Zur Architektur einer neuen Weltordnung
Übersicht
1. Je weniger Stabilität, umso mehr Aggressivität
2. Je weniger Hegemonie, umso mehr Ideologie
3. Je weniger Gleichgewicht, umso mehr Weltfriedensgefährdung
Anmerkungen
„Das Gleichgewicht sei … ein Gebot der Klugheit.“
(Theodor Schieder)
1. Je weniger Stabilität, umso mehr Aggressivität
„Das Gespenst der russischen Gefahr liegt seit Napoleon I. über Europa (>in hundert Jahren wird Europa kosakisch sein<).“ „Derartige Stimmungen“ – schrieb der Schwede Rudolf Kjellén (der Erfinder des Begriffs Geopolitik) im Jahr 1914 – „begleiteten das Gerücht von einem organischen Plan und einer geheimen Tradition im Zarenhause, die 1812 (>buchstäblich< 1836) in Frankreich veröffentlicht und als >das Testament Peters des Großen< besprochen wurde. Hier finden wir ein vollständiges politisches Schema zur Unterwerfung des >abgelebten Europas< unter das Joch des >jungen und gesunden< Russlands. Die wissenschaftliche Kritik (Breslau 1879) hat sich jetzt dieses Aktenstück als eine reine Fälschung nachgewiesen, angefertigt zugunsten des russischen Feldzugs Napoleons I.“1
„Das Gespenst der russischen Gefahr“ als eine nachgewiesene „reine Fälschung“! Erinnert uns dieses „Gespenst“ nicht an die hier und heute tobende mediale Propagandaschlacht gegen „die russische Bedrohung des Westens“ bzw. „die bevorstehende russische Aggression“ in der Ukraine?
Es sieht allerdings so aus – tröstete uns Kjellén anschließend -, dass Europa für Russland nach dem Krimkrieg seine Anziehungskraft verloren habe und dass „der Schwerpunkt der russischen auswärtigen Politik jetzt von Europa nach Asien verschoben worden ist.“ Und überhaupt: Russland stehe – meinte er an einer anderen Stelle – „abseits von Europa, wie eine Welt für sich“, ist eben „ein >Halbasien<.“2
Vor dem Hintergrund der fortgesetzten Spannungen zwischen Russland und dem Westen seit dem Ausbruch der sog. „Ukraine-Krise“ (2014 ff.) erweisen sich die Äußerungen von Rudolf Kjellén aus heutiger Sicht geradezu als prophetisch. Der Schwerpunkt der russischen Außen- und Geopolitik verlagert sich heute in der Tat zunehmend „von Europa nach Asien“, vom Westen nach China, wodurch neuerdings ein ganz anderes „Gespenst“ in Europa umgeht – das „Gespenst“ der russisch-chinesischen Gefahr, befürchtet man doch – wie es im Zeitungsjargon heißt – „einen neuen Megaostblock, der auf den Westen herabblicken könnte.“3
Die Zeiten der westlichen Weltdominanz scheinen heutzutage endgültig und unwiderruflich zu Ende zu gehen. Da blickt unsereiner beinahe „nostalgisch“ auf die „glorreiche“ Epoche des „europäischen Jahrhunderts“ zu Lebzeiten eines Rudolf Kijelléns, als „die Engländer“ noch „ein Herrenvolk“ waren, „ausgeprägter als irgendein anderes seit den Tagen der alten Römer, und für ihren Willen zur Macht existieren keine anderen Grenzen als die unseres Planeten.“4 Nun ging bekanntlich diese „grenzenlose“ planetarische Macht des englischen „Herrenvolkes“ längst auf das US-amerikanische Hegemonialvolk über, dessen Hegemonie unter der Last des Zeitlichen und Vergänglichen – man sehe und staune – immer mehr Risse bekommt.
Wir leben heute in einer Zeit des Übergangs und am Beginn eines Zeitalters der zunehmenden Instabilität und der sich zuspitzenden Großmächterivalität im globalen Format. Diese Entwicklung ist zwar kein neues Phänomenon der Weltgeschichte und wir haben sie in der Neuzeit auf unterschiedliche Art und Weise schon mehrmals etwa zurzeit des „europäischen Mächtekonzerts“, in der Zwischenkriegszeit oder in den Zeiten der Bipolarität des Kalten Krieges erlebt. Das Neue an der
Entwicklung ist aber, dass die seit dem Ende des Kalten Krieges ausgebildete US-Hegemonialordnung und die nach wie vor bestehende UN-Völkerrechtsordnung sichtbar dysfunktional werden und derart erodieren, dass diese Erosion eine Transformation der etablierten Machtstrukturen in eine neue noch nicht sichtbar gewordene, nicht desto weniger aber im Entstehen begriffene globale Großmächtekonstellation unausweichlich macht.
Ein Zeitalter der Instabilität ist immer eine Zeit des Großmächteungleichgewichts – ein prekärer Zustand zwischen Aggressivität und Zurückhaltung, Krieg und Frieden. Ist der Friede als Dauerzustand ein Zustand der Abwesenheit des Krieges (als Waffengang), so verträgt sich die Instabilität auf Dauer weder mit einem friedlichen Dauerzustand, da sie sich schnell in einen Waffengang umschlagen kann, noch mit einem Gleichgewicht, da dieses eine gewisse Stabilität zur Voraussetzung hat. In der Neuzeit war die Hegemonie einerseits nie von Dauer, sodass ein Gleichgewichtsprinzip sich letztlich immer gegen jeden Versuch eines Hegemoniestrebens durchsetzen konnte. Denn jedes Gleichgewicht hat einen Zustand zur Voraussetzung, in dem die Machtbeziehungen der Staaten untereinander dergestalt bestehen, dass ein Übergewicht eines Staates oder einer Staatengruppe über alle anderen verhindert wird, wodurch jeder Hegemonialversuch einer Veränderung des etablierten Weltordnungssystems unterbunden werden kann. Diese hegemoniale Systemveränderung trat aber nach dem Ende des Kalten Krieges ein und schuf dadurch ein Großmächteungleichgewichtssystem.
Andererseits ist jedem bis jetzt existierenden neuzeitlichen Weltordnungssystem mit seinem Staatenpluralismus die Friedensgefährdung immanent und es neigt stets zur Instabilität, die meistens in Kriegen aufgelöst wurde oder den Grundstein für kommende kriegerische bzw. kriegsähnliche Auseinandersetzungen legte.
Auf dieses Paradoxon eines jeden in der Neuzeit ausgebildeten Weltordnungssystems der vergangenen zweihundert Jahre, dass nämlich die an sich friedensimmanente Funktion einer Hegemonialordnung auf Dauer nicht durchsetzbar ist und bis in unsere Zeit keine Chance einer dauerhaften Verwirklichung besitzt, wohingegen der seiner Natur nach friedensgefährdende Staatenpluralismus eben dauerhaft besteht und darum seinem machtpolitischen Selbstverständnis nach faktisch unersetzbar bleibt, hat Theodor Schieder in Anlehnung an Kants Friedensschrift von 1795 in Erinnerung gerufen: „Die Idee des Völkerrechts“, schrieb Kant, „setzt die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus, und, obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist …, so ist doch selbst dieser, nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht; weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen und ein seelenloser Despotismus, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt.“5
Die staatenzentrierte Weltordnung der Neuzeit ist nach Schieders Kommentars dieses Kantischen Postulats „die Voraussetzung jedes Versuchs, einen gesicherten Frieden zu schaffen – und zugleich seine größte Erschwerung.“6
Was Kant für „eine Universalmonarchie“ postulierte, ist heute im Falle der seit dem Ende des Kalten Krieges bereits dreißig Jahre andauernden US-amerikanischen Hegemonialordnung Realität geworden. Die zunächst friedensstiftende US-Welthegemonie hat sich infolge der zahlreichen Interventionen der vergangenen gut zwanzig Jahre außen- und geopolitisch in ein brutales Regiment – „einen seelenlosen Despotismus“ – verwandelt, der die Weltordnung in eine Weltunordnung stürzte, diese instabiler bzw. aggressiver machte und das Völkerrecht >entrechtete<. Die vergangenen dreiundzwanzig Jahre haben diese leidvolle Erkenntnis zu Genüge bestätigt.
Mit dem Kosovo-Krieg etablierte der US-Hegemon eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Mit dem Kosovo-Krieg wurde, anders formuliert, die UN-Nachkriegsordnung endgültig zu Grabe getragen, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Hegemonialordnung überging. Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).7
Die Folgen der Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ sind zahlreiche militärische Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit in den vergangenen zwanzig Jahren. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 wurden zwar offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Manche Untersuchungen beziffern sie aber auf mehrere Millionen.
Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“8 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142).
Zwar wurden mehr als 150 größere bewaffnete Konflikte zwischen 1947 und 1991 mit schätzungsweise bis zu 20 Millionen Opfern ausgefochten.9 Die Gründe für diese Konflikte sind aber ursprünglich der von der Blockkonfrontation zwischen Ost und West geprägten Nachkriegsordnung zu verdanken, die vom ideologischen und geopolitischen Gegensatz zwischen den USA und der UdSSR dominiert wurde.
Die auf „Humanität“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ gegründete „heile“ Welt der US-Hegemonialordnung ist allerdings eine ganz andere „neue“ Form der „friedlichen“ Koexistenz der vom US-Hegemon wieder zum Leben erweckten monströsen Anti-Moderne.10 Das ist lediglich der Anfang einer leidvollen Geschichte des 21. Jahrhunderts, welches das erbarmungslose 20. Jahrhundert womöglich noch in den Schatten stellen wird. Die Beseitigung dieser Monstrosität kann allein in einer Überwindung der US-Hegemonie und deren Verwandlung in ein globales Großmächtekartell auf der Grundlage eines Gleichgewichtssystems bestehen. Kein Völkerrecht kann die Welthegemonie bändigen, allein eine oder mehrere im Entstehen begriffenen Gegenmächte können die Hegemonialmacht eindämmen und ein Mächtegleichgewicht wiederherstellen.
2. Je weniger Hegemonie, umso mehr Ideologie
Der Erste Weltkrieg besiegelte das Ende des ersten Großmächtekartells der Weltgeschichte, das unter dem euphemistischen Namen des „europäischen Mächtekonzerts“ überliefert ist. Der Grund für den Untergang des Kartells war nicht zuletzt die exzessive Expansionspolitik des „europäischen Imperialismus“, dessen rücksichtslose Großmächterivalität und erbarmungslose „Annexion politischer Leerräume“11 einen großen europäischen Krieg verursachte und letztlich den Ersten Weltkrieg auslöste. Nach den machtpolitischen Chaosspielen der Zwischenkriegszeit und der bipolaren Weltordnung des „Kalten Krieges“ entstand mit der erfolgreichen Beendigung der Bipolarität die US-Hegemonialordnung, welcher nunmehr infolge der dreißig Jahre andauernden Domestizierungsversuche der geopolitischen „Leerräume“ das Schicksal „des europäischen Imperialismus“ zu widerfahren droht.
Traten die USA in den Ersten Weltkrieg „mit dem Anspruch eines antiimperialistischen Programms“ ein, welches das Selbstbestimmungsrecht und die Schaffung eines Staatenbundes proklamierten, „der an die Stelle der Machtpolitik und Geheimdiplomatie treten sollte“ (ebd.), so verfolgten sie nach dem Ende des Kalten Krieges genau umgekehrt eine imperiale bzw. hegemoniale Weltpolitik, die mittlerweile zu ihrem Verhängnis geworden ist und anscheinend zu Ende geht.
Die Sackgasse, in welche die US-Expansionspolitik sich selbst manövrierte, befeuert umso mehr die Entstehung mehrerer mächtiger Machtzentren und – damit eng verbunden – die Ausbildung eines neuen globalen Großmächtekartells, welches die US-Hegemonialordnung nicht nur in Frage stellt, sondern auch aushebeln könnte. Die Frage ist nur: Wie friedlich wird dieser Prozess vonstattengehen? Je mehr die US-Hegemonie schwächelt, je stärker sie erodiert, umso aggressiver und militanter wird sie und umso akuter wird die Gefahr eines globalen Krieges.
Zwar hat „der europäische Imperialismus“ längst das Zeitige gesegnet, zwar strauchelt die US-Hegemonie heute in erheblichem Masse, der moralische Überlegenheitsanspruch der Europäer und der US-Amerikaner bleibt aber dessen ungeachtet unangetastet. Rückte an die Stelle des Gegensatzes
christlicher und nichtchristlicher Staaten die Unterscheidung zivilisierter, halb- und nichtzivilisierter Staaten zurzeit des angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Rassismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts, so bildete sich seit dem Ende des Kalten Krieges eine US-amerikanische Hegemonialordnung aus, die nach Meinung von Lothar Brock auf eine „ungleiche Entwicklung“ zurückzuführen sei, die „für internationale Machtdisparitäten“ steht, weil sie angeblich auf einer „zivilisatorischen Differenz … zwischen liberalen Gesellschaften, >ordentlichen Mitgliedern einer vernünftigen Gemeinschaft wohlgeordneter Völker< und >outlaw-Staaten<“ beruhe.12
Nun hat Joe Biden neuerdings diese „zivilisatorische Differenz“ umdefiniert, indem er einen ideologischen Systemkonflikt fabulierte, als er in einem während des Wahlkampfes im Frühjahr 2020 für „Foreign Affairs“ verfassten Artikel die These von einem vermeintlichen künftigen Wettstreit zwischen Demokratien und Autokratien formulierte: „Der Triumph von Demokratie und Liberalismus über Faschismus und Autokratie schuf die freie Welt. Aber dieser Wettstreit definiert nicht nur unsere Vergangenheit. Es wird auch unsere Zukunft bestimmen“. Joe Bidens Fabel wurde sofort von zahlreichen Claqueuren der US-Welthegemonie begeistert aufgegriffen, ideologisch zu eigen und der interessierten Öffentlichkeit bekanntgemacht.13
Hegemonial gewendet, dürften all diese Pseudoerkenntnisse wohl heißen: Die völkerrechtliche Deutungshoheit und die Schaffung neuer Spielregeln der internationalen Beziehungen obliege ausschließlich dem Hegemonialsystem der zivilisierten „Gemeinschaft wohlgeordneter Völker“, genauer: der US-amerikanischen Hegemonialordnung, die allein befugt sei, die „Herrschaft über Untertanenrassen“ (Lord Cromer) auszuüben. Oder in der Terminologie der amerikanischen Neocons formuliert: Die unzivilisierten „Rogue States“ benötigen Zwangsmaßnahmen seitens der „liberalen Demokratien“ zur Durchsetzung der von ihnen festgeschnürten universalen Standards.
3. Je weniger Gleichgewicht, umso mehr Weltfriedengefährdung
Noch im Jahre 2004 glaubte Ulrich Menzel zu wissen: „Die USA stehen am Beginn eines neuen, diesmal unangefochtenen Hegemoniezyklus,“ wohingegen Russland „auf absehbare Zeit zur Zweitrangigkeit abgesunken (ist)“, „während China in den nächsten zwanzig Jahren noch am ehesten als neuer Herausforderer denkbar ist.“14
Menzels Voraussage hat sich nur zum Teil bewahrheitet. Der US-Hegemonialzyklus war von kurzer Dauer; Russland ist zwar ökonomisch schwach, militärisch aber wieder zur Großmacht aufgestiegen und China ist tatsächlich zum hegemonialen Herausforderer der USA geworden, von dem Aufstieg und der Pluralisierung kleiner und größerer Regionalmächte (wie Indien, Türkei, Iran u. a.) ganz zu schweigen. Die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandene UN-Ordnung und die in den vergangenen dreißig Jahren ausgebildete US-Hegemonialordnung sind dysfunktional geworden und erzeugen eher Chaos als Ordnung, eher Instabilität als Stabilität, eher Unsicherheit als Sicherheit. Eine neue Weltordnung ist aber weit und breit (noch) nicht in Sicht. Was passiert aber, wenn die nebeneinander bestehende und immer wieder gegeneinander agierende US-Hegemonial- und UN-Weltordnung zerfallen sollten? Wird an deren Stelle eine globale Anarchie treten?
Das Weltordnungssystem der europäischen Großmächte brach infolge des Ersten Weltkrieges zusammen, ohne dass an dessen Stelle eine funktionierende friedensichernde Staatenwelt trat. Es entstand vielmehr ein anarchisches, auf den Ruinen der zugrunde gegangenen Imperien sich selbst desorganisierendes Staatenchaossystem des Völkerbundes. Auch Woodrow Wilsons berühmte Forderung vom April 1917 (Die Welt müsse sicher für die Demokratie gemacht werden) schuf zwar das außenpolitische Dogma der künftigen US-Weltpolitik und wurde grundlegend für den später sogenannten „liberalen Internationalismus“ der zweiten Hälfte des 20. und 21. Jahrhunderts. In der Staatenwelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb sie aber wirkungs- und bedeutungslos.
Die Zeit war dafür offenbar noch nicht reif. An Stelle des von Wilson als ungerecht verpönten und bekämpften Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte und der auf einem demokratischen Fundament zu gründenden Sicherheitsordnung trat vielmehr ein friedensgefährdendes und kriegsförderndes Ungleichgewichtssystem des Völkerbundes. Aber auch Wilsons Außenpolitik war alles anderes als „liberal“ oder „demokratisch“ und reihte sich letztlich trotz seiner Proklamation einer „demokratisch“ orientierten US-Außenpolitik durch und durch nahtlos in das Machtstaatsdenken der Epoche des europäischen Imperialismus ein. „Wilsons neue Politik“ – merkte Theodor Schieder zu
Recht an – ist „im Gegensatz gegen den massiven Imperialismus der Jahrhundertwende entstanden, sie führt aber ihrerseits wieder zu einem >humanitären< Imperialismus, der in der Forderung to make the world safe for democracy gipfelt.“15
Was bedeutet nun aber diese kurze historische Reminiszenz für unsere Gegenwart? Das „europäische Mächtekonzert“ ist erst am Schluss ein imperialistisches Machtstaatensystem geworden; zuvor war es aber jahrzehntelang ein dezentrales, sich selbst regulierendes System des ständigen Mit- und Gegeneinander der unterschiedlich starken zentralistisch organisierten Reiche, deren Machtkonzentration in den Händen der wenigen das Gleichgewichtssystem koordinierenden Personen („Kabinettdiplomatie“) verblieb. Eine supranationale Machtinstanz war darum gar nicht erforderlich. Ein sich selbst regulierendes Gleichgewichtssystem benötigte eben keine supranationale Machtinstanz, die das Gesamtsystem zusammenhalten bzw. die beteiligten Großmächte disziplinieren und ihre Streitigkeiten schlichten sollte, um die Einhaltung der Systemregeln zu erzwingen und dafür zu sorgen, dass das europäische Großmächtekartell nicht unregierbar bzw. anarchisch geworden wäre. Es reichte darum allein eine interne Abstimmung der Großmächte untereinander, um zum Modus Vivendi kommen zu können. Sie setzte allerdings zugegebenermaßen eine gewisse Homogenität der Macht- und Verfassungsstrukturen voraus.
Das europäische Großmächtekartell beruhte zudem auf einem Gleichgewichtsystem, das vor allem und in erster Linie eine begrenzte und keine totale Rivalität voraussetzte. Das ist im Grunde der Sinn und Zweck jedes Gleichgewichts. Zu Recht heben Gordon Craig und Alexander George hervor, dass die europäischen Großmächte „einander nicht als unversöhnliche Gegner in einem Verdrängungswettbewerb (betrachteten), in dem Gewinne nur erzielt werden konnten, indem man den Anderen Verluste zufügte. Die Beteiligten verhielten sich zueinander eher wie >begrenzte Rivalen<: Nicht nur war der Gewinn des einen nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem Verlust des anderen, sondern die Konkurrenz wurde auch noch durch die Anwendung des Prinzips der Kompensation gemildert.“16 Was gestern eine begrenzte Rivalität hieß, dürfte wohl heute „ein unteilbares Sicherheitssystem“ lauten.
Vor dem Hintergrund der zu Ende gegangenen dreiundzwanzig Jahre andauernden Epoche der US-Interventionspolitik (1999-2021), die mit dem fluchtartigen US-Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen zu sein scheint, ist heute die Rückkehr des Mächtegleichgewichts in einem neuen, globalen Gewand und unter Bedingungen einer das Kompensationsprinzip berücksichtigenden begrenzten Rivalität das Gebot der Stunde.
Das hegemoniale Geschäftsmodell der USA ist an seine Grenzen gestoßen, hat sich geopolitisch überlebt und geoökonomisch abgewirtschaftet. Mit ihrer exzessiven und rücksichtslosen Machtexpansion haben die USA weder ein geopolitisches Surplus erzielt noch den Weltfrieden sicherer gemacht. Dort, wo sie in die fremden Machträume (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien usw.) eindrangen, die traditionell bestehenden staatlichen und sozialen Machtstrukturen und Lebensgrundlagen in Schutt und Asche legten und anschließend an deren Stelle die eigenen Marionettenregierungen installierten, brachten sie statt Demokratie und Menschenrechte Elend und Zerstörung. Allein in der Ukraine ist es ihnen gelungen, in enger Kooperation mit England militärisch und geopolitisch Fuß zu fassen, was gleichzeitig zu massiven Spannungen mit Russland und damit zur Friedensgefährdung geführt hat.
Die US-Hegemonialordnung erwies sich in den vergangenen gut zwanzig Jahren vor allem für die USA selbst geopolitisch als unergiebig und geoökonomisch als Verlustgeschäft. Die USA haben ihre unangefochtene geoökonomische Vormachtstellung in der Welt verloren und selbst ihre militärische Überlegenheit wird von Russland und China in Zweifel gezogen und immer mehr und immer öfter in Frage gestellt.
Die USA sind nicht mehr ein unangefochtener Hegemon. Ihre militärische, monetäre und geoökonomische Vormachtstellung wird zunehmend anfechtbarer. Die Zeit ist längst reif geworden für eine grundlegende geopolitische, geoökonomische und nicht zuletzt monetäre Erneuerung des dysfunktional gewordenen Weltordnungssystems. Der Zug der Zeit liegt heute in den Händen eines sich im Aufbau befindenden globalen Großmächtekartells, dessen Entwicklung – von der Weltöffentlichkeit unbemerkt – bereits weit fortgeschritten ist und dessen potentielle Mitglieder militärisch und/oder ökonomisch gleich oder ähnlich stark werden bzw. geworden sind. So liegt die Entscheidung über den Weltfrieden oder den Weltkrieg bereits heute bei den Großmächten.
Anmerkungen
1. Kjellén, R., Die Großmächte der Gegenwart. 5. Aufl. Berlin 1915, 174 f.
2. Kjellén (wie Anm. 1), 157.
3. Koch, M., Russland plus China: Der Megaostblock verändert die Welt. Rnd.de 04.02.2022.
4. Kjellén (wie Anm. 1), 96.
5. Zitiert nach Schieder, Th., Friedenssicherung und Staatenpluralismus, in: ders., Einsichten in die Geschichte. Essays. Frankfurt 1980, 156-174, 158 f.
6. Schieder (wie Anm. 5), 159.
7. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der »Demokratische Frieden« und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
8. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
9. Vgl. Greiner, B., Kalter Krieg und »Cold War Studies«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, 1-9 (2).
10. Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021.
11. Schieder, Th., Imperialismus in alter und neuer Sicht, in: ders., Einsichten in die Geschichte (wie Anm. 5), 137-155, 148.
12. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66 f.).
13. Näheres dazu Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021 (www.ontopraxiologie.de).
14. Menzel, U., Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays. 2004, 63.
15. Schieder (wie Anm. 11), 145.
16. Craig, G. A./George, A. L., Zwischen Krieg und Frieden. Konfliktlösung in Geschichte und Gegenwart. München 1984, 62.