszuschließenden Atomkrieg die Anzahl der Sprengköpfe und sonst gar nichts ausschlaggeben ist.
Natürlich kann unser Ökonom weiterhin seine nuklearen Sandkastenspiele betreiben. Er muss nur wissen, was er bis jetzt offenbar nicht gewusst hat, aber wissen sollte und was Helmut Schmidt bereits 1965 uns ins Stammbuch geschrieben hat: Die sog. „glaubhafte Abschreckung“ sei dummes Zeug und leeres Gerede.
Wörtlich schreibt Schmidt: „Ich habe leider noch immer den Eindruck, dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“9
Man ist peinlich berührt und geradezu entsetzt darüber, mit welcher lockeren Zunge und einer Leichtigkeit des Seins die junge Generation der euroatlantischen Macht- und Funktionseliten in der medialen Öffentlichkeit Unfug redet, ohne sich dessen zu schämen, weil sie sich ihres eigenen verantwortungslosen Geredes gar nicht bewusst ist.
Man kann dem Ökonomen nur raten, keine Geo- und Sicherheitspolitik im Nebenberuf zu betreiben. Für eine solche anspruchsvolle Beschäftigung reichen ökonomische Kenntnisse bei weiten nicht aus. Er sollte lieber die Volksweisheit zum Motto seines Denkens und Wirkens machen: „Schuster, bleib bei deinem Leisten.“
Anmerkungen
1. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 222.
2. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020, 38 f.
3. Vgl. Silnizki, M., Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“? Im Zangengriff zwischen
„Sendungsideologie“ und Machtpolitik. 14. April 2024, www.ontopraxiologie.de.
4. Falke, A., Auf dem Weg zu einer neuen Handelspolitik? Die USA und das Welthandelssystem, in: Matthias
Dembinski, u.a. (Hrsg.), Amerikanische Weltpolitik nach dem Ost-West-Konflikt. Baden-Baden 1994, 265-
305 (266).
5. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de; ders., Zur Frage der europäischen
Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022,
www.ontopraxiologie.de.
6. Ruehl (wie Anm. 1), 177.
7. Ruehl (wie Anm. 1), 177.
8. Ruehl (wie Anm. 1), 176.
9. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1965, 24.