Brzezinskis These über die „Geschichte als andauerndes Chaos“
Übersicht
1. Brzezinskis als Theoretiker und Praktiker der Geopolitik
2. Brzezinskis Feldzug gegen die Sowjetunion und die Gegenwart
Anmerkungen
„Украинский кризис представляется как >большая игра< по сценарию,
продвигавшемуся когда-то еще З. Бжезинским.“
(Die Ukraine-Krise stellt sich als ein >großes Spiel< nach einem schon von Zbigniew
Brzezinski vorbereiteten Szenarium dar)
(Sergej Lawrow, Izvestija, 18. Juli 2022)
1. Brzezinskis als Theoretiker und Praktiker der Geopolitik
Unter der Überschrift „Geschichte als andauerndes Chaos“ hat der ungarische Schriftsteller und Rundfunkmoderator für Radio Free Europe, George Urban (1921-1997), 1982 sein Interview mit Zbigniew Brzezinski veröffentlicht. Vorgestellt als ehem. Sicherheitsberater und gefragt nach einem außenpolitischen Kurs der USA im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des außenpolitischen Versagens der Carter-Administration, meinte Brzezinski:
„Meine wesentliche Feststellung nach den Erfahrungen der letzten vier Jahre ist, dass Geschichte weder das Ergebnis eines Planes noch einer Verschwörung ist, sondern einem andauenden Chaos entspricht. Von außen betrachtet, mögen Entscheidungen häufig klar und bewusst formuliert erscheinen. … Man wird jedoch gewahr, dass vieles, was geschieht … das Resultat chaotischer Verhältnisse, persönliche Kämpfe und Zwiespältigkeiten ist. … Das bestärkt den Eindruck der Zufälligkeit und Unsicherheit, die dem menschlichen Sinn anhaften, die aber von dem Ausmaß der Intensität der ausgeübten Macht noch vergrößert werden.“1
War das, was Brzezinski seinem Gegenüber zu erklären versuchte, eine gezielt gestreute Desinformation zur Irreführung der Sowjetführung und klare Untertreibung eines Geopolitikers, der nicht nur Theoretiker der Geopolitik war? Oder war seine Tätigkeit als Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter (1977-1981) wirklich planlos und/oder chaotisch?
Wollte er mit seinem Gerede von der „Geschichte als andauendem Chaos“ lediglich davon ablenken, dass der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 mit der US-Geopolitik etwas zu tun hat? Die Fragen lassen sich nicht ohne weiteres mit „ja“ oder „nein“ beantworten.
Seine Auslassungen kann man sowohl als eine geopolitische Koketterie eines selbstzufriedenen Machers und als Täuschung des geopolitischen Rivalen deuten, hinter der sich ein Wolf im Schafspelz verbarg, als auch als ein Eingeständnis eines enttäuschten Praktikers der Geopolitik, der als geopolitischer Theoretiker seine geplanten Ziele und Vorhaben nicht umsetzen konnte.
Noch viele Jahre später erinnerte Brzezinski sich nämlich sehr zufrieden an die Hintergründe der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979. 1998 enthüllte er in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, „dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel dieser Politik sei es gewesen, so Brzezinski, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der UdSSR in Afghanistan zu erhöhen.
Gefragt, ob er die Unterstützung fundamentalistischer islamischer Gruppen inzwischen bereuen würde, antwortete er unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue.“ Wenn man diese Äußerung genauer unter die Lupe, so fragt man sich in Analogie zur Gegenwart, ob die Biden-Administration im Vorfeld der russischen Intervention in der Ukraine 2022 auch nicht alles getan hat, damit die Russen in die ukrainische Falle tappten.
Wie auch immer, als der Interviewer nachhakte und auf den Zusammenhang zwischen Islamismus und Terrorismus hinwies, antwortete Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“2
War die Erzählung Brzezinskis im Jahr 1998 eine nachträgliche Prahlerei oder entsprach sie dem tatsächlichen geopolitischen Handeln? Das werden wir nie mehr erfahren. Für „Brzezinski stelle es (jedenfalls) eine Art Hobby dar, Russland Schaden zuzufügen“, bemerkte der US-Ökonom James K. Galbraith einst.3
Wie kein anderer verkörperte Brzezinski mit seinem Denken und Wirken die US-Geopolitik im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts und bestimmt bis heute maßgeblich die US-Russlandpolitik. „Unbestritten hat Brzezinski ähnlich wie Kissinger die Grundlinien amerikanischer Außenpolitik zwischen 1977 und 1981 nachhaltig geprägt.“4
Seine Pläne und Theoriekonzepte wie „Game Plan“5 oder „das Krisenbogen-Konzept“6 bzw. „Gegeneinkreisungs-Strategie“ waren indes nicht immer und alles anderes als erfolgreich. Als Sicherheitsberater dachte Brzezinski zunächst die US-Außenpolitik „an einem dreiachsigen Koordinatensystem aus(zu)richten und entgegen dem traditionellen Ansatz der Vorgänger-Administrationen eben nicht das amerikanisch-sowjetische Verhältnis in den Mittelpunkt der amerikanischen Außenpolitik (zu) rücken.“7
Schlussendlich stand aber auch für ihn der auf Dauer angelegte globale Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion im Zentrum seiner Geopolitik. „Wie Kissinger stellte auch Brzezinski den sowjetisch-amerikanischen Machtkampf um Herrschaft und Einfluss in der Welt in den Mittelpunkt seines analytischen Denkens wie seiner Politikgestaltung. Wie Kissinger ging es auch Brzezinski in erster Linie um die Eindämmung der Sowjetunion und die dafür erforderliche militärische Stärke der USA.“8
Während seiner Amtszeit konnte er einerseits, wie gesehen, für sich eine gelungene Provokation als Erfolg verbuchen, die die Sowjets zur Intervention in Afghanistan 1979 bewegte, welche entgegen der Mutmaßung Fröhlich vermutlich doch keine Überraschung war.9
Andererseits bezog sich sein Gerede von der „Geschichte als andauendem Chaos“ möglicherweise auf die traumatischen Erlebnisse mit der islamischen Revolution 1979 und dem gescheiterten Befreiungsversuch der US-Geisel im April 1980. Das Erlebnis der eigenen Ohnmacht trotz der vermeintlichen „Allmacht“ der Supermacht hat mutmaßlich erst Brzezinskis Chaos-These entstehen lassen, die nichts anderes als eine persönliche Erkenntnis über die Grenzen der eigenen Macht sein sollte, was eigentlich zur Demut statt Übermut Anlass geben musste.
Von Demut konnte indes weder bei ihm noch beim außenpolitischen US-Establishment angesichts der erfolgreichen Beendigung des „Kalten Krieges“ die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Der Übermut und das Gefühl der Allmacht haben in den 1990er-Jahren die Oberhand gewonnen.
2. Brzezinskis Feldzug gegen die Sowjetunion und die Gegenwart
Der „amerikanisch-sowjetische Konflikt“ sei – folgt man Brzezinskis These aus seinem „Game Plan“ – „ein lang andauernder historischer Gegensatz globalen Ausmaßes.“10
Die These scheint für uns auf den ersten Blick eine pure Selbstverständlichkeit zu sein, ist aber alles andere als selbstverständlich. Sie stellt zwar zutreffend einen ideologischen Systemwettbewerb und die geopolitische Rivalität „globalen Ausmaßes“ zwischen den zwei Supermächten fest, erweckt aber gleichzeitig den Eindruck, als würde diese Rivalität auf globaler Ebene seit Ewigkeit geführt.
Dem ist aber nicht so. Die auf globaler Ebene immer schärfer werdende ideologische und geopolitische Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion ist nämlich jüngeren Datums. Sie reflektiert die Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre und hat erst mit einer kardinalen Änderung der sowjetischen Geopolitik von einer Kontinentalmachtstrategie der Stalinschen Epoche zu einer globalen Weltmachtstrategie seit Chruščovs Machtübernahme begonnen. Genau diese von Brzezinski reflektierte globale sowjetische Weltmachtpolitik wird seiner These vom einem „lang andauernden historischen Gegensatz globalen Ausmaßes“ zugrunde gelegt.
Die globale Konfrontation findet laut Brzezinskis „Game Plan“ im Wesentlichen an den „drei zentralen Fronten“ statt: in Europa, Fernost und im Nahen Osten, geht aber auch darüber hinaus. Hauptziel der Sowjetunion in diesen Gebieten sei es, „auf der zentralen Landmasse der Welt die Oberhand zu gewinnen, indem sie den Einfluss ihres Rivalen an der Peripherie des (eurasischen) Kontinents … zurückdrängt bzw. >ausschaltet<. Schlüsselstaaten … seien Polen und die Bundesrepublik an der westlichen Front, Südkorea und die Philippinen an der fernöstlichen sowie Iran oder Afghanistan in Verbindung mit Pakistan an der südwestlichen Front. … dabei versteigt sich der Autor noch Mitte der achtziger Jahre zu der These, dass Moskau wohl keinen Moment lang zögern würde, größere, das amerikanisch-mexikanische Verhältnis belastende Wirren in Mexiko zu seinen Gunsten zu nutzen und eine >vierte strategische Hauptfront< am Rio Grande zu eröffnen.“11
Dieses von Brzezinski konzipierte Theoriegebäude war eine klare Kampfansage an die sowjetische Weltmachtstrategie der 1960er- und 1970er-Jahre. Sie entpuppte sich freilich in der geopolitischen Realität kurzfristig als Fiasko, erwies sich aber langfristig durchaus als zukunftweisend, wobei der Grund dafür nicht so sehr an Brzezinskis geopolitischen Konzeption als vielmehr an der gescheiterten Weltmachtstrategie der Sowjets lag.
Brzezinskis „Game Plan“ war eine Reaktion auf die sog. „friedlichen Eroberungen“ der Sowjetunion, wodurch das „sozialistische Lager“ immer größer werden sollte, „bis es schließlich den größten Teil der Welt überzöge und die Weltrevolution ohne Krieg Wirklichkeit würde. Dies war der Sinn der 1960 in Moskau ausgegebenen Losung von der >internationalistischen Pflicht der Kommunisten<, jeden >nationalen Volksbefreiungskrieg< aktiv zu unterstützen.“12
Diese ideologisch fundierte, vom geostrategischen Kalkül geleitete Weltmachtpolitik war laut Lothar Ruehl (ebd.) „Chruščovs Beitrag zur Erneuerung des Sowjetkommunismus, die an Stelle der Stalinschen Kontinentalmachtpolitik13 trat und „Russland eine universale Mission zur Befreiung der Völker und zur Neuordnung der Welt zuwies“.
Indem Chruščov aber das „Heiligenbild Stalins“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 entzauberte, verkannte er die ideologische und geopolitische „Splitterwirkung der Schläge, mit denen er 1956 die Statuen der Stalinschen Epoche zertrümmerte. Der danach rasch aufreibende Gegensatz zum kommunistischen China versetzte Russland zurück in die Zweifrontenlage und ließ den einst um Moskau formierten Block des >Weltkommunismus< abbröckeln. Nach dem Bruch mit Mao war Chruščov in einer Zwangslage: entweder musste er die Sicherheit im Abkommen mit dem kapitalistischen Amerika suchen und zu diesem Zweck auch politische Konzessionen, etwa in Europa, machen, oder er musste sich und Sowjetrussland für eine weltweite Konfrontation rüsten, in der China im Osten kein Verbündeter, sondern ein gefährlicher Rivale sein würde.“14
Die sowjetische Führung unter Chruščov und später unter Brežnev entschied sich für die zweite Alternative, nämlich für die Hochrüstung und eine offensive Weltmachtstrategie, die freilich zu Lasten der Lebensbedingungen des Sowjetvolkes ging, sodass die minderwertige Qualität der Güter und Dienstleistungen zum chronischen Problem des Sowjetsystems wurde.
Kurzum: Mit einer neuen ideologisch fundierten geopolitischen Weichenstellung traf Chruščov eine schwerwiegende geostrategische Fehlentscheidung, die dem Sowjetimperium samt seiner kommunistischen Ideologie langfristig zum Verhängnis wurde. Das Imperium hat sich infolge seiner Hochrüstung und einer imperialen Überdehnung ökonomisch und ideologisch übernommen und anschließend kollabiert und zerfallen.
Vor dem Kollaps und Zerfall lagen dreißig Jahre der expansiven sowjetischen Weltmachtpolitik. Nach Chruščovs Abdanken war nämlich ein „Rückzug Russlands auf sich selber, eingeschlossen in der Großmachtfestung, die Stalin gebaut hatte, … nicht mehr möglich.“15
Mit anderen Worten: Weder Brzezinskis „Game Plan“ noch Reagans „Strategie der Enthauptung“16 hat das Imperium zum Fall gebracht, sondern eine hochmutige und sich selbst überschätzende Weltmachtstrategie. Die Sowjetunion ist über den eigenen imperialen Schatten gestolpert und wie es aussieht, holt das Schicksal des Sowjetimperiums heute die US-Hegemonie ein.
Nach dem Untergang der Sowjetunion ging die Stafette einer „universalen Mission zur Befreiung der Völker und zur Neuordnung der Welt“ auf den US-Hegemon über, der offenbar vom Schicksal dazu verdammt war, die Fehler der Sowjets zu wiederholen, indem er sich anschickte, die Selbstberufung zur Missionierung der Welt im Sinne der „universal“ postulierten „westlichen Werte“ in die Tat umzusetzen.
Die Folge waren zahllose Interventionen, Invasionen und Gewaltexzesse in vielen Teilen der Welt, die statt „friedlicher Eroberungen“ und der „Weltrevolution ohne Krieg“ nur Elend, Zerstörung und Leid für Millionen von Menschen mit sich brachten.
Die US-Missionare haben für ihre „Weltbeglückung“ im vergangenen Vierteljahrhundert acht Billionen Dollar in den Sand gesetzt, zerrüttete Finanzen hinterlassen und eine dramatische Überschuldung Amerikas verursacht. Wie vor ihm das Sowjetimperium gegen Ende der 1980er-Jahre klang- und geräuschlos kollabierte, hat der US-Hegemon sich ökonomisch und finanziell übernommen, militärisch geschwächt und ist dabei auf dem besten Wege die Weltbühne der Geschichte den anderen geopolitischen Rivalen zu überlassen, auch wenn das nicht kampflos geschehen wird.
Brzezinskis war zwar in seinem Machtkampf gegen den sowjetischen Rivalen am Ende erfolgreich. Seine 1997 konzipierte „imperiale Geostrategie“, in der er u. a. die gegen die USA gerichteten Bündnisse verhindern wollte,17 erleidet aber heute anscheinend endgültig eine Bauchlandung.
Die feindselige China- und Russlandpolitik der USA in der vergangenen Dekade haben China und Russland wie nie zuvor geostrategisch zusammengeschweißt. Die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland zeigt laut einer am 6. September 2022 veröffentlichten russischen Studie „Die Strategische Partnerschaft zwischen Russland und China unter den Bedingungen der europäischen Krise“ die beeindruckende Fähigkeit der beiden Länder als eine „Einheitsfront“ (единый фронт) aufzutreten.18
Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ ist seinen Erwartungen, „die einzigartige globale Machtposition“ der USA zu bewahren, nicht in Erfüllung gegangen. Fünfundzwanzig Jahre später erleben wir einen Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung sowie eine neue Teilung der Welt in Westen und den Nichtwesten bzw. den sog. „Globalen Süden“.
Zwar haben die USA ihre Vormachtstellung im Westen ausgebaut und gestärkt. Sie büßten aber dem Nichtwesten gegenüber an Einfluss und Bedeutung ein. Der Nichtwesten ist auf einmal wach geworden und hat plötzlich gemerkt, dass er nicht so kraft- und machtlos ist, wie er dachte.
Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts und der ausgebrochenen ökonomischen und militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen haben die beiden geopolitischen Rivalen begonnen, um den Nichtwesten zu buhlen und diesen in dem tobenden geopolitischen Machtkampf auf die jeweils eigene Seite zu ziehen.
Der Nichtwesten ließ sich nicht zweimal bitten und hat verstanden, dass er – wenn sich die beiden geopolitischen Kontrahenten streiten – davon nur profitieren kann. Im Bewusstsein der eigenen Machtposition ist er zum geopolitischen Leben erweckt und dieses geopolitisches Erweckungserlebnis ist ihm nicht mehr wegzunehmen. Der Westen glaubte anfänglich, dass er den Nichtwesten in alter Kolonialherrenmanier wie selbstverständlich auf seine Seite ziehen würde. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass dieser auch zur großen Überraschung Russlands eher die russische als die westliche Position einnahm.
Und so stellten die USA ebenfalls zur eigenen Überraschung fest, wie wenig sie den Nichtwesten beeinflussen oder einschüchtern können und wie sehr ihr Druck auf die nichtwestlichen Länder verpufft. Diese bittere Erfahrung zeigt den USA, dass sie die besten Zeiten bereits hinter sich haben. Was nun die US-amerikanische Beherrschung des sog. „Herzlandes“ angeht, so rückt sie auch vor diesem Hintergrund immer mehr in weite Ferne.
Brzezinskis Vision von einer „imperialen Geostrategie“, welche „dem Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen globalen Machtposition und an deren langfristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit“19 gerecht werden sollte, erweist sich heute als nicht realistisch und nicht realisierbar.
All das spricht nicht so sehr für „Geschichte als andauerndes Chaos“ als vielmehr für eine Fehlkalkulation eines Geopolitikers, der als geopolitischer Theoretiker maßlos überschätzt wurde. Erst im greisen Alter vollzog Brzezinski (1928-2017) eine Kehrtwende und hat fünf Jahre vor seinem Ableben in seinem letzten Werk Strategic Vision (2012) die jahrzehntelang praktizierte Feindschaft zu Sowjetunion/Russland aufgegeben und empfohlen, Russland in den Westen zu integrieren.20
Die Empfehlung kam zwar spät, aber für die neue Politikergeneration (noch) nicht zu spät. Ob sie daraus Lehren ziehen wird, bleibt indes mehr als fraglich.
Anmerkungen
1. Brzezinski, Z., „Geschichte als andauerndes Chaos“, in: Urban, G., Gespräche mit Zeitgenossen. Acht Dispute
über Geschichte und Politik. Basel 1982, 205-227 (206).
2. „How Jimmy Carter and I Started the Mujahideen“, Interview mit Zbigniew Brzezinski, in: Le Nouvel
Observateur, 15.01.1998. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche
Wandlung des Zbigniew Brzezinski, in: Blätter für dt. u. intern. Politik 7 (2012), 89-97 (90).
3. Zitiert nach Ritz (wie Anm. 2).
4. Vgl. Fröhlich, S., Zwischen selektiver Verteidigung und globaler Eindämmung. Geostrategisches Denken in
der amerikanischen Sicherheitspolitik während des Kalten Krieges. Baden-Baden 1998, 495.
5. Fröhlich (wie Anm. 4), 480 f.
6. Fröhlich (wie Anm. 4), 495 ff.
7. Fröhlich (wie Anm. 4), 477.
8. Fröhlich (wie Anm. 4), 497.
9. Vgl. Fröhlich (wie Anm. 4), 480.
10. Zitiert nach Fröhlich (wie Anm. 4), 497.
11. Fröhlich (wie Anm. 4), 497.
12. Ruehl, L., Nikita Chruščov und der Übergang zur offensiven Weltpolitik, in: des., Russlands Weg zur
Weltmacht. Düsseldorf/Wien 1981, 416-420 (418).
13. Ruehl, L., Die Stalinsche Kontinentalmachtpolitik, in: des., Russlands Weg zur Weltmacht (wie Anm. 13),
413-415.
14. Ruehl (wie Anm. 12), 418 f.
15. Ruehl (wie Anm. 12), 439.
16. Silnizki, M., Ronald Reagan und das Ende der Sowjetunion. Hat Reagan den „Kalten Krieg“ gewonnen? 4.
Oktober 2024, www.ontopraxiologie.de.
17. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
18. Zitiert nach Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges.
Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten. 19. September 2022,
www.ontopraxiologie.de.
19. Brzezinski, Z., Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Mit einem Vorwort von Hans-
Dietrich Genscher. 2. Aufl. Frankfurt 1999, 65.
20. Näheres dazu Silnizki, Von globaler Hegemonie zur globalen Einsamkeit? Die US-Außenpolitik und ihre
Epigonen. 8. Juni 2024, www.ontopraxiologie.de.