Die US-Außenpolitik zwischen Containment und Expansion
Übersicht
1. Kennan und die Gegenwart
2. Kennans Voraussage und der US-Expansionsdrang
Anmerkungen
„Dass die Dekadenz unserer Zivilisation mit dem Infantilismus unserer politischen
Kultur zusammentrifft – hat das nicht etwas unheimlich Sinnfälliges an sich?“
(George Urban)1
1. Kennan und die Gegenwart
„Falls die idealistische Komponente in der amerikanischen Politik jemals ein eigenständiger Faktor gewesen ist, so ist sie durch die Verbrechen und Fehler der jüngsten Zeit getrübt und eigentlich zunichte gemacht worden: Ich erinnere an Vietnam, an die Torheiten des CIA, an die Verletzung des demokratischen Prozesses à la Watergate usw.“2
Das Zitat stammte aus dem Jahr 1982 und dessen Urheber war kein geringerer als George F. Kennan (1904-2005) – ein US-Diplomat und Gesandter in Moskau (1944-1946), der im Februar 1946 aus der US-Botschaft sein berühmtes „langes Telegramm“ nach Washington sendete und damit einen radikalen Kurswechsel in der US-Außenpolitik der Truman-Administration – die sog. „Policy of containment“ – auslöste.
Gleich nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA 1933 wurde Kennan als einer der besten Kenner der Sowjetunion nach Moskau gesandt, wo er bis 1937 blieb und unmittelbar und hautnah den Stalin-Terror erlebte. Seitdem wurde er zu einem von Entsetzen und Abscheu ergriffenen Antistalinisten und blieb es als solcher auch sein Leben lang.
Nach dem unerwarteten Ableben des 32. US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 12. April 1945 übernahm Harry S. Truman die US-Präsidentschaft und vollzog rasch eine außenpolitische Kurskorrektur.
Von nun an durfte es weder Kompromisse noch Kooperationen mit Stalin in der Sicherung des Weltfriedens mehr geben, stattdessen gab es eine US-Außenpolitik, „die auf dem Axiom eines potentiellen weltweiten sowjetischen Expansionismus basierte.“3 Diesem Kurswechsel in der US-Außenpolitik ging ein Stimmungswandel voraus, der bereits ein fruchtbarer Boden für die Eindämmungspolitik bereitete.
In einem Brief an den US-Außenminister James F. Byrnes (1882-1972) vom 5. Januar 1946 schrieb Truman: „I`m tired of babying the Soviets“. Seinen Ärger erklärte er mit der seit der Potsdamer Konferenz entstandenen Situation folgendermaßen:
„In Potsdam sahen wir uns fertigen Tatsachen gegenüber und waren durch die Umstände geradezu gezwungen, die Besetzung Ostpolens durch die Russen und die Besetzung Schlesiens östlich der Oder durch die Polen gutzuheißen. Es war ein glatter Gewaltakt. Damals lag uns noch an der russischen Kriegsbeteiligung gegen Japan. Erst nachher stellten wir fest, dass wir Russland gar nicht gebraucht hätten, und seither haben uns die Russen dort nichts als Kopfschmerzen bereitet. In Moskau hast Du Dich jetzt hinsichtlich Irans wiederum einer fertigen Tatsache gegenübergesehen. Ein neuer Gewaltakt… Ich zweifle keinen Augenblick, dass Russland in die Türkei einmarschieren will, um sich der Meerengen zum Mittelmeer zu bemächtigen. Wenn man ihm nicht die eiserne Faust zeigt und die stärkste Sprache spricht, werden wir einen neuen Krieg erleben. Es gibt nur eine Sprache, die die Russen verstehen, nämlich: Wie viele Divisionen habt ihr? Ich glaube, wir sollten uns jetzt auf keine Kompromisse mehr einlassen. Wir müssen uns weigern, Rumänien und Bulgarien anzuerkennen, bis unsere Forderungen erfüllt sind; wir müssen unseren Standpunkt hinsichtlich Irans unmissverständlich zum Ausdruck bringen; wir müssen weiterhin auf der Internationalisierung des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der Wasserstraßen Rhein und Donau und der Meerengen bestehen; wir müssen die alleinige Kontrolle Japans und des Stillen Ozeans in der Hand behalten; wir müssen China auf die Beine stellen und ihm eine starke Zentralregierung geben und auch hinsichtlich Koreas festbleiben. Weiter müssen wir auf der Rückgabe unserer Schiffe beharren und Russland zu einer Regelung seiner Leih- und Pachtschulden zwingen.“4
Diese auf eine maximale Konfrontation und Eskalation ausgerichtete „Eindämmungspolitik“ stieß schließlich auf Kennans Missbehagen.
Als ein überzeugter Antistalinist war Kennan aber gleichzeitig ein Bewunderer des vorrevolutionären Russlands, was auch seine Affinität zur russischen Kultur erklärt. Inmitten des „Kalten Krieges“ schrieb er 1951: „Nirgendwo auf Erden hat das schwache Flämmchen des Glaubens an Würde und Barmherzigkeit des Menschen unsicherer in den Stürmen der Zeit geflackert als hier. Und doch ist es niemals erloschen; es leuchtet noch heute, sogar im Herzen des russischen Reiches, und wer den Kampf des russischen Geistes durch die Jahrhunderte verfolgt, kann nur voller Bewunderung sein Haupt neigen vor dem Volk, das dieses Licht durch alle Leiden und Opfer bewahrt hat.“5
Nicht zuletzt deswegen ist Kennan immer mehr zum scharfen Kritiker der US-Eindämmungspolitik geworden. „Es gab damals viele Leute bei uns“ – erinnert er sich viele Jahre später -, „und einer von ihnen war John Foster Dulles, die überzeugt waren, dass die einzige Methode, sich gegen die Sowjets durchzusetzen … im Aufbau eines enormen militärischen Potentials und in der Anwendung von Drohungen und Druck gegen Moskau bestand. … Washington war damals von der Vorstellung besessen, über den Kalten Krieg könne man nicht anders als in militärischen Begriffen nachdenken. Ich war über dies alles entsetzt … Ich war schockiert über die einfältige Denkweise, die sich der Menschen in diesem Lande bemächtigte: Sie machten sich ein Bild von Stalin, als sei er Hitler, und glaubten, die sowjetische Bedrohung sei dasselbe, wie es die Bedrohung durch die Nazis gewesen war.“6
Nichts hat sich seitdem im Wesentlichen geändert. Nach einer Entspannungspolitik der Nixon-Administration in den 1970er-Jahren und dem Tauwetter der 1990er-Jahre infolge des Untergangs des Sowjetreiches kehren wir zu einer an Stelle der ideologischen Systemkonfrontation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts getretenen geopolitischen Konfrontation des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts zurück, die mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine sogar an Fahrt gewonnen hat.
Heute verunglimpfen wir die russische Führung, namentlich Putin als „Wiedergänger Hitlers“ (Harald Müller) und schüren Angst in der Bevölkerung vor einem möglichen russischen Angriff auf die Nato-Staaten.
Dass wir an dieser ganzen Entwicklung nicht ganz unschuldig sind, möchten wir gar nicht wissen; dass unsere Außen- und Sicherheitspolitik am Kriegsausbruch in der Ukraine mitschuldig ist, möchten wir gar nicht hören. Wir sind ja fest davon überzeugt, dass wir alles richtig und nichts falsch gemacht haben. Verliebt in die eigene Selbstgerechtigkeit möchten wir weiter so machen, als wäre nichts passiert, und sehen gar nicht ein, dass unsere Militarisierung der Außenpolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“, die Nato-Osterweiterung und nicht zuletzt die zahlreichen US-Interventionen und Invasionen wesentlich zum Kriegsausbruch in der Ukraine beigetragen haben.
2. Kennans Voraussage und der US-Expansionsdrang
So wie das ganze Konzept einer sowjetischen Hegemonie über Osteuropa mit dem Ende des „Kalten Krieges“ gescheitert ist, so erweist sich heute das Konzept der geo- und sicherheitspolitischen Vorherrschaft der USA in Europa mit ihrer unlimitierten Nato-Osterweiterungspolitik seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine als gescheitert.
Die auf Expansion angelegte US-Geopolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat ohne die Einbeziehung der russischen Sicherheitsinteressen den EU-Europäern nicht mehr, sondern weniger Sicherheit gebracht.
Ohne die Berücksichtigung der vitalen Sicherheitsinteressen Russlands gibt es keinen Frieden mehr in Europa. „Es stünde uns erheblich besser an“ – sagte Kennan 1982 -, „wenn wir uns im Westen von der fixen Idee freimachen könnten, die Russen würden nur darauf brennen, uns mit ihren Bomben zu bewerfen, und stattdessen nachdächten, was mit unserem Planeten geschieht, um uns dann entschlossen und unverzüglich an die Aufgabe zu machen, die bevorstehende Katastrophe abzuwenden.“7
Um uns von der fixen Idee befreien zu können, müssen wir zunächst die außenpolitischen Intentionen des geopolitischen Rivalen begreifen lernen, statt einer Karikatur von ihm zu machen und der dadurch entstandenen eigenen propagandistischen Selbsttäuschung zu unterliegen und zu glauben, dass, wenn die beiden dasselbe sagen, sie auch dasselbe meinen.
Freilich mehren sich in der letzten Zeit die Anzeichen dafür, dass dieser Befreiungsschlag mit Trumps Wiederwahl zum 47. US-Präsidenten gelingen könnte. Und es wird mittlerweile auch immer öfter theoretisch vorgedacht, wie dieser Befreiungsschlag aussehen muss.
Neuerlich veröffentlichte The National Interest am 9. Dezember 2024 eine bemerkenswerte Schrift unter dem herausfordernden Titel „No Ukraine Settlement Unless Washington Talks to Moscow“ (Keine Einigung im Ukraine-Konflikt ohne Gespräche Washingtons mit Moskau). Der Verfasser ist ein angesehener Fellow des Council on Foreign Relations und ausgewiesener Russlandkenner, Thomas E. Graham. Er war von 2004 bis 2007 Sonderassistent des US-Präsidenten George W. Bush und leitender Direktor für Russland im Stab des Nationalen Sicherheitsrats, wo er einen strategischen Dialog zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml leitete.
Die Hauptaufgabe der künftigen Trump-Administration – schreibt Graham – werde nicht darin bestehen, die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen, sondern vielmehr darin, „einen nachhaltigen, substantiellen Dialog mit Russland über das gesamte Themenspektrum zu eröffnen.“
Es sei zwar aus US-amerikanischer Sicht „nachvollziehbar“, den Ukrainekrieg „als einen unprovozierten Akt imperialistischer Aggression Russlands gegen die Ukraine zu betrachten, der von der Wahnvorstellung des russischen Präsidenten Wladimir Putin angetrieben wird, die Ukraine sei Teil des russischen Erbes“ (as an unprovoked act of Russian imperial aggression against Ukraine driven by Russian President Vladimir Putin’s delusion that Ukraine is a part of Russia’s patrimony), schreibt Graham, um gleich darauf hinzuzufügen: „Die Realität sieht (aber) ganz anders aus“ (reality is quite different).
Aus russischer Sicht sei nämlich der Krieg lediglich das kleinste Problem eines vielschichtigen Konflikts zwischen Russland und dem Westen. Putins Intervention finde nicht nur deswegen statt, weil er glaube, dass die Ukraine zu Russland gehöre, sondern weil der Kreml auch entschlossen sei, die nach dem „Kalten Krieg“ geschlossene Vereinbarung zu revidieren, die Russland seiner Meinung nach in einer Zeit lähmender strategischer Schwäche aufgezwungen wurde und an den Rand Europas gedrängt habe.
Von welcher Revision der „geschlossenen Vereinbarung“ die Rede ist, bleibt Graham Geheimnis. Mit seinem Hinweis auf den Verlust der „Pufferzone in Osteuropa“ (the buffer zone in Eastern Europe) infolge der Nato- und EU-Osterweiterung sowie Russlands Verlust seiner „zentralen Rolle in Europa, die es über drei Jahrhunderte lang gespielt und als Großmacht definiert hat“, ignoriert Graham zudem die entscheidende Ursache des Ukrainekonflikts: die fehlende gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts.
Deswegen kommt er zwar zu einer zutreffenden Erkenntnis, dass Putin und die russische Machtelite die US-Russlandpolitik in den ersten Jahrzehnten nach dem „Kalten Krieg“ dahingehend interpretierten, „als ob diese nicht darauf abzielt, eine Partnerschaft mit Russland aufzubauen, wie die US-Führung erklärte, sondern vielmehr darauf, Russland als Großmachtkonkurrenten auszuschalten.“
Zwar stellt er ebenfalls mit Verweis auf Putins und Medwedews Äußerungen zutreffend fest, dass „Russlands Status als Großmacht der Kern seiner nationalen Identität ist“ (Russia’s status as a great power lies at the very core of its national identity).
„Russland war und wird eine Großmacht bleiben“ (Russia was and will remain a great power), zitiert Graham Putin und ergänzt dessen Äußerung mit Medwedews Credo: „Russland kann als starker Staat und als globaler Akteur existieren oder es wird überhaupt nicht existieren“ (Russia can exist as a strong state, as a global player, or it will not exist at all).
Indem Graham aber Russlands Kriegsgrund auf „die Struktur der europäischen Sicherheit und seinen Status als Großmacht“ (vgl.: „For Russia, the war with Ukraine is thus about the structure of European security and its status as a great power“) zurückführt, stellt er gleichzeitig ein Junktim zwischen Russlands Außen- und Sicherheitspolitik und dessen „Status als Great Power“ her.
Das ist einerseits nicht ganz von der Hand zu weisen. Russland geht es aber in diesem Krieg andererseits nicht um seinen „Status als Großmacht“, sondern in erster Linie um eine Wiederherstellung des Machtgleichgewichts bzw. eine Überwindung der machtpolitischen Dysbalance in Europa, die der US-Hegemon als Ordnungsprinzip der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung nach dem Ende des „Kalten Krieges“ etabliert hat.8
Immerhin weist Graham darauf hin, dass Russland Mitte Dezember 2021 mit Verweis auf die Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 drei sicherheitspolitischen Forderungen gestellt hat:
- den Stopp einer weiteren Nato-Expansion,
- einen Verzicht auf die Stationierung der Angriffswaffen, die das russische Territorium treffen könnten und
- einen Rückzug der Nato-Infrastruktur auf die Grenzen von 1997 vor dem Beginn der Nato-Osterweiterung.
Graham ignoriert freilich die Tatsache, dass die russische Führung sich bei ihren Forderungen ausdrücklich auf „ungeteilte Sicherheit“ als Grundpfeiler der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung berief, wie es in der Nato-Russland-Grundakte formuliert wurde:
„Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft unteilbar ist, werden die NATO und Russland zusammenarbeiten, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass in Europa gemeinsame und umfassende Sicherheit auf der Grundlage des Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten, Verpflichtungen und Verhaltensnormen im Interesse aller Staaten geschaffen wird.“
Die Ablehnung der drei Forderungen durch die Nato-Allianz war ausschlaggebend für Russlands Intervention in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund sieht Graham zu Recht „den einzigen Weg zu einer dauerhaften Lösung“ des Ukrainekrieges in einer „umfassenden Einigung über ein System der künftigen europäischen Sicherheit.“
Das setzte seiner Meinung nach „direkte Verhandlungen zwischen den USA und Russland voraus. Nur diese beiden Länder können die Sicherheitsvereinbarungen in Europa ändern. Ohne ihre Zustimmung werden keine Vereinbarungen Bestand haben“ (vgl.: critical negotiations will have to take place between the United States and Russia. Only those two countries can unilaterally alter security arrangements in Europe. No arrangements will hold absent their consent).
„Moskau würde solche Gespräche begrüßen,“ glaubt Graham zu wissen, um gleich hinzuzufügen: „Sie würden Russland als Großmacht legitimieren“ (They would legitimize Russia as a great power). Dieses ständige Gerede von Russland als „Great Power“ hat mit Russlands Intervention in der Ukraine nicht im Geringsten etwas zu tun. Russland legitimiert sich durch sich selbst als Großmacht und bedarf weder einer äußeren Legitimation9 noch einer Besetzung der Ukraine.
Was wir heute mit dem Ukrainekrieg erleben, ist weder ein Versuch zur Wiederherstellung des Russischen Reiches oder des Sowjetimperiums noch ein Bestreben, sich als Großmacht zu behaupten, sondern eine Kampfansage an das nach dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandene Machtungleichgewicht in Europa zwecks Gewährleistung der eigenen vitalen Sicherheitsinteressen.
Genau das verkennt aber Thomas Graham, wenn er die gegenwärtige Sicherheitskonstellation mit dem „Kalten Krieg“ vergleicht:
„Wie im Kalten Krieg wäre das Ziel die Stabilisierung der Nato-Russland-Grenze, die sich heute von der Barentssee über die Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Die Waffenstillstandslinie, die durch die Ukraine verläuft, würde Teil dieser längeren Grenze werden, wodurch der Teil der Ukraine, der westlich der Grenze liegt, de facto zu einem Sicherheitsbereich des Westens würde.“
Die Ukraine ist nicht Deutschland des „Kalten Krieges“ und es wird keine „Waffenstillstandslinie“ geben, die durch die Ukraine verläuft. Es kommt entweder zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung oder es wird keine Ukraine mehr geben.
In einem Punkt hat Graham freilich recht: Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass es einen Neustart in den Beziehungen zwischen Russland und den USA geben werde, die „eine strategische Partnerschaft“ ermöglichen würde. Es werde bestenfalls ein Versuch sein, die derzeit stattfindende gefährliche Eskalation, die zu einer direkten militärischen Konfrontation führen kann, „in ein Verhältnis der konkurrierenden Koexistenz oder konstruktiven Rivalität“ (into a relationship of competitive coexistence or constructive rivalry) zu verwandeln.
Die ganze Konfrontation hätte man sich allerdings sparen können, hätte man auf George F. Kennan gehört, der bereits vor einem Vierteljahrhundert die Clinton-Administration eindringlich vor der Nato-Expansionspolitik warnte: „Eine Ausweitung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“10
In einem dem bekannten New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman im Frühjahr 1998 gegebenen Interview fügte er hinzu: „Ich denke, dass die Nato-Osterweiterung der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist und dass die Russen darauf allmählich feindselig reagieren und ihre Politik in verschiedenen Fragen verändern werden. Ich glaube, das sei ein tragischer Fehler. Für eine solche Vorgehensweise bestand gar keine Notwendigkeit. Keiner hat jemanden bedroht … Ist es denn nicht offenkundig, dass wir während des Kalten Krieges allein mit dem Sowjetkommunismus Meinungsverschiedenheiten hatten? Jetzt aber kehren wir denjenigen den Rücken, welche die größte Revolution in der Geschichte ohne Blutvergießen realisierten, um das Sowjetregime zu beseitigen … Darin bestand das Ziel meines ganzen Lebens und es tut mir weh zu sehen, wie all das zunichte gemacht wird.“11
Diese Warnung haben die Clinton-Administration und die nachfolgenden US-Administrationen in den Wind geschlagen und Kennan ist als Prophet in die Geschichte eingegangen, der im eigenen Land nichts galt.
Anmerkungen
1. Urban, G., Gespräche mit Zeitgenossen. Acht Dispute über Geschichte und Politik. Basel 1982, 265.
2. Kennan, G. F., Machtpolitik in Ost und West, in: Urban (wie Anm. 1), 229-280 (247 f.).
3. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 115 f.
4. Zitiert nach Klaus Hornung, George F. Kennan und die Kurskorrektur der amerikanischen Außenpolitik nach
dem Zweiten Weltkrieg, in: ZfP 58. Jg., 1 (2011), 4-32 (14).
5. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353 (348).
6. Kennan (wie Anm. 2), 261.
7. Kennan (wie Anm. 2), 269.
8. Vgl. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Vgl. Silnizki, M., Russland als Großmacht. Im Lichte der Geschichte und Gegenwart. 8. Juni 2022,
www.ontopraxiologie.de.
10. Kennan, G. F., „A Fateful Error“, in: The New York Times, 5.2.1997, S. A23; zitiert nach Greiner, B.,
Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, 195, 171.
11. Zitiert nach Александр Крамаренко, Расширение НАТО: предистория >рокового решения<. Что делать?
25. Januar 2018.