Verlag OntoPrax Berlin

„Geopolitischer Pluralismus“

Brzezinskis Russland- und Ukraine-Strategie

Übersicht

1. Brzezinskis Ukraine-Strategie
2. Gesamteuropäisches versus euroatlantisches Sicherheitssystem
3. Die US-Russlandpolitik in Brzezinskis „Geostrategie für Eurasien“

Anmerkungen

„Die Geschichte bietet genügend Beispiele dafür, dass Vorherrschaftsstreben
in der Regel Gegenmachtbildung hervorruft.“
(Hans-Dietrich Genscher)1

1. Brzezinskis Ukraine-Strategie

In seinem 1997 veröffentlichten Werk „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“, das in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (Werk 1997) erschienenen ist, stellte Zbigniew Brzezinski seine berühmt gewordene These auf: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ – „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“ 

Nur wenige wissen, dass Brzezinski seine These im Werk 1997 bereits drei Jahre zuvor in einer am 1. März 1994 erschienenen Studie „The Premature Partnership“ (Studie 1994) in Foreign Affairs unter dem Schlachtwort „Geopolitischer Pluralismus“ formuliert hat: „It cannot be stressed strongly enough that without Ukraine, Russia ceases to be an empire, but with Ukraine suborned and then subordinated, Russia automatically becomes an empire“ (Es kann nicht stark genug betont werden, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr ist. Wenn die Ukraine aber bestochen und dann unterworfen wird, wird Russland automatisch zu einem Imperium).

In der Studie 1994 entwarf Brzezinski im Grunde alle geopolitischen Grundsätze für „Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, die dann im Werk 1997 als eine „Geostrategie für Eurasien“ ausführlich behandelt wurden. In der Studie 1994 setzte er sich kritisch mit der US-Russlandpolitik der Clinton-Administration auseinander und warf Clinton und seiner Mannschaft vor, viel zu sehr die russischen Interessen zu Lasten der anderen Staaten des postsowjetischen Raumes zu beachten, statt eine Strategie des „geopolitischen Pluralismus“ (geopolitical pluralism) zu verfolgen.

Was Brzezinski unter dem sog. „geopolitischen Pluralismus“ verstanden hat, hat er erst im Werk 1997 klargemacht. Man müsse eine solche Machtkonstellation in Eurasien schaffen, „dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.“ Diese geostrategische Zielsetzung der US-Außenpolitik setze laut Brzezinski die „Festigung des transkontinentalen geopolitischen Pluralismus“ voraus.2

Mit anderen Worten: Brzezinski strebte bereits 1994 (wenn nicht schon früher) die US-Hegemonialstellung in ganz Eurasien an, womit er, ohne Namen zu nennen, dasselbe forderte, was Paul D. Wolfowitz in seinem aufsehenerregenden Strategiepapiere von 1992 formulierte: Das Ziel der US-Außenpolitik sei „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien …“3

Vor allem die Förderung der ukrainischen Souveränität und Unabhängigkeit von Russland müsse nach Brzezinskis fester Überzeugung von der US-Außenpolitik priorisiert werden. Nur so könne das Ziel des „geopolitischen Pluralismus“ im postsowjetischen Raum und Eurasien erreicht werden. Denn der Aufbau der Ukraine als eines machtvollen Gegengewichts zu Russland diente für Brzezinski dazu, die imperialen Ambitionen Russland, die latent vorhanden seien, einzudämmen bzw. zu neutralisieren.

Brzezinskis These: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr“ hat darum einen rein instrumentellen Charakter – als Instrument zur Eindämmung der russischen imperialen Ambitionen. Diese neue Eindämmungsstrategie nach dem Ende des Sowjetkommunismus hängte damit zusammen, dass Brzezinski mit großem Misstrauen und Distanz den Prozess der Demokratisierung in Russland verfolgte.

„Leider deuten zahlreiche Hinweise darauf hin, dass die kurzfristigen Aussichten auf eine stabile russische Demokratie nicht sehr vielversprechend sind“, schrieb er in der Studie 1994. Vor diesem Hintergrund formulierte er seine grundsätzlichen Bedenken, die er in einer prägnanten Formel zusammenfasste: „Russia can be either an empire or a democracy, but it cannot be both“ (Russland kann entweder ein Imperium oder eine Demokratie sein, aber nicht beides).

Diese Kernaussage der Studie erklärt mit aller nötigen Klarheit sowohl seine Ukraine-These als auch seine „Geostrategie für Eurasien“:

Um das postsowjetische Russland von seiner imperialen Tradition abzubringen, muss es demokratisiert werden, was ein Aufbau des „geopolitischen Pluralismus“ im postsowjetischen Raum erforderlich macht. Um dieses Ziel zu erreichen muss man die Ukraine stark, d. h. souveräner und von Russland unabhängiger machen, um sie als Gegengewicht zu Russland aufzubauen.

Dieser Gedankengang von Brzezinski ist das Fundament, worauf er eine „Geostrategie für Eurasien“ in seinem späteren Werk 1997 gründet. Denn Brzezinski geht es letztlich nicht um die Ukraine. Diese ist nur ein Instrument der „Eindämmungsstrategie“ (strategy of containment) Russlands, was er am Ende seiner Studie 1994 freimütig einräumt. Und der Aufbau des sog. „geopolitischen Pluralismus“, d. h. die Förderung der Machtzersplitterung im postsowjetischen Raum, soll im Sinne des altehrwürdigen Mottos: „Teile und herrsche“ dazu dienen, Russlands imperiale Vergangenheit zu überwinden.

Am Ende des Weges war diese von der US-Außenpolitik umgesetzte Geostrategie Zbigniew Brzezinskis insofern ein voller „Erfolg“, als es den USA nicht nur gelungen ist, aus der Ukraine ein Anti-Russlandprojekt zu machen, sondern die Ukraine auch als Feindesland gegen Russland in Stellung zu bringen und einen brutalen Krieg in der Ukraine zu provozieren.

2. Gesamteuropäisches versus euroatlantisches Sicherheitssystem

Ungeachtet seines geostrategischen Weitblicks bleibt Brzezinski in den 1990er-Jahren ein Mann des „Ost-West-Konflikts“. Die formulierte Alternative Imperium oder Demokratie zeigt, dass er die axiologische Offensive des „Westens“ im postsowjetischen Raum aus der Perspektive eines ideologischen Systemwettbewerbs des „Kalten Krieges“ betrachtet, miteinander vermengt und anschließend geopolitisiert.

An Stelle der ideologischen Systemkonfrontation „Kommunismus versus Kapitalismus“ tritt nunmehr die westliche Axiologie, womit Russland als demokratisch oder undemokratisch bewertet wird und wodurch der „Westen“ seine geo- und sicherheitspolitische Vorgehensweise zu legitimieren versucht. Damit wird aber die US-Geo- und Sicherheitspolitik derart axiologisch überfrachtet, dass Brzezinskis „Geostrategie für Eurasien“ letztendlich in eine Sackgasse führt.

Dass sich hinter der Demokratie-Rhetorik zudem ein alter Haudegen des „Kalten Krieges“ verbirgt, verrät Brzezinski selber, als er mit Unbehagen fragt: Wenn „Russland kein Gegner mehr ist, ist es dann bereits ein Verbündeter?“ (Studie 1994). Frontal greift er die US-Russlandpolitik der Clinton-Administration an, der er vorwirft, die Eindämmungspolitik des „Kalten Krieges“ durch „eine Partnerschaft mit einem demokratischen Russland“ zu substituieren.

Nichts spreche aber dafür, dass Russland sich demokratisiere, ist Brzezinski überzeugt. Denn die historische Erfahrung und die desaströse ökonomische, soziale und politische Lage im postsowjetischen Russland der 1990er-Jahre spreche gegen eine solche „Partnerschaftsstrategie“.

Die gleichen Bedenken äußert Brzezinski auch in seinem Werk 1997: „Die Vorstellung von einer vollentwickelten strategischen Partnerschaft war ebenso schmeichelhaft wie irreführend. Amerika verspürt keinerlei Neigung, seine Weltmacht mit Russland zu teilen, das wäre auch völlig unrealistisch gewesen. Das neue Russland war einfach zu schwach“ und „die vollentwickelte strategische Partnerschaft (musste) angesichts des zwischen den USA und Russland bestehenden Ungleichgewichts in politischer Macht, Finanzkraft, technologischen Innovationspotential und kulturellen Attraktion hohl erscheinen – und bei immer mehr Russen verstärkte sich der Eindruck, als sei diese Formel bewusst dazu bestimmt, Russland hinters Licht zu führen.“4

Russland ist für Brzezinski weder ein gleichwertiger Rivale mehr (wie zurzeit der Sowjetunion) noch ein gleichberechtigter Partner in der Gegenwart, weil es politisch, ökonomisch, technologisch und militärisch viel zu schwach ist. Von einer Partnerschaft unter Gleichen kann darum gar keine Rede sein.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich Brzezinski bereits 1994 enttäusch darüber, dass die Clinton-Administration das richtige Timing verpasst hat, die Nato-Osterweiterung mit Russlands Zustimmung durchzusetzen.

Die Enttäuschung wiederholt er auch im Werk 1997: „Der richtige Zeitpunkt dafür wäre im zweiten Halbjahr 1993 gewesen, unmittelbar nachdem Jelzin im August Polens Interesse an einem Beitritt zur transatlantischen Allianz als mit den Interessen Russlands vereinbart gebilligt hatte.“5

Diese Äußerung bestätigt die Vermutung, dass Brzezinski bereits sehr früh (spätestens aber seit 1993), ein vehementer Befürworter der Nato-Osterweiterungspolitik war. Der Grund lag wohl in der doppelten Zielsetzung seiner „Geostrategie für Eurasien“: (1) eine geopolitische Pluralisierung des postsowjetischen Raumes, in deren Mittelpunkt die Stärkung der ukrainischen Souveränität und deren Unabhängigkeit vom russischen Einfluss stehen, sowie (2) die Nato-Expansionspolitik zwecks Ausweiterung der US-Hegemonie auf ganz Eurasien.

Was nun Jelzins angebliche Zustimmung zu Polens Nato-Beitritt angeht, so stellt sich der Sachverhalt ganz anders dar, als Brzezinski antifaktisch beteuert. Jelzin hatte mit seiner unüberlegten Äußerung im August 1993 in Warschau eine breite Debatte über eine mögliche Nato-Erweiterung ausgelöst, in der er das Recht der Länder in der Schlussakte von Helsinki anerkannte, ihre Bündnisse zu wählen, und „offenbar >grünes Licht< für die Nato-Expansion zu geben schien.“

In dem „grünen Licht“-Dokument der USA heißt es allerdings, dass Moskau fast sofort damit begonnen hat, „seine Position zu >verfeinern<“. Jelzins Brief an Clinton vom 15. September 1993 brachte seine „Beunruhigung“ über eine „quantitative Expansion“-Diskussion zum Ausdruck und befürwortete nachdrücklich statt Nato „ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem“ (a pan-European security system instead of NATO).

Jelzin warnte: „Nicht nur die Opposition, sondern auch die gemäßigten Kreise in Russland würden dies zweifellos als eine Art Neoisolationismus unseres Landes wahrnehmen, der im diametralen Widerspruch zu seiner natürlichen Aufnahme in den euroatlantischen Raum (into Euro-Atlantic space) steht.“ Zugleich wies er darauf hin, dass „der Geist“ des deutschen Einigungsvertrags „die Option einer Ausweitung der Nato-Zone nach Osten ausschließt.“6

Freilich gesteht Brzezinski selber freimütig ein, dass Russlands „Opposition gegen eine Nato-Osterweiterung zur Schließung des Sicherheitsvakuums in Mitteleuropa verständlich ist“ (Studie 1994). „Wie man zugeben muss“ – wiederholte er sein Eingeständnis auch im Werk 1997, S. 149 -, „waren nicht alle russischen Bedenken gegen eine Nato-Erweiterung aus der Luft gegriffen oder böswilliger Natur.“

Dessen ungeachtet beharrte Brzezinski vehement auf die Nato-Osterweiterungspolitik. Als ein weitsichtiger Geostratege war er erfahren genug, um zu wissen, dass das hinterlassene Machtvakuum, das er euphemistisch als „Sicherheitsvakuum in Mitteleuropa“ bezeichnete, von wem auch immer gefüllt werden muss. Wenn das nicht die USA tun würden, würde es Russland oder eine andere Gegenmacht früher oder später tun.

Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, entwirft Brzezinski im Werk 1997 eine „Geostrategie für Eurasien“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

3. Die US-Russlandpolitik in Brzezinskis „Geostrategie für Eurasien“

In seinem Entwurf für eine „Geostrategie für Eurasien“ identifiziert Brzezinski „die drei bislang nie dagewesenen Bedingungen“, die „das Weltgeschehen“ derzeit geopolitisch bestimmen. Dreh- und Angelpunkt dieser „das Weltgeschehen“ prägenden Bedingungen seien die USA (1) als eine einzig verbliebene Supermacht, (2) als „ein außereurasischer Staat“, der die globale Vormachtstellung innehabe, und (3) als eine „außereurasische Macht“, die den „zentralen Schauplatz der Welt, Eurasien“ dominiere (S. 281 f.).

Dass die USA in den 1990er-Jahren eine unangefochtene „Weltmacht ohne Gegner“ waren, steht außer Zweifel. Dass sie aber Eurasien dominierten, entsprach eher Brzezinskis geostrategischer Zielsetzung denn der geopolitischen Realität Eurasiens der 1990er-Jahre. Bis heute bleibt es ein frommer Wunsch und ein unerfüllter Traum der US-Geostrategen, der auch nicht mehr in Erfüllung gehen wird.

Woran ist aber dieser geostrategische Traum von Zbigniew Brzezinski gescheitert? Er ist daran gescheitert, wovor Hans-Dietrich Genscher im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Werkes gewarnt hat: an der „Gegenmachtbildung“. Diese Gegenmachtbildung fand als Folge der exzessiven und nie enden wollenden US-Expansionsbestrebungen statt, die ein Machtgleichgewicht in Europa und Eurasien in übermäßiger Weise verletzten, die Gegenmächte Russland und China provozierten, gegen sich in Stellung brachten und schließlich zum entschiedenen Widerstand herausforderten.

Auch Brzezinski selber sah die Gefahr der Gegenmachtbildung klar und deutlich, als er darauf hinwies, dass „die beispiellose Macht der USA mit der Zeit notgedrungen abnimmt“ und es in erster Linie darum geht, „mit dem Aufkommen anderer regionaler Mächte so zurechtzukommen, dass Amerikas globale Vormachtstellung nicht bedroht wird“ (S. 282).

Brzezinskis Warnung wurde freilich im darauffolgenden Vierteljahrhundert komplett ignoriert und nicht ernstgenommen. Zudem konnte er unmöglich davon ausgehen, dass genau das eintritt, wovor er dringend gewarnt hat:

„Es ist nicht anzunehmen, dass ein demokratisches Amerika sich auf Dauer der schwierigen, aufreibenden und kostspieligen Aufgabe zu widmen gewillt sein wird, Eurasien durch dauerndes Taktieren und Manipulieren in den Griff zu bekommen, und dabei weltweit seine militärischen Ressourcen einsetzt, um die regionale Dominanz irgendeiner Macht zu verhindern.“ Die erste Phase einer Sicherstellung, dass kein Staat die Fähigkeit erlange, die USA aus Eurasien zu vertreiben, müsse in die zweite übergeleitet werden, „in der eine friedliche Hegemonie der USA andere auch weiterhin davon abhält, diese in Frage zu stellen, weil zum einen der Preis, den sie dafür bezahlen müssten, zu hoch ist und zum anderen Amerika die vitalen Interessen derer, die in Eurasien regionale Zielsetzungen verfolgen, nicht bedroht.“7

Aber genau das ist eingetreten, was Brzezinski „nicht anzunehmen“ hoffte. Ein „demokratisches Amerika“ hat in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht nur die aufreibenden und kostspieligen Kriege, bei denen schätzungsweise acht bis neun Billionen Dollars ausgegeben wurden, „um die regionale Dominanz irgendeiner Macht zu verhindern“, sondern auch eine unipolare Weltordnung errichtet, die nie friedlich war und in der die USA auch keine „friedliche Hegemonie“ ausübten.

Die USA haben darüber hinaus die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands als „Regionalmacht“, wie Obama es 2014 verhöhnte, in eklatantester Weise verletzt.

Obama, seine Vorgänger wie Nachfolger hatten allerdings weder die Größe noch einen geostrategischen Weitblick, um die ganze Tragweite ihrer deplatzierten Verhöhnung und Geringschätzung eines mächtigen geopolitischen Rivalen, der mehr als nur eine „Regionalmacht“ war und ist, zu begreifen. Es bewahrheitet sich erneut, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Heute ernten die USA die Früchte ihres Hochmuts mit einem nahenden Ende ihrer friedlosen Hegemonie.

Denn die „Regionalmächte“ Eurasiens – Russland und China – sind in ihrer Gegenmachtbildung derart weit vorangekommen, dass den USA nichts anderes übrigbleiben wird, als ihre globale Führungsrolle früher oder später aufzugeben bzw. als Regionalmacht degradiert zu werden.

Freilich war Brzezinski nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung, hat er doch selber kompromisslos für die Expansion des transatlantischen Bündnisses plädiert und dezidiert die Auffassung vertreten, dass „ein größeres Europa und eine erweiterte Nato den kurz- und längerfristigen Zielen der US-Politik durchaus dienstlich sind“ (S. 284).

Mehr noch: Eindringlich warnte er vor der Rückkehr der imperialen Ambitionen Russlands, sollte eine „von den USA getragene Bemühung, die Nato auszudehnen“, scheitern. „Es ist noch keineswegs klar ersichtlich …, ob die politische Elite Russlands Europas Wunsch nach einer starken und dauerhaften politischen und militärischen Präsenz der USA teilt“, fügt Brzezinski (ebd., 286) gleich hinzu und erweist sich damit als ein vehementer Verfechter nicht nur der US-Expansionspolitik, sondern auch als ein klarer Befürworter der Hegemonialstellung der USA als Ordnungsmacht in Europa.

Denn es sei wichtig zu betonen, „dass Amerika über seine globalen Prioritäten keinen Zweifel aufkommen lässt. Sollte zwischen einem größeren euroatlantischen System und einer besseren Beziehung zu Russland eine Wahl getroffen werden müssen, hat ersteres für Amerika weitaus höher zu rangieren. Aus diesem Grund sollte keine Vereinbarung mit Russland über die Frage einer Nato-Erweiterung darauf hinauslaufen, dass Russland de facto am Entscheidungsfindungsprozess des Bündnisses beteiligt wird und dadurch den spezifisch euroatlantischen Charakter der Nato aufweicht, während deren neu aufgenommenen Mitglieder zu Staaten zweiter Klasse degradiert werden.“8

Die zitierte Passage zeigt mit aller Deutlichkeit, worum es Brzezinski samt des außenpolitischen US-Establishments nach dem Ende des Ost-West-Konflikts tatsächlich ging: Es ging von Anfang an nicht um „ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem“, wie es die russische Führung unter Jelzin forderte, sondern einzig und allein um eine euroatlantisch dominierte Sicherheitsordnung in Europa. Diese Sicherheitsideologie setzt sich bis heute im euroatlantischen Bündnis fort.

Das Blockdenken des „Kalten Krieges“ hat die geo- und sicherheitspolitische Entwicklung im Europa der vergangenen dreißig Jahre geprägt und ist der eigentliche Casus knacksus des Konflikts zwischen Russland und den Nato-Staaten, der letztendlich auch zum Ukrainekrieg geführt hat.

Denn Russland hat sich nicht nach dem Motto abspeisen lassen: „Mitwirkung ja – Mitsprache nein“, wie Egon Bahr und Reinhard Mutz Jahre später „das westliche Verständnis der sicherheitspolitischen Rolle Russlands in Europa“ charakterisiert haben.9

Nicht die von Brzezinski geforderte Beachtung der „vitalen Interessen“ Russlands, sondern einzig und allein die US-Expansionspolitik zur Etablierung eines „größeren euroatlantischen Systems“ in Europa bzw. Eurasien steht im Mittelpunkt seiner Geostrategie, die – wie man heute weiß – gescheitert ist.

Statt „die neu aufgenommenen Mitglieder zu Staaten zweiter Klasse“ degradieren zu lassen, sollte nach der euroatlantischen Sicherheitsideologie lieber Russland die Sicherheit zweiter Klasse erhalten. Dass diese euroatlantische bzw. US-amerikanische Geo- und Sicherheitspolitik in Europa und Eurasien nur scheitern konnte, haben die Transatlantiker bis heute nicht begriffen.

Vor diesem Hintergrund erscheint Brzezinskis Forderung nach Beachtung der „vitalen Interessen derer, die in Eurasien regionale Zielsetzungen verfolgen“, nichts weiter als Lippenbekenntnisse. In Zeiten des Ukrainekonflikts und der von ihm ausgelösten geopolitischen Revolution10 zeigt sich, dass Brzezinskis „Geostrategie für Eurasien“ aus dem Jahr 1997 nicht mehr zeitgemäß, anachronistisch geworden und auf der ganzen Linie gescheitert ist.

Seine beiden geostrategischen Ziele: „weltweit Anarchie zu verhindern und das Emporkommen eines Rivalen um die Macht zu vereiteln“ (S. 305) klingen heute als Ziele aus einer Science-Fiction-Welt einer längst vergangenen Epoche, die nicht mehr reanimierbar ist.

Wer auch immer noch davon träumt, die glorreichen Zeiten der US-Hegemonie der 1990er-Jahre aus der Versenkung zu holen und zum neuen Leben zu erwecken, der befindet sich in einer guten Gesellschaft mit den Sowjetnostalgikern, die ihrerseits dem Untergang der Sowjetunion nachtrauern. In der letzten Zeit wurden indes Stimmen laut, die die USA mit dem Sowjetimperium in seinem Endstadium vergleichen.

So fragte der britische Journalist Owen Jones in The Guardian am 17. Juli 2024: „Has the US entered its late Soviet phase?“ Und seine Antwort lautet: Das Land sei eine Gerontokratie, die von kränkelnden Führern geführt werde; es sei eine schwächelnde Supermacht und sein Wirtschaftssystem hat Mühe, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung zu erfüllen. „Die Ähnlichkeiten sind ein wenig unheimlich“ (The similarities are a little uncanny).

Wer wie das Sowjetimperium seine Macht überdehnt und die Grenzen der eigenen Macht nicht mehr erkennt, muss beinahe zwangsläufig das gleiche Schicksal wie das Sowjetsystem erleiden. Unheimlich? Wohl kaum! Hans-Dietrich Genscher hatte da, wie eingangs zitiert, eher schon recht mit seinem Hinweis, dass „das Vorherrschaftsstreben in der Regel Gegenmachtbildung hervorruft“.

Und genau das ist heute eingetreten. Die Gegenmächte der Gegenwart haben mittlerweile genügend Kraft, um das US-Hegemonialgebäude zum Fall zu bringen. Und diese Entwicklung ist irreversibel.

Anmerkungen

1. Genscher, H.-D., Vorwort, in: Brzezinski, Z., Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.
Aus dem Amerikanischen Angelika Beck. Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher. Frankfurt 21999,
13.
2. Brzezinski (wie Anm. 1), 283.
3. Kubbig, B. W., Wolfowitz` Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK
7 (2004).
4. Brzezinski (wie Anm. 1), 148.
5. Brzezinski (wie Anm. 1), 149.
6. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
7. Brzezinski (wie Anm. 1), 283.
8. Brzezinski (wie Anm. 1), 286.
9. Zitiert nach Silnizki, M., Eine verhängnisvolle Entwicklung. Die US-Ukrainepolitik als Anti-
Russlandpolitik. 14. Juli 2024, www.ontopraxiologie.de.
10. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.

Nach oben scrollen