Verlag OntoPrax Berlin

Geschichte als Funktion der Geopolitik

Im Horizont der „Sinngebung des Sinnlosen“

Übersicht

1. Gedanken über Geschichte und Gegenwart
2. Die verdrängte Geschichte und die Gegenwart
3. Condoleezza Rice´ Geschichtsklitterung
(a) In den Schützengräben des Ost-West-Konflikts
(b) Die Ausblendung der US-Außenpolitik

Anmerkungen

„Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen,
das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch
an den Wogen anhalten wollte.“1

1. Gedanken über Geschichte und Gegenwart

Betrachtet man die unmittelbare Gegenwart als den letzten Akt eines nunmehr seit gut dreißig Jahren andauernden Theaterstücks namens „unipolare Weltordnung“, die vor unseren Augen zerfällt, so fragt man sich mit dem 1933 von Nazis in der Tschechoslowakei erschossenen Theodor Lessing (1872-1933), ob die Geschichte tatsächlich nichts weiter „als Sinngebung des Sinnlosen“2 sei.

Gemessen am Ergebnis der von US-Präsident George Bush Senior am 11. September 1990 ausgerufenen „Neuen Weltordnung“ erscheint die realexistierende unipolare Welt mit ihren zahllosen Kriegen und Krisen, Interventionen und Invasionen als ein Blendwerk des Schicksals und/oder als ein blindes Werkzeug in der Hand einer Macht, die die Geschichte lenkt und stets wiederholt.

„Die ewige Wiederkehr des Gleichen“ nannte Nietzsche einst dieses unausweichliche Fatum der Geschichte. In dieser „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ liegen Traum und Alptraum, Euphorie und Enttäuschung, Zuversicht und Resignation, Aufstieg und Fall meistens nahe beieinander.

Wo ist denn dann der Sinn dessen, was sich stets wiederholt und in den gleichen Mustern wiederkehrt?

Gibt es diesen „Sinn“ überhaupt? Oder drehen wir uns immer und immer wieder im Kreis, geblendet vom vermeintlichen Erfolg und verblendet von der „Sinnhaftigkeit“ des eigenen Handelns?

Hatte die Antike womöglich doch recht, als sie nie nach dem Sinn der Geschichte fragte, weil sie ein ganz anderes Geschichtsverständnis hatte, deren Vorstellung „nicht der Fortschritt, sondern … die Entfaltung aus dem Ursprung und der Rückkehr in den Ursprung“3 war. Eine solche kreisförmige Bewegung der Geschichte entzieht sich jeder Sinnhaftigkeit und Sinndeutung.

Weder das Christentum noch die antike Welt glaubten an den Fortschritt so, wie wir heute glauben. „Wenn das biblische und griechische Denken irgendwo übereinstimmen, so in der Freiheit von Illusion des Fortschritts.“4

Allein dieser Fortschrittsglaube verleitet uns der Geschichte einen Sinn zu geben und diese an einen Fortschritt geglaubte Sinngebung macht uns blind vor einer anderen, eben kreisförmigen Entwicklung der Geschichte. „Die Maulwürfe der Geschichte graben blind,“5 indem sie blind an einen Fortschritt glauben, statt frei „von Illusion des Fortschritts“ zu werden. Deswegen sind sie so gefährlich in ihrem unverwüstlichen Optimismus, weil die Enttäuschung meistens auf dem Fuß folgt und sie aggressiv und unberechenbar macht.

Nichts ist so gefährlich wie die enttäuschten Erwartungen. Und so wiederholt sich heute genau das, was wir längst als überwunden glaubten. Vielleicht war aber das als überwunden Geglaubte nie weg und wir glaubten nur daran, dass es verschwunden ist? Hätten wir das Geschichtsverständnis der Antike, so hätten wir womöglich, statt an einen die „Neue Weltordnung“ propagierten Fortschritt zu glauben, nur müde gelächelt und erwartungsgemäß „die ewige Wiederkehr des Gleichen“ prophezeit.

Und nun holt uns die ausgeblendete und als überwunden geglaubte Geschichte auf den Boden der geopolitischen Realität zurück und wir fragen uns entsetzt und entrüstet: Wie konnte all das nur passieren? Wir wundern uns, weil wir an den sinngebenden Fortschritt glauben und folgen dem Fortschrittsglauben blind, ohne zu fragen, ob er nichts weiter als eine Selbsttäuschung ist.

Wenn die „Sinngebung des Sinnlosen“ einen „Sinn“ haben soll, dann ist nur dort, wo die Geschichte aus der Versenkung geholt wird, um dem Geschichtsvergessenen zu zeigen, wie sinnlos zu wiederholen ist, was sich historisch als gescheitert erwiesen hat.

Zu jeder Zeit der Geschichte hat die Kriegspartei stets Ursache und Wirkung vertauscht und ad absurdum geführt, um die Sinnhaftigkeit ihres Kriegsspektakels zu rechtfertigen und dessen Weiterführung Sinn zu geben. Je blutiger das Kriegsspektakel wird, desto glaubhafter wird auch seine Begründung sein. „Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben“, glaubte Hitlers Propagandaminister Josef Goebbels zu wissen.

Die Kriegspartei tritt in Fußstapfen des Propagandaministers und versucht uns ebenfalls mit allen denkbaren und undenkbaren Argumenten weiszumachen, wie wichtig, weil sinngebend es ist, an einem Krieg teilzunehmen, der uns gar nichts angeht, weil wir gegen einen „Feind“ Krieg führen müssen, der gegen uns keinen Krieg führt, aber in naher Zukunft führen könnte, falls er den vor unseren Toren tobenden Krieg gewinnen sollte, suggeriert uns die Kriegspartei.

Und so erfindet die Kriegspartei Kriegsgründe, um dem Krieg einen Sinn zu geben, den es gar nicht gibt, und die eigene Kriegsteilnahme im Namen der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gutzuheißen, die der „Kriegsopfer“ weder hat noch anstrebt.

So liegt eine große Versuchung darin, den Krieg in der Ukraine für etwas zu halten, was er nicht ist und dem einen Sinn zu geben, den es nicht gibt. Die Frage aber, wer eigentlich der legitime Sinngeber des Krieges ist: die Kiewer Zentralregierung, das ukrainische Wahlvolk oder gar der Westen, wird gar nicht gestellt.

Kann die Sinngeberin des Krieges wirklich die ukrainische Zentralregierung sein, deren politische Existenz gänzlich vom „Westen“ abhängig ist und die in erster Linie die geopolitischen und geoökonomischen Interessen des Westens und nicht des ukrainischen Volkes bedient?

Oder können die Sinngeber des Krieges womöglich die mittlerweile nicht mehr demokratisch legitimierten ukrainischen Machthaber sein, die den Krieg um ihren Machterhalt willen unbedingt fortsetzen wollen? Oder ist es das ukrainische Wahlvolk, das ungefragt oft gegen seinen Willen in das Kriegsgemetzel und schlussendlich in den sicheren Tod getrieben wird?

Was Sinn und was sinnlos ist, entscheidet letztlich, wer die tatsächliche Macht über Land und Leute ausübt. Alle anderen sind nur die Souffleure der Macht, hinter denen sich die eigentlichen Sinngeber des Krieges verbergen.

2. Die verdrängte Geschichte und die Gegenwart

Es tobt ein Krieg zwischen der Nato und Russland auf ukrainischem Boden und alle tun so, als wäre dieser Krieg ein rein ukrainisch-russischer Konflikt. Was bei den Anhängern der Kriegspartei die Verteidigung der Ukraine zum Schutz „unserer“ eigenen Freiheit und die Abwehr gegen die russische „Aggression“ gilt, ist in Wahrheit der Versuch die ahnungslose Öffentlichkeit für die Fortsetzung der Nato-Expansionspolitik zu mobilisieren und die Bevölkerung mental auf einen großen europäischen Krieg vorzubereiten.

Die Weigerung der Kriegspartei sich auf irgendwelche Friedensverhandlungen mit Russland einzulassen, rechtfertigt sie u. a. mit dem nur scheinbar einleuchtenden Argument: Man dürfe den „Aggressor“ für die erfolgte Besitznahme nicht belohnen, sonst bekommt er noch mehr Appetit auf weitere Eroberungsfeldzüge.

Diese Behauptung entbehrt jeder historischen Wahrheit, ignoriert sie doch jene tief- und weitgehenden geopolitischen und geokulturellen Prozesse, die eine Befriedung des Konflikts beinahe unmöglich machen, es sei denn, Russland akzeptiert ein die Existenz des russischen Machtraumes bedrohendes Friedensdiktat. Der nach dem Untergang des Sowjetimperiums größer gewordene, in die transatlantische Gemeinschaft verwandelte „Westen“ denkt im Traum nicht daran, mit Russland über eine Beilegung des Ukrainekonflikts zu verhandeln, sonst hätte er das bereits vor dem Kriegsausbruch getan.

Die abendländische Kultur, die seit Jahrhunderten die Weltmachtstellung in Gestalt zunächst der europäischen Großmächte und dann der US-amerikanischen Supermacht innehat, ist gewohnt zu diktieren, statt zu verhandeln.

Die transatlantische Gemeinschaft ist ja heute nichts anderes als der Zusammenschluss der ehem. Großmächte und des amtierenden US-Hegemonen, vereint in ihrem gemeinsamen Streben die Weltdominanz aufrechtzuerhalten bzw. zu perpetuieren. Das ideologische und geopolitische Sendungsbewusstsein der Transatlantiker leitet sich von den Prinzipien ab, die weit in das 16. Jahrhundert zurückgehen.

Heute sind sie aber längst anachronistisch geworden. Die USA und die EU verbleiben dessen ungeachtet in einem unausrottbaren geopolitischen Eskapismus, der sich kategorisch weigert, die veränderte weltpolitische Machtrealität zu akzeptieren. Immer noch in ihrer Selbstüberhöhung verrannt, beharrt die transatlantische Gemeinschaft nach wie vor auf die Teilung der Welt in Demokratien und Autokratien, in freie und unfreie Welt, in der Diktatoren die Menschenrechte verletzen, in zivilisierten und unzivilisierten Völker und Länder, die man auf den Pfad der Tugend bringen, d. h. Demokratie und Menschenrechte beibringen sollte.

Das ist aber nichts anderes als die Neolegitimierung des verdrängten und nie überwundenen kolonialen Machtbewusstseins der transatlantischen Führungs- und Machteliten, die die Menschheit immer schon in Herren- und Untertanenrassen aufteilten, woraus gleich der Anspruch abgeleitet wird, den globalen Raum beherrschen zu dürfen.

„Imperiale Verbesserung seit dem 18. Jahrhundert“ nannten Boris Barth und Jürgen Osterhammel euphemistisch diese „Zivilisierungsmissionen“ der europäischen Kolonialmächte6, die ihre koloniale und imperialistische Vergangenheit längst verdrängt haben und davon nichts mehr hören und nichts mehr wissen wollen.

Die verdrängte Geschichte holt sie aber heute ein und die ehem. „Untertanenrassen“ melden ihre Ansprüche an und lassen nicht mehr zu, das Verdrängte zu verharmlosen. Verdrängt wurde vor allem, „dass, mit Ausnahme des winzigen Luxemburg, alle Gründernationen der späten EU, die Niederlande, Belgien, Italien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, frühere Kolonialmächte waren und es (mit Ausnahme der Bundesrepublik) bis weit in die Zeit der Europäischen Gemeinschaften blieben. Verdrängt wurden die vielen kolonialen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die, was die bloße Zahl der in kurzen Zeiträumen Ermordeten und das Ausmaß der Grausamkeiten angeht, den japanischen und deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs … kaum nachstehen. Verdrängt wurde die Einübung der rassistischen Vernichtungspraxis im Herzen der Finsternis,7 lange bevor die Taten in Europas Bloodlands wiederholt wurde. Von alldem findet sich in den offiziellen Dokumenten der Union, die immer wieder Europas Geschichte im kosmopolitischen Friedensprojekt der EU enden lassen, nicht eine einzige Spur.“8

Wenn man diese verdrängte Geschichte vergegenwärtigt und dazu noch die vergangenen dreißig Jahre der unipolaren Weltordnung mit ihren zahlreichen Kriegen und Krisen hinzuzählt, dann verbietet sich von selbst die anderen Kulturen und Völker anmaßend an den Pranger zu stellen und sie allen möglichen Taten und Untaten zu bezichtigen.

Geschichte ist in diesem Kontext keineswegs die „Sinngebung des Sinnlosen“, sondern eine sinnhafte Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die statt Belehrung und Anmaßung zur Demut und Bescheidenheit mahnt. In diesem Sinne hat Geschichte einen tiefschürfenden Sinn.

3. Condoleezza Rice´ Geschichtsklitterung

(a) In den Schützengräben des Ost-West-Konflikts

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer Sinndeutung dessen, was wir in den vergangenen dreißig Jahren mit der unipolaren Weltordnung erleben, ertragen und erdulden dürften. Keine geringere als Condoleezza Rice hat sich zum Wort gemeldet und sich eingehend mit der gestellten Frage auseinandergesetzt.

Die ehem. Nationale Sicherheitsberaterin (2001-2005) und Ex-Außenministerin (2005-2009) und derzeitige Direktorin des Hoover Instituts an der Stanford University spielte eine herausragende Rolle in der Ausformung, Ausbildung und Etablierung der unipolaren Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

In ihrer gerade erschienenen umfangreichen Studie „The Perils of Isolationism“ in Foreign Affairs vom 20. August 2024 hat sie all das zum Besten gegeben, was das außenpolitische US-Establishment seit dem Untergang des ideologischen und geopolitischen Systemrivalen mit seiner Ideologie des sog. „American exceptionalism“ repräsentiert.

Immer noch ideologisch in den Schützengräben des Ost-West-Konflikts verbleibend und mit den persönlichen Erlebnissen der hegemonialen Größe Amerikas im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts angereichert, präsentiert Rice eine Geisteshaltung, die aus einer Mischung von Selbstbeweihräucherung und Selbstzweifel, Verkennung und Missdeutung der stattfindenden geopolitischen Prozesse außerhalb der westlichen Hemisphäre besteht und nicht zuletzt ein buntes Sammelsurium von gezielt gestreuter Desinformation und bornierter Beurteilung der rivalisierenden Großmächte Russland und China verkörpert.

Das Bemerkenswerte an der Studie ist zudem eine geradezu selbstverblendete Weigerung die Außen- und Weltpolitik als einen reziproken Prozess von Aktion und Reaktion zu begreifen sowie ein Versuch allein den geopolitischen Rivalen ein verantwortungsloses und friedengefährdendes Verhalten bei gleichzeitiger Ausblendung der eigenen Aggressivität und Provokationen vorzuhalten.

Im Bann dieser kaum zu begreifenden intellektuellen Unredlichkeit wird trotz mancher zutreffenden Erkenntnisse der klare Blick auf die geopolitische Realität der Gegenwart verstellt und die gewonnenen Erkenntnisse entwertet.

Mit ihrer Analyse und Reflexion offenbart Rice das geistige Innenleben eines US-Establishments, das immer noch weltentrückt von der US-Weltdominanz überzeugt ist und nicht wahrhaben will, wie sehr sich die geopolitische Realität in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts geändert hat und wie immer weniger die USA darauf Einfluss nehmen können.

Zutreffend stellt Rice fest, dass das, was wir heute erleben, „keine Neuauflage des Kalten Krieges ist. Es ist viel gefährlicher“ (vgl.: But the current period is not a Cold War redux. It is more dangerous). Warum die die Entwicklung der Gegenwart „keine Neuauflage des Kalten Krieges“ ist, wird jedoch nicht näher erläutert.

Rice begründet ihre Erkenntnis lediglich damit, dass „China keine Sowjetunion“ sei (China is not the Soviet Union), weil China bereits in den 1970er-Jahren seine Isolation beendete und die Bedeutung der Ideologie in China eine ganz andere Rolle als in der Sowjetunion spielt, dergestalt, dass es nicht der ganzen Welt oktroyieren will.

Sie ignoriert freilich den Umstand, dass China nie der Anführer des Weltkommunismus war und im Gegensatz zur russischen und abendländischen Zivilisation zudem kein messianisches Sendungsbewusstsein kennt. Die russische und die abendländische, christlich geprägte Welt haben eines gemeinsam: das Bedürfnis, ja die Sehnsucht nach der Verwirklichung einer vom messianischen Sendungsbewusstsein getragenen universalen Idee, die sie auf unterschiedlicher Art und Weise realisiert sehen möchten.

Rice missversteht die Natur des „Kalten Krieges“ und vergleicht daher das Unvergleichbare. Der sog. „Kalte Krieg“ entstand lange, bevor er vom einflussreichen US-Kolumnisten Walter Lippmann 1947 als solcher begrifflich bezeichnet wurde. „Man darf also mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass der Kalte Krieg 1918 bzw. 1921 begonnen hat,“ stellte Leo Matthias bereits 1964 fest.9

Und der eigentliche Spiritus Rector dieses „Kalten Krieges“ war kein geringerer als Churchill, ohne dass er dessen Namensgeber war. Woodrow Wilson, der die amerikanischen Truppen mit 8000 Mann 1918 nach Ostsibirien sandte, das ganze Invasionsabenteuer aber für sinnlos hielt, war bereits 1919 bei den Friedensverhandlungen in Paris als einziger unter den Staatsoberhäuptern über zwei Dinge im Klaren: (1) „dass die alliierten Truppen in Russland keinen Erfolg haben werden, weil sie nicht wissen, für wen oder was sie kämpfen …“ und (2) „dass es erforderlich ist … (sich mit den Russen an einen Tisch zu setzen), um … Informationen zu erhalten …“.

Churchill geriet bei derartigen Auslassungen Wilsons in eine solche Rage, „dass er – wie berichtet wird – puterrot wurde und Wilson unterbrach. Am gleichen Tisch mit Kommunisten zu sitzen, kam für ihn nicht in Frage. Er wollte die Bolschewiken nicht sehen. Er wollte sie vernichten.“10 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Machtergreifung der Bolschewiken in Russland beginnt eine ein Jahrhundert andauernde erbitterte, hasserfüllte ideologische Systemkonfrontation, die Lippmann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den „Kalten Krieg“ nannte.

Diese ideologische Systemkonfrontation findet nach dem Untergang des Sowjetreiches nicht mehr statt – und zwar nicht deswegen, weil „China keine Sowjetunion“ sei, wie Rice mutmaßt, sondern weil die bipolare Weltordnung mit ihrem Ost-West-Konflikt auseinandergebrochen ist.11

In Verkennung der Natur des „Kalten Krieges“ setzt sich Rice mit der selbstgestellten Frage auseinander: „Wenn also der aktuelle Wettbewerb nicht der Kalte Krieg 2.0 ist, was ist er dann?“ (So if the current competition is not Cold War 2.0, then what is it?).

Ohne den Leser genau aufzuklären, was sie unter dem „Kalten Krieg“ versteht, vergleicht Rice die gegenwärtige Großmächterivalität mit dem Zeitalter des europäischen Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts sowie mit der Zwischenkriegszeit.

Das Kennzeichnen dieser Zeiten war laut Rice eine Revision der bestehenden internationalen Ordnung und in diesem Sinne sei die heute stattfindende geopolitische Entwicklung kein „Kalter Krieg“ mehr. Richtig weist sie darauf hin, dass die Territorialkonflikte während des „Kalten Krieges“ weitgehend durch Proxy-Kriege ausgetragen wurden. Sie verkennt dabei, dass die bipolare Weltordnung eine Friedens- und Sicherheitsordnung der Status-quo-Mächte war, die jede Expansionspolitik in Europa von vornherein ausgeschlossen hat.

Genau diese Expansionspolitik der transatlantischen Gemeinschaft findet aber seit dem Untergang des Sowjetreiches statt, stößt aber auf einen entschiedenen Widerstand Russlands.

Nun beteuert Rice mit Verweis auf die territorialen Ansprüche Chinas und Russlands, dass die gegenwärtige Sicherheitslage die Gefahr eines direkten militärischen Konflikts zwischen den Großmächten heraufbeschwören kann. Sie unterschlägt aber, dass diese territorialen Konflikte eine direkte Folge der US-Expansionspolitik seit dem Zusammenbruch der Status-quo-Welt des „Kalten Krieges“ sind, woran Rice selber als US-Außenministerin unmittelbar beteiligt war und darum bestens darüber Bescheid weiß.

(b) Die Ausblendung der US-Außenpolitik

Vor dem Hintergrund dieser kompletten Ausblendung der expansiven US-Außenpolitik setzt sich Rice sodann eingehend mit der – wie sie es nennt – „Wiedergeburt des Russischen Reiches“ (the Russian empire reborn) auseinander, in der sie eine „geopolitische Bedrohung“ (geopolitical threat) erblickt.

Die „Annexion der Krim im Jahr 2014“ und der „Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022“ haben ursächlich mit Putins Streben zu tun, das Russische Reich wiederherzustellen, beteuert Rice und fügt gleich hinzu: Das Schwarze Meer, das die Zaren als russischen See betrachteten, sei erneut zu einer Quelle von Konflikten und Spannungen geworden.

Freilich verschweigt Rice auch hier, wie sehr die USA selber geopolitisch an der Halbinsel Krim interessiert waren. Der Kampf um die Halbinsel Krim begann bereits im Jahre 2005, also lange vor Putins „Annexion“ und „Einmarsch“. Das musste Rice ganz genau wissen, war sie doch zu jener Zeit die US-Außenministerin.

Anlässlich des NATO-Gipfeltreffens am 21. April 2005 ermutigte Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer die Ukraine, einen „intensivierten Dialog“ mit der Nato zu beginnen. Am 27. Dezember 2005 unterzeichnete Victor Juščenko das präsidiale Dekret 1861/2005. Damit wurde die „Implementierung der Kooperation zwischen der Ukraine und NATO“ zum staatlichen Grundsatz erklärt.

Mit einem weiteren präsidialen Dekret vom 31. Januar 2006 legitimierte Juščenko die Stationierung von ausländischen Soldaten auf ukrainischem Boden, was bis zu diesem Zeitpunkt gemäß der ukrainischen Verfassung verboten war. Eine Genehmigung durch das Parlament in Kiew wurde jedoch nie erteilt. Diese euroatlantische Integration stieß allerdings sowohl in der Bevölkerung als auch bei Politikern auf breite Ablehnung.

Unter Missachtung der Verfassung setzte Juščenko das vereinbarte Programm durch. Im Rahmen des ersten Nato-Manövers (See Breeze 2006) im Schwarzen Meer legte am 27. Mai 2006 der US-Frachter „Advantage“ im Hafen von Feodossija an. Zwei Tage zuvor landete bereits ein US-Militärflugzeug mit 117 Marines auf dem Flughafen von Simferopol, woraufhin sich ein massiver Protest der Krim-Bevölkerung gegen die „amerikanische Invasion“ formierte. Der Protest der Krim-Bevölkerung gegen die Nato war so groß, dass am Abend des 11. Juni 125 US- Soldaten nach Deutschland ausgeflogen werden mussten. Am nächsten Tag folgten die restlichen 132 Männer. Mehr noch: Das Parlament der Krim hatte bereits am 6. Juni 2006 ein Gesetz verabschiedet, dass die Halbinsel zu einer „NATO-freien Zone“ erklärt.

Von diesen Ereignissen völlig unbeeindruckt, fing Georg W. Bush im Frühjahr 2008 damit an, seine NATO-Partner zur Gewährung des Membership Action Plan (MAP) für die Ukraine und Georgien zu drängen, der Vorstufe zur Mitgliedschaft im Militärbündnis. Noch am 1. Februar 2008 erklärte Sergej Lavrov der US-Botschaft in Moskau, dass die Nato-Erweiterung, insbesondere in die Ukraine und Georgien, als eine „potentielle militärische Bedrohung eingestuft werden muss“.

Die USA ließen sich dennoch nicht davon abhalten, zwei Monate später auf dem NATO-Gipfeltreffen in Bukarest zu erklären, dass die Ukraine Nato-Mitglied werden soll. Die daraufhin erfolgte, heftige öffentliche Reaktion Russlands wurde in den USA so gewertet, dass man genau auf dem richtigen Weg sei, um diese Länder von Russland zu schützen.

Heute will Rice davon nichts mehr wissen. Dass die expansive US-Außenpolitik und nicht das russische Streben nach einer Wiederherstellung des Russischen Reiches im Wesentlichen der Stein des Anstoßes für Putins „Annexion der Krim im Jahr 2014“ und sein „Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022“ war, davon wollen auch die US-Geostrategen nichts wissen und nichts hören. Heute spielen sie einen Unschuldsengel.

Selbstgerecht spricht Rice lieber von einer vermeintlichen internationalen Isolation Moskaus als Folge der russischen Invasion in die Ukraine. Wie sehr Putin isoliert ist, präzisiert sie indes nicht, betont aber mit Verweis auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit, wie gefährlich ein isoliertes und militarisiertes Land sein kann.

Dass ein „militarisiertes“ und „isoliertes“ Russland nicht einmal ein Zentel der Militärausgaben der Nato-Staaten hat, bleibt dabei unerwähnt. Lieber betont Rice die „geopolitische Bedrohung“ der USA durch eine wachsende Zusammenarbeit Russlands mit China, dem Iran und Nordkorea. „Die vier Länder haben ein gemeinsames Ziel: das von den USA geführte internationale System, das sie verabscheuen, zu untergraben und zu ersetzen“, glaubt sie zu wissen.

Es ist geradezu zu einem Standardvorwurf der Transatlantiker geworden, alles, was geopolitisch neben den USA entsteht und sie nicht kontrollieren können, als eine „geopolitische Bedrohung“ für die USA zu stigmatisieren. Diese bizarre Obsession zeigt nur, wie sehr das US-Establishment, das inadäquat die geopolitische Realität wahrnimmt und jede Initiative, die es nicht kontrollieren kann, als eine Bedrohung des US-Weltmachtstatus ansieht, an Wahnvorstellungen leidet.

Dass das US-Establishment sich zudem beharrlich weigert, die eigene US-Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre selbstkritisch zu hinterfragen, führt nur dazu, dass es allein in den sog. „revisionistischen Mächten“ die Quelle allen Übels sieht, ohne einzusehen, dass es die USA waren, die ja die UN-Ordnung nach dem Ende der Bipolarität durch die unipolare Weltordnung substituierten und dadurch die Großmächte China und Russland gegen sich aufbrachten.

Die Ausblendung der eigenen gescheiterten US-Außenpolitik verleitet Rice zu völlig verfehlten Diagnosen und Missdeutungen, die da lauten:

Russland sei voller innerer Widersprüche. Putin habe mehr als 30 Jahre der russischen Integration in die Weltwirtschaft zunichte gemacht und stütze sich auf ein Netzwerk von opportunistischen Staaten, die ihm Krümel zuwerfen, um sein Regime aufrechtzuerhalten. Keiner wisse, wie lange es überleben könne; es könne aber viel Schaden anrichten, bevor es zerbreche. Putin rechne mit einer eingeschüchterten und schlecht informierten Bevölkerung, und sein Regime indoktriniere junge Menschen auf eine Weise, die an die Hitlerjugend erinnere.

Diese zitierte Passage ist eine Karikatur auf die russische Gegenwart und derart abstrus und fern jeder Realität, dass unsereiner das Gefühl hat, dass die alte Dame der US-Außenpolitik mit ihrer Perzeption Russlands nicht nur in den 1990er-Jahren stecken geblieben ist, sondern die russische Gegenwart kurzer Hand mit der längst untergegangenen Sowjetunion gleichsetzt.

Da sie offenbar in Russland die Sowjetunion 2.0 sieht, kann sich Rice gar nicht vorstellen, dass die russische Bevölkerung heute viel aufgeklärter, weniger indoktrinierter und objektiv viel besser informiert ist als die Menschen im Westen. Und ihre völlig abwegige Gleichsetzung der russischen Jugend mit der „Hitlerjugend“ spricht Bände. Wer so einen Kontrahenten verunglimpft, will nicht aufklären, sondern entmenschlichen.

Dass Rice mit ihrer Geisteshaltung zudem immer noch in den „glorreichen“ 1990er-Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, in denen die USA die „Weltmacht ohne Gegner“ (Rudolf/Wilzewski) waren, stecken geblieben ist, zeigen ihre weiteren Ausführungen, die die US-Weltmachtstellung maßlos überschätzen. Diese Generation der US-Außenpolitiker weigern sich beharrlich zu akzeptieren, dass die USA heute nichts weiter als ein Abklatsch ihrer alten Größe geworden sind.

Zwar gibt Rice selbst zu, dass „der Ukrainekrieg die Schwächen der US-Verteidigungsindustrie aufgedeckt hat“, fordert aber gleichzeitig, dass die USA ihre Verteidigungsfähigkeiten aufrechterhalten müsse, „um China, Russland und dem Iran ihre strategischen Ziele zu verwehren“.

Geradezu nostalgisch schwärmt Rice von den schönen alten Zeiten:

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA ein selbstbewusstes Land mit einem Babyboom, einer wachsenden Mittelschicht und einem ungezügeltem Zukunftsoptimismus. Der Kampf gegen den Kommunismus sorgte für einen parteiübergreifenden Konsens. Die meisten stimmten mit Präsident John F. Kennedy darin überein, dass ihr Land bereit sei, bei der Verteidigung der Freiheit „jeden Preis zu zahlen, jede Last zu tragen“.

Und heute? Wo steht Amerika heute? (Where does America stand?), fragt Rice ernüchtert: „Die USA sind heute ein anderes Land – erschöpft von acht Jahrzehnten der internationalen Führungsrolle“ (The United States is a different country now—exhausted by eight decades of international leadership).

„Die neuen vier Reiter der Apokalypse – Populismus, Nativismus, Isolationismus und Protektionismus – neigen dazu, gemeinsam zu reiten, und sie fordern die politische Mitte heraus“ (The new Four Horsemen of the Apocalypse—populism, nativism, isolationism, and protectionism—tend to ride together, and they are challenging the political center), glaubt Rice zu wissen, um abschließend pathetisch zu verkünden:

Wenn das 19. und das 20. Jahrhundert die Amerikaner etwas gelehrt haben, dann ist es nur eines: Die anderen Großmächte kümmern sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten, sondern versuchen stattdessen, die globale Ordnung zu gestalten. Die Zukunft wird vom Bündnis der demokratischen Staaten und des freien Marktes bestimmt werden, oder sie wird von den revisionistischen Mächten bestimmt, die auf eine Zeit der territorialen Eroberung im Ausland und der autoritären Praktiken im Inland zurückblicken. Es gibt einfach keine andere Möglichkeit.

Nun ja, wenn man die eigene, auf Expansion ausgerichtete Hegemonialpolitik ausblendet und mit einem erhobenen Zeigefinger immer und nur auf die revisionistischen Bestrebungen der geopolitischen Rivalen zeigt, dann verbleibt man unbelehrbar in den ideologischen Schützengräben der längst vergangenen Epoche. Das ist auch das Hauptproblem des US-Establishments, dessen herausragende Repräsentantin Condoleezza Rice ist. Sie hat aus der verfehlten US-Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre nichts gelernt und nichts verstanden. Und in diesem Sinne ist die Geschichte weder sinngebend noch hat sie einen Sinn, um daraus irgendwelche Lehren ziehen zu können, sondern erweist sich vielmehr als ein Vehikel der US-Geopolitik.

Anmerkungen

1. Löwith, K., Mensch und Geschichte, in: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen
Existenz. Stuttgart 21969, 159-178 (163).
2. Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1919.
3. Friedrich, H., Abendländischer Humanismus, in: Europa als Idee und Wirklichkeit. Freiburg 1955, 33-47
(46).
4. Löwith, K., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Tübingen 1983, 214.
5. Silnizki, M., „Die Maulwürfe der Geschichte graben blind“, in: ders., Vom „Kalten Krieg“ zur „heißen“
Konfrontation? Die letzten Zuckungen der US-Hegemonie. 27. Juli 2024, www.ontopraxiologie.de.
6. Barth, B./Osterhammel, J. (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18.
Jahrhundert. Konstanz 2005.
7. Conrad, J., Heart of Darkness, New York: Norton 2005.
8. Brunkhorst, H., Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie. Berlin 2014, 15 f.
9. Matthias, L. L., Die Kehrseite der USA. Rowohlt. 1964, 85.
10. Matthias (wie Anm. 9), 87; näheres dazu Silnizki. M., „Potentieller Freund im Rücken potentieller Feinde“?
Jahrhundert westliche Russlandpolitik. 8. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Näheres dazu Silnizki, M., Vom „Kalten Frieden“ zum „Kriegsfrieden“? Zwischen Hochmut und Ratlosigkeit.
17. August 2024, www.ontopraxiologie.de.

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