Lothar Rühls Sicherheitsanalyse der 1990er-Jahre
Übersicht
1. Sicherheitspolitisches Credo
2. Russlands „Konterstrategie“ der „klassischen Geopolitik“
3. „Russischer Revisionismus“ statt „saturierter Status-quo-Macht“?
4. Geopolitische Situation der 1990er-Jahre
5. „Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“?
Anmerkungen
„Sicherheitsfragen sind Machtfragen. Sie bleiben auch am Ende
des Jahrhunderts zentral … Verteidigung vor Russland oder
Sicherheit mit Russland – das wird die Alternative.“
(Egon Bahr, 1994)
1. Sicherheitspolitisches Credo
„Hazardspiel“ nannte einer der bedeutendsten deutschen Geopolitiker der Nachkriegszeit, Lothar Rühl (Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, 1982-1989), 1998 jede Voraussage über den Aufbau einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur.“1 Ein Vierteljahrhundert später können wir sicher davon ausgehen, dass von einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ gar keine Rede mehr sein kann. Heute können wir froh sein, wenn es überhaupt irgendeine Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa gibt.
Bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wurde immer deutlicher, dass Russland und der Westen sicherheitspolitisch nicht im gleichen Schritt und Tritt marschieren. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen von einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung und zu ungleich war die Macht zwischen den ehem. ideologischen Systemkonkurrenten und geopolitischen Rivalen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verteilt.
Konzentrierte sich die US-Geo- und Sicherheitspolitik in erster Linie auf die Nato-Osterweiterung zwecks Auf- und Ausbaus der US-Vormachtstellung als gesamteuropäische Ordnungsmacht, die eine gleichwertige und gleichberechtigte Machtstellung Russlands von vornherein ausschloss, so war das postsowjetische Russland bestrebt, eine neue Machtbalance entweder innerhalb der Nato-Allianz als gleichberechtigter Partner zu erreichen oder außerhalb des Nato-Bündnisses eine solche sicherheitspolitische Konstruktion zu schaffen, die die Nato überflüssig gemacht hätte.
Wäre Russland zum Nato-Mitglied geworden, so hätte es den Sinn und Zweck der Nato-Allianz, die aus der Zeit des „Kalten Krieges“ stammten, grundlegend verändert und den US-Hegemonialanspruch, die gesamteuropäische Ordnungsmacht zu werden, vereitelt.
Deswegen spekulierte Rühl darauf, dass Russland in diesem Falle „zum eigenen Vorteil“ als „Mitglied der EU und der Nato“ die „Militärallianz … in ein Instrument der OSZE für ein >kollektives Sicherheitssystem<“ hätte radikal verwandeln können.
Immer noch in der Logik des „Kalten Krieges“ gefangen, sah er darin unweigerlich eine akute Gefahr für die Existenz der Nato als westliches Sicherheitsbündnis. Beides gleichzeitig ging in der Tat nicht: Entweder sollte die Nato-Allianz ein westliches Sicherheitsbündnis bleiben, dann gäbe es keine gesamteuropäische Sicherheitsordnung oder müsste sie einen radikalen Wandel vollziehen, um ein gesamteuropäisches, sprich: „kollektives Sicherheitssystem“ zu werden, dann wäre sie aber keine westliche Militärallianz mehr.
Als „Siegermacht“ des „Kalten Krieges“ entschied sich der Westen für eine dritte Lösung: Die Nato bleibt als eine westliche Militärallianz bestehen und reklamiert gleichzeitig für sich die Alleinzuständigkeit für den Auf- und Ausbau der „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“.
Diese Selbstermächtigung zur einzig legitimen Gestaltungsmacht in Fragen der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung wurde zum sicherheitspolitischen Credo der Nato-Allianz. Der Logik des Ost-West-Konflikts folgend, ignoriert sie bis heute die Tatsache, dass der sog. „Westen“ als Kampfbegriff des „Kalten Krieges“ seit dem Untergang des Sowjetimperiums – rein geographisch gesehen – zu einem Teil Europas unter vielen wurde, der nur zusammen mit dem befreiten Mittelosteuropa und einem russischen Rumpfimperium ganz Europa repräsentiert, das im Begriff war, ein gesamteuropäischer Sicherheitsraum zu werden, aber bis heute immer noch nicht geworden ist.
Dass das sicherheitspolitische Credo der „westlichen“, genauer: euroatlantischen Militärallianz, längst zum Menetekel der gesamteuropäischen Sicherheit geworden ist, zeigt der seit beinahe drei Jahren tobende Krieg in Europa. Dass eine sicherheitspolitische Alternative deswegen vonnöten wäre, wird von den Transatlantikern nach wie vor schroff zurückgewiesen.
Offenbar leben sie immer noch in den „glorreichen“ 1990er-Jahren und wollen nicht wahrhaben, dass sich die Welt ein Vierteljahrhundert später zu Lasten der Weltmachtstellung des „Westens“ dramatisch verändert hat und dass dieser Prozess unumkehrbar geworden ist.
2. Russlands „Konterstrategie“ der „klassischen Geopolitik“
In den 1990er-Jahren sah es allerdings noch ganz anderes aus. Die USA waren der unumstrittene Hegemon und auf der Höhe der Macht, wohingegen Russland hilf- und machtlos zuschauen musste, wie der Madrider Nato-Gipfel Anfang Juli 1997 mit der Erklärung über die Bündnisöffnung nach Osten und der Einladung von drei ehemaligen Verbündeten Moskaus die Beitrittsverhandlungen in Gang setzte.
Jelzin und seinem Premier Viktor S. Černomyrdin (1992-1998) blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und öffentlich Vorschläge für eine Begrenzung der Nato-Osterweiterung auf drei Länder und eine besondere „Sicherheitszone von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“ mit einem „blockfreien Status“ zu unterbreiten.
Das war – wie Lothar Rühl es prägnant formulierte – Russlands „Konterstrategie“ zur Nato-Osterweiterung, die letztlich auf eine sicherheitspolitische Neutralisierung westlicher „Randländer“ jenseits der Grenzen Russlands hinauslief. Diese „Konterstrategie“ bezeichnete Rühl als „altes Grundmuster traditioneller russischer und sowjetischer Strategie mit den territorialen Kategorien der klassischen Geopolitik“.
Zu Recht bezweifelte Rühl, dass Jelzin/Černomyrdins machtlose „Konterstrategie“ überhaupt durchsetzbar sei. Er musste ja wissen, wovon er redet, wenn er von „traditioneller russischer und sowjetischer Strategie mit den territorialen Kategorien der klassischen Geopolitik“ sprach. Denn was Rühl 1998 als eine traditionelle russisch-sowjetische Strategie der klassischen Geopolitik charakterisierte, nannte er siebzehn Jahre zuvor 1981 die „Stalinsche Kontinentalmachtstrategie“.2
Wertschätzend sprach er in seiner anspruchsvollen und lesenswerten Abhandlung „Russlands Weg zur Weltmacht“ von Stalin, der „in seiner besten Zeit ein großer Politiker, einer der bedeutendsten Staatsmänner der neueren Geschichte“ war. Stalin war nach Rühls Meinung „ein kontinental denkender Politiker, der nicht sehr weit über die geographische Peripherie der Sowjetunion hinaussah. Stalins strategische Konzeption blieb auf die traditionelle Moskauer Expansionspolitik der kleinen Schritte auf das Vorfeld beschränkt … Wie Iwan I. Kalita oder Iwan III. zog Stalin es vor, leicht beherrschbare Vasallenstaaten an der russischen Grenze zu bilden und den russischen Machtbereich … auszudehnen.“3
Diese „klassische Kontinentalhegemonie der Stalinschen Epoche“, die Nikita S. Chruščov nach seiner Machtübernahme aufgegeben hat und zu „offensiver Weltpolitik“ übergegangen ist4, nannte Rühl 1998 die russisch-sowjetische Strategie der klassischen Geopolitik.
Chruščovs Versuch, „Weltpolitik zu machen,“ scheiterte allerdings, „weil die Mittel nicht ausreichten und weil er dabei die Sowjetunion ohne Deckung in Gefahr brachte. Seine dynamische Offensive gegen die amerikanische Weltmacht hatte Erfolge in Indien, im Nahen Osten und in Berlin, stellte aber in Kuba die Schwächen der Sowjetunion mit Eklat bloß“ (S. 416).
Chruščov traf damit eine fatale geostrategische Entscheidung, die dem Sowjetimperium samt seiner kommunistischen Ideologie letztlich zum Verhängnis wurde. Das Sowjetimperium hat sich infolge seiner imperialen Überdehnung ökonomisch und ideologisch übernommen, kollabiert sodann und anschließend zerfiel.
Vor dem Kollaps und Zerfall lagen dreißig Jahre der sowjetischen Expansions- und Weltmachtpolitik. Nach Chruščovs Abdanken war nämlich ein „Rückzug Russlands auf sich selber, eingeschlossen in der Großmachtfestung, die Stalin gebaut hatte, … nicht mehr möglich“ (S. 439). Erst mit Putin kehrte Russlands Geopolitik zur „Stalinschen Kontinentalmachtstrategie“ zurück.5
3. „Russischer Revisionismus“ statt „saturierter Status-quo-Macht“?
Jelzin/Černomyrdins Versuch, mit der „Konterstrategie“ die Nato-Osterweiterung zu verhindern, betrachtete Rühl als aussichtsloses Unterfangen. Dem Versuch gab er zu Recht keine Chance auf Realisierbarkeit, zu schwach war Jelzins Russland der 1990er-Jahre.
Russland stieß nach dem Verlust seiner westlichen Randgebiete und Zentralasiens im Osten wie im Westen und Süden an US-amerikanische Einfluss- und Interessensphären. Mit dem Untergang des Sowjetimperiums büßte Russland zahlreiche Verbündete und den Cordon sanitaire im Mittelosteuropa ein.
Russlands Westgrenze ist dadurch „zwischen 600 Kilometer im Norden und 1.300 Kilometer im Süden auf die Moskowiens Ende des 16. Jahrhunderts zurückgefallen. Alle späteren Gebietsgewinne gingen mit dem Ende der UdSSR 1991 verloren. … Auf der Gegenseite bestehen auch nach dem Ende der Weltmachtkonfrontation die amerikanischen Einflusssphären und Allianzen fort.“
Vor diesem sicherheitspolitischen Hintergrund war Russlands Geopolitik der 1990er-Jahre im Sinne von Stalins Kontinentalmachstrategie undurchführbar. Das ökonomisch und militärisch geschwächte Russland wurde tendenziell zu „Kooperation mit der Nato zu westlichen Konditionen“ zwecks eigener Schadenbegrenzung gezwungen, stellte Rühl 1998 zutreffend fest und meinte anschließend ganz unbefangen und ehrlich, ohne etwas zu beschönigen:
„Mit dem euro-atlantischen, d.h. amerikanischen Vorzeichen wird das Prinzip der >gleichen Sicherheit< durch eine Abstufung von West nach Ost in der Bedeutung der Partner relativiert (obwohl es von der Nato proklamiert wird). Russland steht in seiner Sonderbeziehung zu der sich erweiternden Nato als externer Partner in der >gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur< nicht auf derselben Stufe mit den USA, allenfalls mit der Nato als dem westlichen Fundament der europäischen Sicherheit.“
Mit anderen Worten: Die Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997, die ausdrücklich „ungeteilte Sicherheit“ zur Grundpfeile einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung erklärte, wurde von den Nato-Staaten nicht ernstgenommen und von Rühl bereits ein Jahr nach deren Unterzeichnung offen in Frage gestellt und sicherheitspolitisch als „eine Abstufung von West nach Ost in der Bedeutung der Partner relativiert“.
Auf diese Relativierung deutete bereits die „Konstruktion der IFOR/SFOR in Bosnien-Herzegowina hin, die zwar mit russischer Beteiligung, aber ausschließlich in Nato-Regie „auf die Grenzen russischer Selbständigkeit in einem solchen Rahmen“ verwies, konstatierte Rühl und gab anschließend unumwunden zu: „Die 1995-97 gefundenen kooperativen Strukturen (werden) in Moskau als eine für Russland noch keineswegs befriedigende Lösung angesehen.“
Geradezu prophetisch in die Zukunft blickend, stellt Rühl deswegen besorgt fest:
„Russland beteiligt sich … seit 1992 an der europäischen Sicherheitsgestaltung keineswegs als eine resignierte, geschweige denn saturierte Status-quo-Macht, sondern wird die Machtverteilung korrigieren wollen: Ein neuer russischer Revisionismus ist zu erwarten.“
Vor dem Hintergrund einer bewussten Relativierung der russischen Sicherheitsinteressen war Moskaus „Revisionismus“ in der Tat vorprogrammiert. Wie kein anderer deutscher Geopolitiker der Nachkriegszeit kannte Rühl (geb. 1927) die russisch-sowjetische Geschichte mit ihrer imperialen Tradition und wie kein anderer musste er wissen, dass man Russland immer ernstnehmen sollte.
„Im Aufstieg zur Weltmacht war der Niedergang schon beschlossen,“ schrieb er 1981 mit Verweis auf die gescheiterte expansive Weltmachtstrategie der Sowjetunion seit Chruščovs Machtübernahme.6 Heute könnte man im Hinblick auf diese Sorge um einen „neuen russischen Revisionismus“ – seine eigenen Worte paraphrasierend – sagen: Im Abstieg der Weltmacht war der Aufstieg schon beschlossen.
4. Geopolitische Situation der 1990er-Jahre
Aus Moskauer Sicht ist es „augenfällig“, schreibt Rühl 1998,
„dass die USA ein strategisch-politisches und ökonomisches Interesse daran haben, dass weder Europa noch Ostasien und der Westpazifik künftig (wieder) unter russischen Einfluss geraten. Es ist ebenso evident, dass für die USA mit ihrer kommerziellen und technologischen Expansion nicht nur die überseeischen Märkte und Investitionsräume, sondern auch die überseeischen Ressourcen strategische Ziele werden: Die kaspischen Erdöl- und Erdgas-Quellen und das westliche Zentralasien treten neben den Mittleren Osten und den Pazifik in das Zentrum des amerikanischen Horizonts, in dem auch Europa noch immer steht. Das dauernde amerikanische Interesse an Europa würde aber auch militärisch sofort reaktualisiert, wenn eine neue direkte Bedrohung – aus Russland oder dem Orient – entstehen sollte. Dies gilt in Asien auch für den Fall einer Bedrohung durch China. Russland kann kein Interesse an einer Konfrontation in Europa mit den USA, also der Nato, haben. Insoweit sind die Abgrenzungen klar markiert: Ganz Europa ist amerikanische Einflusssphäre.“
Dass ganz Europa zur amerikanischen Einflusssphäre wurde und die USA zur gesamteuropäischen Ordnungsmacht aufgestiegen sind, bedeutete für Moskau tendenziell und potenziell zuallererst eine Depravierung seiner Sicherheit und eine daraus resultierende akute Gefahr für sein geopolitisches Überleben und nicht so sehr sein machtpolitischer Einflussverlust in Europa.
Für Russland, das sich über die gigantische eurasische Festlandmasse von Europa bis zum Fernen Osten, von der Arktis bis Mittel- und Ostasien erstreckt, ist Außenpolitik immer auch Weltpolitik. Es hat darum einen ganz anderen geostrategischen Blick auf die Welt als Europa und ganz andere geopolitischen Interessen als die Europäische Union.
Umso schmerzhafter musste für Moskau der in den 1990er-Jahren erlebte geopolitische Absturz nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sein. „Russland hat weder offensive Aktionsmöglichkeiten noch (von Armenien und Tadschikistan abgesehen) echte Verbündete südlich seiner Grenzen,“ schreibt Rühl und fügt anschließend hinzu:
„Darum ist für die russische Außen- und Sicherheitspolitik wesentlich, wie die USA sich in Asien von Japan und China über Kasachstan, Indien, Pakistan und dem Iran bis zur Türkei verhalten: Sucht Washington, russischen Einfluss fernzuhalten, oder ist es bereit, sich mit russischen Interessen zu akkommodieren? Von der Antwort hängt für Moskau zu einem guten Teil die Lösung der strategischen Probleme ab, die sich aus der Weltmachtstellung der USA als einer >Pacific Power< und einer >European Power< mit starken Interessen im Orient und Zentralasien ergeben. Im Tschetschenienkrieg 1994-96 zeigte sich Washington verständnisvoll für Moskau. So verglich Präsident Bill Clinton Jelzins Politik zur Behauptung der Territorialeinheit Russlands mit militärischer Gewalt sogar mit Präsident Abraham Lincolns Verteidigung der Einheit der USA gegen die Sezession der konföderierten Südstaaten im Bürgerkrieg (1861-65).“
Die zitierte Passage zeigt, dass Rühl die russisch-amerikanischen Beziehungen in den Jahren 1994-96 zu optimistisch einschätzte. Die Clinton-Administration nahm nämlich spätestens 1994 Kurs auf eine geo- und sicherheitspolitische Schwächung Russlands, auch wenn das (noch) klammheimlich und hintergründig geschah.
Es war schon zu dieser Zeit absehbar, dass die USA alles tun werden, um Russlands geo- und sicherheitspolitische Interessen überall, wo es nur ging, zu hintergehen.
Noch viele Jahre später beklagte sich Putin mit Hinblick auf den „Zweiten Tschetschenienkrieg“ (1999 ff.) über die US-Unterstützung des tschetschenischen Terrors, als er darüber 2017 in einem Interview mit Regisseur Oliver Stone sprach: „Wenn wir über politische Unterstützung reden, bedarf es dafür keiner Beweise. Dies geschah offen und öffentlich. Was die operative und finanzielle Unterstützung betrifft, verfügen wir über solche Beweise. Und darüber hinaus haben wir einige davon sogar unseren amerikanischen Kollegen präsentiert.“
Der Grund lag nicht zuletzt daran – worauf Herbert Dittgen bereits 1996 hingewiesen hat -, dass die US-Außenpolitik „nach dem Verschwinden der sowjetischen Bedrohung keinen neuen Fokus gefunden habe, dass für die Strategie des Containments noch kein entsprechender Ersatz formuliert worden ist.“7 Und 1997 entwarf Brzezinski seine berühmte „imperiale Geostrategie“ zur Beherrschung ganz Eurasiens,8 vom unter der Leitung von Paul D. Wolfowitz zustande gekommenen und in der „New York Times“ 1992 veröffentlichten Strategiepapier „Defense Planning Guidance“ ganz zu schweigen.
Darin erklärte Wolfowitz zum Ziel der US-Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern.“9
Die US-Außenpolitik blieb mit anderen Worten in den 1990er-Jahren nach wie vor der Blocklogik des „Kalten Krieges“ verhaftet. Darum machte Rühl eine zutreffende Beobachtung, als er Russland eingequetscht in einem US-amerikanischen Zangengriff zwischen einer „Pacific Power“ und einer „European Power“ ansah, wogegen es nichts unternehmen konnte. Moskau befand sich seit 1992 auf dem eurasischen Kontinent in seinem Verhältnis zu den USA in einer geostrategischen Defensive, deren Machtpräsenz Russland mit seiner geopolitischen Schwäche und Unterlegenheit konfrontierte.
Russland wurde von den USA in den 1990er-Jahren geo- und sicherheitspolitisch kaltgestellt. Und dieser Zustand dauerte im Grunde bis zu der Ukraine-Krise 2014 bzw. dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022.
„Moskau kann zwar versuchen“, schreibt Rühl, „einen gewissen Vorteil in Europa oder im Orient, vielleicht auch im Fernen Osten gegenüber Amerika zu finden. Doch werden sich solche Vorteile nicht zu einer vollwertigen Kompensation für mangelnde Ebenbürtigkeit zu den USA summieren. Russland mag in Zukunft Partner – etwa China oder Indien – gegenüber den USA in Asien gewinnen, falls eine falsche amerikanische Politik solche Ouvertüren böte. Aber zum einen sind diese Aussichten höchst unsicher, und zum anderen bleiben auch in diesem günstigen Fall die Handlungsmöglichkeiten begrenzt.
… Russlands strategische Bedeutung in der Weltpolitik wird davon bestimmt, welchen Partnerschaftswert ihm die USA zuerkennen und wie es seine Interessen gegenüber amerikanischen wahren kann. Das Manövrieren der russischen Politik im Nahen und Mittleren Osten wie auf dem Balkan zwischen Neutralität, Unterstützung der USA, Vermittlungsversuchen, Einflussnahme auf die Feinde oder Gegenspieler Washingtons und einer Strategie des begrenzten Konflikts mit den USA hat mehrere Gründe: Fehlende konzeptionelle Klarheit und Konfusion in Moskau, Mangel an Optionen und Mitteln zur Umsetzung der eigenen Politik, Lähmung der Handlungsfähigkeit nach außen durch die Lähmung des Staates im Innern, aber auch der Zwang, Konfrontationen mit der amerikanischen Weltmacht zu vermeiden und wieder Einfluss auf Washington mit dem Fernziel zu erhalten, Ebenbürtigkeit als Großmacht im Weltmaßstab mit den USA wiederzugewinnen. In diesem Sinne besteht in Moskau eine neo-imperiale Tendenz ganz unabhängig von Territorium und Waffenmacht, obwohl diese Denkkategorien der klassischen Geopolitik und Strategie hinzukommen.“
Die zitierte Passage zeigt einerseits, welchen tiefen geopolitischen Absturz Russland in den 1990er-Jahren erlitten hat und wie demütigend es für Moskau war, die fehlende „Ebenbürtigkeit zu den USA“ erfahren zu müssen. Rühl war sich aber andererseits darüber im Klaren (und darin zeigte sich seine geopolitische Weitsicht und seine tiefgehenden Kenntnisse der russisch-sowjetischen Geschichte), dass Russland – in der Tradition der „klassischen Geopolitik“ verbleibend – neo-imperiale Kräfte potenziell reaktivieren könnte, um auf die weltpolitische Bühne zurückzukommen.
In einem Punkt irrte er sich, als er die geopolitische Realität der 1990er-Jahre in die Zukunft projizierte und zu wissen glaubte, dass „Russlands strategische Bedeutung in der Weltpolitik … davon bestimmt (wird), welchen Partnerschaftswert ihm die USA zuerkennen und wie es seine Interessen gegenüber amerikanischen wahren kann.“
Diese Voraussage zeigt, wie undankbar es ist, die Gegenwart in die Zukunft fortzuschreiben und sie voraussehen zu wollen. Die geopolitische Realität der Gegenwart sieht indes ganz anderes aus, als Rühl es 1998 mutmaßte. Mit dem Aufstieg der BRICS-Gruppe zu einem ernstzunehmenden geopolitischen Machtfaktor in der Weltpolitik, in deren Reihen u. a. auch China und Indien sind und mittlerweile als Russlands geostrategische Partner gelten, haben „fehlende konzeptionelle Klarheit und Konfusion in Moskau, Mangel an Optionen und Mitteln zur Umsetzung der eigenen Politik“ usw. längst ihr jähes Ende gefunden und Russlands unergiebiges Streben nach einer „Ebenbürtigkeit zu den USA“ überflüssig gemacht.
Aus der Perspektive der 1990er-Jahre gesehen, ist Rühls Prognose zwar verständlich, nicht desto weniger aber irreführend. Sie sollte auch eine Lehre für die heute herrschende transatlantische Machtelite sein, ihre monetäre, ökonomische und militärische Weltmachtstellung nicht zu überschätzen und die neugewonnene Kontinentalmachtstellung Russlands zu unterschätzen.
5. „Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“?
Im Gegensatz zu der transatlantischen Macht- und Funktionselite der Gegenwart war sich Rühl darüber im Klaren, dass sich die Bevölkerung der Regionen Donezk und Lugansk in der Ostukraine zu Russland zugehörig fühlte und dass der Untergang des Sowjetreiches unweigerlich zu Spannungen zwischen den ostslawischen Völkern führen wird, deren kriegerische Auseinandersetzung er 1998 noch nicht erahnen konnte:
„Der Verlust der Ukraine, Belarus´, der drei baltischen Länder und Moldawien wirkt als historisches Fiasko nach 400 Jahren im ganzen erfolgreicher Expansion nach Westen auf Russland zurück. Es ist nicht nur natürlich, sondern unvermeidbar, dass Russland die Abtrennung dieser Länder und ihrer Völker … als einen traumatischen Schock erlitt.
Für die Ukraine ist die Nachbarschaft zu Russland über den Osten und Norden des Landes mit der starken russischsprachigen Bevölkerung von etwa 11 Mio. (fast der Hälfte aller >Auslandsrussen< im GUS-Raum) kritisch. Diese >russischen Ukrainer< sind im Bergbau- und Schwerindustrie-Revier des Donezk-Beckens konzentriert, wo die strukturelle Anpassungskrise der ukrainischen Wirtschaft besonders ernst ist. Viele familiäre Bande bestehen über die auf beiden Seiten als künstlich empfundene neue Grenze hinweg. Das Votum dieses Bevölkerungsteils 1991 für die Unabhängigkeit der Ukraine war von der – inzwischen enttäuschten – Erwartung motiviert, dass sich die Ukraine allein wirtschaftlich besser entwickeln würde. Nach dem Urteil von Präsident Leonid Kutschma 1997 … droht bei den kommenden Wahlen von dieser ostukrainischen Bevölkerung ein Votum gegen die nationalen Parteien in der Westukraine und eine Spaltung des Landes mit der Gefahr eines Anschluss-Appells der Ostukraine (und der Krim) an Moskau.“
Dass der Anschluss von Donezk und Lugansk an Russland jederzeit eine reale „Gefahr“ oder „Hoffnung“ – je nachdem, wie man´s nimmt – war, hat, wie man sieht, nicht etwa mit Russlands Intervention 2022, sondern mit dem Zugehörigkeitsgefühl der dortigen Bevölkerung zu Russland etwas zu tun.
Dass die Nato-Staaten bereits kurz nach dem Ende der Sowjetunion alles unternommen haben, um die Ukraine von Russland zu trennen, gibt Rühl unumwunden zu:
„Es gilt für das >Partnership for Peace< (PfP)-Abkommen der Ukraine mit der Nato und umso mehr für die >Charta< von 1997 über besondere Beziehungen der Ukraine zur Nato, die vor allem die Selbständigkeit und die Grenzen der Ukraine international stabilisieren sollen. Obwohl damit der Ukraine keine förmliche Sicherheitsgarantie gegeben wurde, weist die >Charta< das vitale Interesse der Nato an der Sicherheit der Ukraine gegenüber Russland aus, das Clinton für die USA schon 1994 in Kiew öffentlich erklärt hatte.“
Diese offene und geradezu lässige Äußerung über „das vitale Interesse der Nato an der Sicherheit der Ukraine gegenüber Russland“ zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands selbst dann ignoriert wurden, als man wie Rühl eine mögliche Konfrontation nicht ausschließen wollte:
„Aber auch wenn vorderhand ein Konflikt über die Ukraine wenig wahrscheinlich ist, bleiben Krisen und politische Konfrontationen zwischen Moskau und Kiew in der Zukunft möglich. Selbst ohne Aggression könnte Russland seine amtlichen Thesen in >historische Rechte< umdeuten und behaupten, dass es auf diese weder bei noch nach der Auflösung der UdSSR je verzichtet hätte. Alleine schon die Offenhaltung der Grenzfrage – obwohl die Ukraine als originärer Mitgliedsstaat der UNO in ihren Grenzen von der UNO-Charta geschützt ist – bedeutet, dass man in Moskau für alle Fälle sämtliche Optionen gegenüber Kiew wahren will. Damit ließe sich der >Schutz der Russen< in der Ukraine als Maßstab >legitimer< russischer Politik verbinden.“
Rühl schrieb diese Sätze 1998, als weder von der Ukraine-Krise 2014 noch vom Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 die Rede sein konnte. Was schlägt er nun vor, um die Gefahr einer möglichen Konfrontation zwischen Moskau und Kiew bzw. Russland und der Nato-Allianz zu vermeiden?
Rühl geht von der Erkenntnis aus, „dass Russland weder in Europa eingepasst noch aus Europa ausgeschlossen werden kann.
Russland sei „asiatisch wie europäisch, selbst wenn der europäische Teil des Landes etwa 90% der Bevölkerung einschließt und sein strukturelles Schwergewicht klar in Europa liegt. Deshalb wäre Russland auch ohne die eurasische Kontinentaldimension zu groß und physisch-demographisch zu stark für Europa und damit auch für eine im Fundament ausbalancierte >gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur<. Diese Sperrigkeit erzwingt auch eine dauernde aktive Mitwirkung der USA und Kanadas an dem in Aussicht genommenen euro-atlantischen Sicherheitssystem mit nordamerikanischer Teilhabe an der Verteidigung des erweiterten Nato-Europa. In diesem kritischen Punkt kann auch keine >neue Nato< im strengen strategischen Sinne entstehen, ist doch die Mitwirkung der USA als Schutz- und Führungsmacht der Nato nicht weniger notwendig als in der Zeit der Konfrontation mit der Sowjetunion.“
Kurzum: Rühl schließt sowohl Russlands Nato-Mitgliedschaft als auch dessen Integration in eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aus und übernimmt damit unausgesprochen das sicherheitspolitische Credo der westlichen Geopolitik der 1990er-Jahre.
Diese Re- und Selbstdefinition der Nato-Allianz als die „alternativlose“ Verkörperung der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung verleitete Rühl zu der Annahme, dass „Moskau … die Konsequenzen aus dieser Unersetzlichkeit der von Washington geführten Allianz gezogen (hat)“ und „die Nato als das Fundament der europäischen Sicherheit anerkennt und im Verhältnis zur Nato die Balance der Macht in Europa sucht. Europäische >Sicherheitsarchitektur< ist für Russland die Partnerschaft mit der Nato und damit eine privilegierte Beziehung, ergänzt von einem neuen >europäischen Konzert< der Mächte, in dem Russland – mit den USA – die erste Geige spielen und maßgebend an der Abstimmung des Orchesters mitwirken soll.“
Was Rühl hier referiert hat, war nichts weiter als Russlands Wunschdenken, das mit der nach dem Ost-West-Konflikt entstandene geo- und sicherheitspolitische Realität nichts zu tun hatte. Von Anfang an beruhten die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zum einen auf einem Missverständnis seitens Russlands und zum anderen auf einer gezielten Irreführung Moskaus durch die Clinton-Administration.10
Zu keiner Zeit sahen die USA in Moskau einen gleichberechtigten und gleichwertigen Partner, sodass „von einem neuen >europäischen Konzert< der Mächte, in dem Russland – mit den USA – die erste Geige spielen und maßgebend an der Abstimmung des Orchesters mitwirken soll,“ gar keine Rede sein konnte.
An Stelle der von Moskau erstrebten „Balance der Macht in Europa“ trat das Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung,11 in der für Russland bestenfalls die Rolle eines Juniorpartners der USA vorgesehen war. Das hat auch Rühl klar und deutlich gesehen, sonst hätte er nicht am Schluss seiner Ausführungen darauf hingewiesen, dass „Moskau … sich mit einer einfachen Zuordnung zu einer sich erweiternden Nato nicht abfinden (wird).“
Der Tenor seiner ganzen Sicherheitsanalyse zeigt freilich ungeachtet dessen, dass Rühl letztendlich dem geo- und sicherheitspolitischen Mainstream der 1990er-Jahre folgend für eine „Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“ plädierte. Die Folgen dieser Geopolitik nach dem Ost-West-Konflikt ist heute dreißig Jahre später an der „Ostfront“ in der Ukraine zu besichtigen.
Erneut bewahrheitet sich das Bonmot von Stephen Spender: „Die Zukunft ist eine vergrabene Zeitbombe, deren Zeitzünder in der Gegenwart abläuft.“12
Anmerkungen
1. Rühl, L., Die Rolle Russlands für die Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung, in: Informationen
zur Sicherheitspolitik Nr. 9 (August 1998). Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zwischen
Konflikten und russischer Dominanz.
2. Ruehl, L., Die Stalinsche Kontinentalmachtpolitik, in: des., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf/Wien
1981, 413-415.
3. Ruehl (wie Anm. 2), 413.
4. Näheres dazu Ruehl, L., Nikita Chruščov und der Übergang zur offensiven Weltpolitik, in: Ruehl (wie Anm.
2), 416-420.
5. Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25. Juli 2022,
www.ontopraxiologie.de.
6. Rühl (wie Anm. 2), 539.
7. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Strategie, in:
Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (292).
8. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 21 f.
10. Näheres dazu Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022,
www.ontopraxiologie.de; des., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre.
Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
11. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
12. Zitiert nach Hannah Arendt, Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 21.