Russlands Defensivstrategie und die US-Eskalationsdominanz
Übersicht
1. Ungleichwertigkeit der Macht versus strategische Gleichwertigkeit
2. Asymmetrie der vitalen Sicherheitsinteressen
3. Zwischen Offensive und Defensive
Anmerkungen
„Das vielzitierte >Gleichgewicht des Schreckens< war ein Vulgärbegriff … In
Wirklichkeit bestand noch kein solches Gleichgewicht. Die sowjetische
Rüstung zog die Konsequenz aus dieser strategischen Asymmetrie und aus
dieser machtpolitischen Disparität zur dominierenden Nuklearmacht USA.“1
1. Ungleichwertigkeit der Macht versus strategische Gleichwertigkeit
In seiner jüngsten Veröffentlichung „China Is in Denial About the War in Ukraine“ in Foreign Affairs vom 13. August 2024 schreibt Jude Blanchette (Inhaber des Freeman-Lehrstuhls für China-Studien am Center for Strategic and International Studies) am Ende seiner Ausführungen:
Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine seien viele chinesischen Analysten zu dem Schluss gekommen, dass der Westen keine Lust auf Konflikte habe und müde werde, Demokratien zu unterstützen, die mit einer „Invasionsmacht“ (invading force) konfrontiert seien, wenn die wirtschaftlichen Kosten hoch seien. Diese Schlussfolgerung sei übertrieben und unterschätze die amerikanische Entschlossenheit. Aber allein die Tatsache, dass sie diesen Schluss ziehen, deute darauf hin, dass die „Taiwanstraße“ (Taiwan Strait) – und die ganze Welt – in eine noch gefährlichere Richtung steuern könnte.
Diese vielsagende Äußerung zeigt, dass geopolitisch alles mit allem zusammenhängt, dass die Konfrontation zwischen China und den USA sowie zwischen Russland und den USA nicht isoliert betrachtet werden kann und dass die sich mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine immer weiter zuspitzende Großmächterivalität ihren gefährlichen Höhepunkt noch vor sich hat.
Historische Parallelen und Vergleiche sind oft irreführend, aber sie können das Vergleichbare und das Unvergleichbare erkennbar und die Frage beantwortbar machen, warum etwa die Konfrontation der beiden Supermächte zu Zeiten des Ost-West-Konflikts weniger gefährlich war als die heute stattfindende Großmächterivalität zwischen den USA, China und Russland.
Die Anerkennung der Sowjetunion als einer gleichrangigen und gleichwertigen Macht durch die USA in den 1960er-Jahren, ohne dass die Systemunterschiede wegretuschiert wurden, war das Fundament, worauf die ganze nukleare Abschreckung beruhte.
Nixon ging „vom Beginn seiner Präsidentschaft 1969 von einer solchen Gleichwertigkeit der Macht beider Länder aus, obwohl er die Unterschiede zwischen ihnen natürlich als eine Überlegenheit des amerikanischen über das sowjetische System und des Machtpotentials der Vereinigten Staaten über das der Sowjetunion auffasste. Nur zog er daraus nicht mehr die Konsequenz amerikanischer Überlegenheit im strategischen Kräfteverhältnis.“2
Genau diese „Gleichwertigkeit der Macht“ wurde Russland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts von den USA bzw. der transatlantischen Gemeinschaft abgesprochen. Russland habe den „Kalten Krieg“ verloren und solle sich gefälligst den westlichen „Siegermächten“ unterordnen. Das war und ist die Geistes- und Grundhaltung der transatlantischen Macht- und Funktionseliten.
Weder taktisch noch strategisch oder sonst wie könne Russland eine gleichwertige Partnerschaft erwarten. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass die Eskalationsbereitschaft seitens der USA, die das Postulat der Gleichwertigkeit nicht mehr gelten lassen, viel höher ist als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Das einfache Gesetz der Diplomatie zwischen den Supermächten: „nicht dort angreifen, wo der andere – der einzige Rivale, der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht,“3 ist abhandengekommen.
Und daran ist die russische Führung auch nicht ganz unschuldig, hat sie doch – sei es aus Zögerlichkeit, Berechenbarkeit oder Fehlkalkulation – den Eindruck der Schwäche erweckt und die Gegenseite dadurch zu noch mehr Eskalationsbereitschaft verleitet.
Die transatlantische Eskalationsstrategie ist dessen ungeachtet kurzsichtig, blendet sie doch die Risiken aus, die sehr schnell in eine harte Reaktion umschlagen können, falls Russland sich in seinen vitalen Interessen real und nicht nur abstrakt bedroht fühlt.
Diese kurzsichtige wie arrogante Geisteshaltung rächt sich heute zudem umso mehr, als neben dem unterschätzten Russland die anderen Gegenmächte auf dem Vormarsch sind, die US-Hegemonie viel mehr und viel stärker als Russland herausfordern und im Zweifel auf der Seite Russlands stehen werden.
Es wird immer deutlicher, dass die Geringschätzung Russlands, die Nichtbeachtung seines vitalen Sicherheitsinteresses und die Selbstüberschätzung der USA zum Verhängnis des Westens werden. Denn die Eskalationsspirale kann sich nicht endlos drehen. Sie endet da, wo Russland mit seinen Angriffskapazitäten „strategische Optionen“ (James Schlesinger) besitzt, mit deren Hilfe es de facto eine strategische „Gleichwertigkeit“ erzwingen kann.4
Und der Ukrainekrieg zeigt, dass die USA ungeachtet ihrer rhetorischen und militärpolitischen Eskalation genaustens diese „strategischen Optionen“ Russlands kennt und davor zurückschreckt, eine undefinierte und unsichtbare „rote“ Eskalationslinie zu überschreiten.
Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist der ständige Versuch der USA und ihrer europäischen Nato-Verbündeten diese strategische „Gleichwertigkeit“ mit den sog. „hybriden“ Mitteln der Kriegsführung auszuhöhlen. Auch dieses Risikospiel der Transatlantiker kann nicht aufgehen, weil Russland mittlerweile selbst im konventionellen Bereich einen militärstrategischen Vorsprung hat, wenn man z. B. an die Hyperschalgeschwindigkeitstechnologie denkt.
Unlängst musste der ehem. US-Botschafter in Moskau, John Sullivan (2020-2022), in einem Interview „Inside Putin’s Kremlin“ für Foreign Policy vom 13. August 2024 freimütig einräumen, dass die USA keine Druckmittel mehr haben, um Putin zu irgendwelchen Zugeständnissen zu zwingen.
Mit anderen Worten: Die USA befinden sich mit ihrer Russlandpolitik in einer Sackgasse; sie wären darum gut beraten, mit ihrer Eskalationspolitik nicht zu überziehen und dem geopolitischen Rivalen mehr Respekt zu zollen. Und was die Nebengeräusche der EU-europäischen Kriegspartei betrifft, so kann man ihr mit einem Lieblingsspruch des „Kanzlers der Einheit“ zurufen: „Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter“.
2. Asymmetrie der vitalen Sicherheitsinteressen
Der Ost-West-Konflikt hat das Gleichgewicht der Status-quo-Mächte gewahrt und den Expansionsdrang verhindert. Die Philosophie der transatlantischen Russlandpolitik postuliert hingegen heute unausgesprochen eine ideologisch fundierte Asymmetrie der vitalen Sicherheitsinteressen der beiden miteinander rivalisierenden Mächte Russland und der Nato. Ein gemeinsames, alles dominierendes „Überlebensinteresse“ existiert im Gegensatz zur nuklearen Bedrohung des „Kalten Krieges“ nicht mehr.
Das nukleare Zeitalter ist zwar geblieben, die Bedrohungseinschätzung hat sich aber derart geändert, dass der Atomkrieg sein Schreckgespenst verloren hat. Für die neue Generation steht heute eher eine Klimakatastrophe als eine nukleare Bedrohung im Vordergrund und die transatlantischen Machteliten tun so, als wäre der Einsatz der Nuklearwaffen völlig ausgeschlossen und stelle kein Bedrohungsszenario mehr dar.
Daraus resultiert auch die Asymmetrie der existentiellen Sicherheitsbedrohung, die dahingehend verstanden wird, dass die eigenen Sicherheitsinteressen und die des geopolitischen Rivalen weder gleichartig noch gleichrangig definiert werden. Diese asymmetrische Definition von Sicherheit macht faktisch sowohl eine gemeinsame Überlebensgemeinschaft als auch eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unmöglich und verwandelt die europäische Unsicherheitsordnung letztendlich in den Zustand eines dauerhaften Kriegsfriedens5.
Das gemeinsame Überlebensinteresse in Zeiten des „Kalten Krieges“ führte freilich zu einem Interessenkonflikt innerhalb der Nato-Allianz, der den französischen Brigadegeneral und Geostrategen Pierre Marie Gallois zu der Äußerung hinreißen ließ, dass die USA das Territorium der Nuklearmacht Sowjetunion als „Sanktuarium“ behandeln und „deshalb einer sowjetischen Aggression gegen Westeuropa nicht mit Kernwaffeneinsatz gegen sowjetisches Staatsgebiet entgegentreten würden“.6
Im Sinne dieses „Sanktuarium“-Phänomens meinte Raymond Aron 1974: Die „meisten Europäer, vor allem die Deutschen, sind weiterhin überzeugt, dass die Doktrin der abgestuften Vergeltung den – vom Standpunkt der Amerikaner legitimieren, aber für das der Frontlinie am nächsten gelegene Land gefährlichen – Wunsch ausdrückt, einen Krieg zu ermöglichen, der begrenzt ist für die beiden Großmächte und katastrophal für das Land in der Kampfzone.“7
Die Diskussion darüber, ob die USA im Falle eines begrenzten Atomkrieges die EU-Europäer überhaupt verteidigen würden und welche katastrophale Folgewirkung das für Europa und insbesondere für Deutschland hätte, wird heute weder in der deutschen noch in der EU-europäischen Öffentlichkeit nicht einmal ansatzweise geführt.
Und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen möchte man sich dem Vorwurf der Panikmache nicht aussetzen. Zum anderen mangelt es bezüglich des „Sanktuarium“-Phänomens an einer intellektuellen Redlichkeit. Zum dritten möchte man sich nicht dem Vorwurf des Antiamerikanismus aussetzen, der mit seinem vermeintlich „verantwortungslosen“ Gerede dem „Feind“ in die Hände spielen sollte.
Dieser Vorwurf ist allerdings derart abwegig, dass er selbst einem strammen Antikommunisten wie Raymond Aron gegolten hätte, der inmitten des „Kalten Krieges“ dazu eine präzise Analyse gegeben hat:
„Gewiss, abstrakt gesehen bleibt die Antwort der Analytiker jenseits des Atlantiks unwiderleglich: Die Europäer können einerseits nicht behaupten, die Androhung massiver Vergeltung habe jede Glaubwürdigkeit verloren, und zugleich vorgeben, dass die amerikanischen Führer, wenn sie massive Vergeltung durch eine Form der Erwiderung einsetzen, die der Natur der Provokation oder Aggression entspricht, die abschreckende Wirkung schwächen würden. Auf intellektueller Ebene fällt der Dialog meist zugunsten der Amerikaner aus, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sich die USA – und das ist unvermeidlich – die Entscheidungsgewalt vorbehalten und unter allen Umständen den Kontakt und den Dialog mit demjenigen aufrechterhalten, der offiziell als potentieller Feind gilt. Der Staat, der an der Spitze der Koalition steht, misst die Schäden, die er oder seine Verbündeten erleiden, nicht immer mit dem gleichen Mass.“8
Dieser Interessenkonflikt besteht zwar auch heute unvermindert fort, auch wenn die EU-Europäer ihn im Gegensatz zu den Französen Gallois und Aron nicht wahrhaben wollen. Die Abwehr gegen eine tatsächliche oder vermeintliche Machtexpansion Russlands priorisiert aber in Verbindung mit der Sicherheitsideologie der Open-Door-Politik bei weitem alle anderen sicherheitspolitischen Überlegungen, Erwägungen und Zielsetzungen.
Das bedeutet wiederum eine komplette Ausblendung des legitimen russischen Sicherheitsinteresses und eine subtile Verstetigung der Expansion der eigenen militärischen, ökonomischen und ideologischen Infrastruktur. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der vermeintlichen russischen Machtexpansion und der „neoimperialen Ambitionen Russlands“ wird ungeniert eine eigene Expansionspolitik betrieben, euphemistisch als die Nato- und EU-Osterweiterungspolitik verharmlost.
Nach dem Zusammenbruch der Status-quo-Welt des „Kalten Krieges“ wurde eine Expansionspolitik in Gang gesetzt, der Russland bis zum 24. Februar 2022 rat- und machtlos gegenüberstand. Dass die russische Führung sich getraut hat, der Nato-Expansion in der Ukraine militärisch Einhalt zu gebieten, ist nicht nur mit den russischen vitalen Sicherheitsinteressen, sondern auch mit der erreichten nuklearstrategischen Überlegenheit Russlands zu erklären, auch wenn das Nato-Bündnis diese Entwicklung konsequent ignoriert.
Russland besitzt aber heute mehr als nur eine Zweitschlagfähigkeit, die von der Nato nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. Das wird früher oder später zu einer Änderung der Nato-Sicherheitsideologie, der Überwindung der asymmetrischen Sicherheitswahrnehmung und letztlich zur Rückkehr der Status-quo-Politik des „Kalten Krieges“ führen. Alles andere wäre ein Abenteuer und die Gefährdung der eigenen Überlebensinteressen.
3. Zwischen Offensive und Defensive
Die USA können heute ihre gesteckten Expansionsziele nur so lange und nur so weit verfolgen, als dies keine unmittelbare militärische Machtkonfrontation mit Russland auslösen wird. Die 2014 an die Macht gelangte ukrainische Führungsschicht kam für die USA, wie gerufen, in ihrem Kampf gegen den Erzrivalen Russland. Eine willfährige, unterwürfige, von den USA finanziell, ökonomisch und mittlerweile auch militärisch völlig abhängige ukrainische Führung wurde als Anti-Russland-Bollwerk aufgebaut und in einem nunmehr seit zweieinhalb Jahren tobenden Proxy-Krieg gegen Russland eingesetzt.
Die USA haben zwar immer noch die sog. „Eskalationsdominanz“ nicht zuletzt wegen einer viel zu zögerlichen russischen Gegenwehr, die auf die stets peu à peu eskalierenden US-Provokationen zurückhaltend reagiert. Die Kernwaffensuprematie und den strategischen militärtechnologischen Vorsprung haben sie aber verloren. Russland befindet sich seinerseits ungeachtet des offensiven Charakters seiner Ukrainepolitik in einer strategischen Defensive.
Wie zurzeit des Ost-West-Konflikts besteht zwischen den USA und Russland eine strategische Asymmetrie in dem Sinne, als die ersteren nicht nur einen breiteren Fächer „strategischer Optionen“ haben als Russland, sondern auch eine strategische Initiative ausüben können. Dazu muss u. a. auch die weltweit betriebene US-amerikanische Bündnispolitik gezählt werden, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht nur voll intakt geblieben ist, sondern in den vergangenen Jahren sogar an Fahrt gewonnen und mit den neuen Allianzbildungen einen regelrechten Schub erhalten hat.
Diese Bündnispolitik wurde seit dem Ende des Zweiten Krieges zur Funktion der globalen amerikanischen Machtprojektion, die in der jüngsten Zeit sogar noch mehr an Bedeutung gewonnen hat.
Die strategische Asymmetrie ermöglicht den USA ihre offensive Handlungsfähigkeit und prädisponiert letztlich ihre „Eskalationsdominanz“. Strategische Machtentfaltung wird nämlich von der Möglichkeit bestimmt, „mit ihr in einem Konflikt die Grenzen der Konfrontation zu bestimmen, die Eskalation der Feindseligkeiten zu kontrollieren und den Gegner dabei zu beherrschen – also ihm die Bedingungen für die Krisenbeherrschung und gegebenenfalls für die Beilegung des politischen Streits vorzuschreiben.“9
Dieser offensive Charakter der strategischen Machtentfaltung der USA darf zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland nicht zuletzt vor dem Hintergrund der stattfindenden geopolitischen Revolution10 genügend Abwehrkraft und Ausweichmöglichkeiten hat, um sich dem ökonomischen, monetären und technologischen Druck der USA wirksam zu widersetzen.
Die russische Abwehrstrategie ist aber rein defensiver Natur und kann darum die US- „Eskalationsdominanz“ nicht aushebeln. Solange Russland selber eine strategische Initiative nicht ergreift und defensiv bleibt, hat es ein strategisches Defizit bei der Realisierung seiner geo- und sicherheitspolitischen Interessen.
Die Ergreifung einer strategischen Initiative bedeutet, dass Russland aus der defensiven Deckung herauskommen, die „Eskalationsdominanz“ der USA durch sein eigenes rigoroses militärstrategisches Handeln desavouieren und die Bedingungen für die Kriegsbeendigung und Friedenserzwingung diktieren muss. All das setzt aber nicht unbedingt voraus, dass es stets vor den nuklearen Gefahren der Eskalation warnt und/oder mit der Nuklearkeule schwingt.
Ganz im Gegenteil: Russlands ständiger Hinweis auf die Gefahren einer nuklearen Zuspitzung des Konflikts ist eher das Zeichen der Schwäche als das der Stärke und deutet nur auf die fehlenden anderweitigen Optionen hin. Eine Überwindung der Asymmetrie der vitalen Sicherheitsinteressen bedeutet für Russland in erster Linie die Ergreifung einer solchen strategischen Initiative, die eine militärpolitische Situation herbeiführt, in der jede weitere Eskalation gefährlich oder sinnlos wird.
Erst dann schrumpft der strategische Nutzeffekt der „Eskalationsdominanz“ der USA auf null zusammen. Das bedeutet in der letzten Konsequenz, dass die Grenzen des Ukrainekonflikts dergestalt ausgeweitet werden müssen, dass die Gegenseite zur Überzeugung gelangt, dass die Eskalationskosten die Eskalationsnutzen bei weitem übersteigen.
Russlands defensive Haltung, die bis jetzt nur reaktiv auf die immer weiterdrehende Eskalationsspitale reagiert, provozierte demgegenüber bis dato offene oder versteckte Eskalationsdrohungen und treibt, statt die Gegenseite abzuschrecken, ungewollt zu noch mehr Eskalation an.
Mit seiner defensiven Haltung befindet sich Russland in einem Teufelskreis: Kommt es aus der Defensive heraus, riskiert es eine Verschärfung der Eskalation, verbleibt es in der Defensive, provoziert es eine weitere Eskalationsspirale. Hinzu kommt, dass die Ukraine ihrerseits alles tut, um eine direkte Involvierung der Nato-Allianz in die Kämpfe an der ukrainischen „Ostfront“ zu provozieren, was die russische defensive Haltung nur noch verstetigt.
Russland bleibt de facto nur die eine einzige strategische Option: eine ständige Warnung vor einer nuklearen Katastrophe, wohl wissend, dass die USA alles tun, um die letzte Eskalationsstufe nicht zu überschreiten.
Und so bleibt alles beim Alten, es sei denn, Moskau riskiere doch seine defensive Haltung zu überwinden und sich auf eine größere Konfrontation einzulassen. Die militärischen, technologischen und ökonomischen Fähigkeiten hat es allemal dazu. Alles steht und fällt mit dem politischen Willen. Damit muss jederzeit gerechnet werden. Putin ist nicht Chruschtschow.11
Die einzige Lösung zur Brechung der Eskalationsspirale ist die Wiederherstellung des „Gleichgewichts des Schreckens“, die das gemeinsame Überlebensinteresse erneut begründen würde.
Anmerkungen
1. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 258.
2. Ruehl (wie Anm. 1), 235.
3. Aron, R., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 350.
4. Vgl. Ruehl (wie Anm. 1), 245.
5. Silnizki, M., Vom „Kalten Frieden“ zum „Kriegsfrieden“? Zwischen Hochmut und Ratlosigkeit. 17. August
2024, www.ontopraxiologie.de.
6. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 1), 256.
7. Aron (wie Anm. 3), 351 f.
8. Aron (wie Anm. 3), 352.
9. Vgl. Ruehl (wie Anm. 1), 259.
10. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
11. Silnizki, M., Putin ist nicht Chruschtschow. Zur Frage nach der Unvermeidbarkeit des Unmöglichen. 31. Mai
2024, www.ontopraxiologie.de.