Eine SWP-Studie in Zeiten des Ukrainekonflikts
Übersicht
1. Sicherheitspolitik in Kriegszeiten
2. Revisionismus oder Expansionismus?
3. Das Dilemma der US-Außenpolitik
(a) „Primacy versus Restraint“?
(b) Trumps Geoökonomisierung der US-Außenpolitik
Anmerkungen
„Dulce bellum inexpertis“1
1. Sicherheitspolitik in Kriegszeiten
Das von Bundeskanzler Olaf Scholz bereits drei Tage nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 27. Februar 2022 in seiner Bundestagsrede verwendete Schlagwort „Zeitenwende“ hat sich zum geflügelten Wort in der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen Publizistik entwickelt. Seitdem wandern wir „von Zeitwende zu Zeitenwende“, wie der Untertitel einer am 15. Mai 2024 veröffentlichten Studie der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) uns suggeriert.
Das Schlagwort ist derart populär geworden, dass Scholz es gleich zum Markenzeichen seiner Kanzlerschaft machen wollte, indem er am 5. Dezember 2022 einen aufsehenerregenden Artikel „The Global Zeitenwende. How to Avoid a New Cold War in a Multipolar Era“ in der einflussreichen Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichte.
Seit der proklamierten „Zeitenwende“ sind indes gut zwei Jahre vergangen und es stellt sich immer mehr heraus, dass an Stelle der „Zeitenwende“ das Epochenende – ein nahendes Ende der unipolaren Weltordnung – trat.2 Nun versucht die eben erwähnte SWP-Studie unter dem anspruchsvollen Titel „Die Neuvermessung der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen“ dem Schlagwort ein neues Leben einzuhauchen.
In ihrer 36 Seiten starken SWP-Studie haben sich Markus Kaim und Ronja Kempin zum Ziel gesetzt, die amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen seit dem Amtseintritt der Biden-Administration herauszuarbeiten und die möglichen sicherheitspolitischen Folgen für Europa nach den US-Präsidentschaftswahlen 2024 aufzuzeigen.
Die Studie ist im Wesentlichen deskriptiv angelegt und verbleibt vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts im Rahmen des außenpolitischen Mainstream-Denkens.
Weder wird eine zunehmende Militarisierung der EU-Außenpolitik kritisch hinterfragt noch eine diplomatische Regelung des Konflikts thematisiert. Das ist auch nicht das Ziel und der Zweck der Studie. In ihrem Mittelpunkt steht vielmehr – wie nicht anders zu erwarten war – eine wenig inspirierende Bestandaufnahme „der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen“ mit Empfehlungen, „die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen neu zu justieren“.
Zudem befürworten die SWP-Autoren uneingeschränkt die transatlantische Ukrainepolitik, die nicht der Diplomatie das Wort redet, sondern ganz im Gegenteil der Logik des Krieges folgt, nach dem Motto: „Krieg wird in der Schlacht um den Donbass entschieden“ (Josep Borrell, 9. April 2022).
Gleich zu Beginn der Studie formulieren Kaim/Kempin ihre Hauptthese:
„Der Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 beendete die europäische Sicherheitsordnung, wie wir sie seit 1990 im normativen wie institutionellen Sinne kennen. Sie gründete auf der 1990 unterzeichneten Charta von Paris. Für die Bundesrepublik Deutschland und ihre wichtigsten sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsrahmen – die Nato und die Europäische Union – markierte die Rückkehr des Krieges nach Europa eine Zäsur mit weitreichenden Folgen“ (S. 7).
Die These stellt mehrere Behauptungen auf, die nicht widerspruchslos hingenommen werden können:
- Russlands Invasion in die Ukraine konnte unmöglich „die europäische Sicherheitsordnung“ beenden, da eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur vor dem 24. Februar 2022 gar nicht existierte. Was sich in den vergangenen dreißig Jahren herausgebildet hat, war eine transatlantische Sicherheitsordnung in Europa, in deren Mittelpunk eine permanente Nato-Expansionspolitik stand, wogegen sich Russland die ganze Zeit vehement, aber erfolglos, zur Wehr setzte. Sie funktionierte nicht mit, sondern in Abgrenzung von Russland. Als „Siegermacht“ des „Kalten Krieges“ maß sich der Westen an, die gesamteuropäische Sicherheitsordnung bei völliger Ignoranz der vitalen russischen Sicherheitsinteressen zu repräsentieren.
- Die Charta von Paris konnte allein schon deswegen keine von der Nato-Expansionspolitik geprägte „europäische Sicherheitsordnung“ begründen, weil die Sowjetunion 1990 noch existierte. Die Pariser Charta bekräftigte lediglich die UN-Charta, die die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, „sich jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt … zu enthalten“.
- Aber genau diese Prinzipien der „territorialen Integrität“ oder „politischen Unabhängigkeit“ hat die Nato spätestens mit ihrem Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien mit Füssen getreten. Die Nato (und nicht Russland) beendete mit dem Beginn des Kosovo-Krieges am 24. März 1999 die sog. „europäische Sicherheitsordnung“ und trug bereits vor einem Vierteljahrhundert die Charta von Paris zu Grabe.
- Völlig abwegig ist es von daher davon zu sprechen, dass erst am 24. Februar 2022 „die Rückkehr des Krieges nach Europa“ markierte und dass „eine Zäsur mit weitreichenden Folgen“ stattfand. Die „Rückkehr des Krieges nach Europa“ fand bereits am 24. März 1999 und nicht am 24. Februar 2022 statt. Der Frankfurter Politologe Lothar Brock (geb. 1939) sprach diesbezüglich schon 2007 von der „Enttabuisierung des Militärischen … nach dem Ende des Ost-West-Konflikts“3.
- Dass der Kosovo-Krieg ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war, gestand kein geringerer als der Parteifreund von Olaf Scholz, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005), ein: „Natürlich ist das, was auf der Krim geschieht, ein Verstoß gegen das Völkerrecht“, sagte Schröder auf einer „Zeit“-Matinee in Hamburg 2014. Dennoch wolle er Putin nicht verurteilen. Er selbst habe als Kanzler beim Jugoslawienkonflikt ebenfalls gegen das Völkerrecht verstoßen. „Da haben wir unsere Flugzeuge … nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der Nato einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.“ Insofern sei er mit erhobenem Zeigefinger vorsichtig, betonte Schröder.
Es ist darum mehr als verwunderlich, mit welchem Selbstverständnis – sei es aus Ignoranz oder aus Selbstverblendung – die transatlantischen Macht- und Funktionseliten die eigenen Interventionen und Angriffskriege der vergangenen 25 Jahre kurzerhand ausblenden und mit erhobenem Zeigefinger auf die „Untaten“ der geopolitischen Rivalen zeigen. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.
Als wäre das nicht genug, sprechen Kaim/Kempin vom „aggressiv-revisionistischen Russland“, wogegen der „Schutz der politischen Souveränität und territorialen Integrität aller Mitglieder der EU und der Nato umfassend“ gesichert werden muss (S. 6, 34), und merken dabei nicht, wie sehr sie die Natur des Ukrainekonflikts und die daraus resultierende Konfrontation zwischen Russland und dem Westen unter Führung des US-Hegemonen verkennen.
Hier wiederholt sich das gleiche Denkmuster wie die eben festgestellte Ausblendung der westlichen Geo- und Sicherheitspolitik der vergangenen dreißig Jahre. Dass dem sog. „aggressiv-revisionistischen Russland“ jahrzehntelang der aggressiv-expansionistische Westen vorausging, wird schlicht und einfach ausgeblendet.
Dabei wird offenbar aus Unkenntnis der russisch-amerikanischen Beziehungen4 übersehen, dass Russland stets aus der Defensive agierte und allein als Reaktion auf die Expansion der politischen und militärischen Institutionen des Westens handelte5. Wer vom „aggressiv-revisionistischen Russland“ spricht, darf es nicht losgelöst von der westlichen bzw. US-Expansionspolitik betrachten.6
2. Revisionismus oder Expansionismus?
Die Nato-Expansionspolitik bedeutet tendenziell Russlands potenzielle geopolitische Erpressbarkeit nicht zuletzt infolge eines unaufhaltsamen „Verlustes der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security), worauf Eugene Rumer und Richard Sokolsky in ihrer 2019 erschienenen anspruchsvollen Studie „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“ (Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019) hingewiesen haben.
Nach dem Untergang der UdSSR verlaufe die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben – fügten Rumer/Sokolsky zutreffend hinzu -, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic depth) zurückzugewinnen, bestimmen im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy).
Damit hat die Studie des Pudels Kern der russischen Geo- und Sicherheitspolitik getroffen. Nicht der unterstellte russische „Neoimperialismus“, „Revanchismus“ und/oder „Revisionismus“, sondern die Rückgewinnung oder zumindest die Verstetigung eben dieser „Strategic Depth“ war und ist bis heute im Wesentlichen die Intention der russischen Geo- und Sicherheitspolitik. Dem stand und steht immer noch die Nato-Expansionspolitik im Wege.
Nun beteuern die SWP-Autoren, dass „die USA unter Präsident Joe Biden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ihren sicherheitspolitischen Verpflichtungen in und für Europa nachgekommen (sind). Kraftvoll haben sie ihre Rolle als >europäische Macht< unterstrichen.“
Zum einen ist nicht bekannt, dass die USA gegenüber der Ukraine vor dem Kriegsausbruch irgendwelche sicherheitspolitischen Verpflichtungen hatten, denen sie nachkommen müssten. Und die Behauptung, dass die USA darüber hinaus „ihre Rolle als >europäische Macht<“ „kraftvoll“ unterstrichen haben, zeigt zum anderen, dass Kaim/Kempin sich gar nicht darüber im Klaren sind, welche geo- und sicherheitspolitische Ordnungsstrukturen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa eigentlich entstanden sind.
Was wir seit dem Ende des Ost-West-Konflikts beobachten, ist ein Novum in der Geschichte der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung – die Herausbildung eines europäischen Ordnungsprinzips, das man mit der Formel zusammenfassen könnte: US-Hegemonie zu Lande und zur See. Es entstand, anderes formuliert, ein hegemoniales Machtungleichgewicht bzw. eine hegemoniale Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung7.
Diese hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent ist allein dem Umstand geschuldet, dass die USA nach dem Ende der bipolaren Weltordnung sich als die gesamteuropäische Ordnungsmacht begriffen und zur hegemonialen Ordnungsmacht in Europa aufgestiegen sind. Die infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion entstandene US-Hegemonialstellung in Europa stellte Weichen für eine expansive US-amerikanische Geo- und Außenpolitik, die letztlich auch zur Nato-Osterweiterung geführt hat.
An Stelle der Status-quo-Mächte der bipolaren Weltordnung trat infolgedessen die einzig verbliebene Supermacht als Expansions- und Ordnungsmacht in Europa und an Stelle des „Gleichgewichts des Schreckens“ das „Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip“8 auf dem europäischen Kontinent.
Seit dem Ende der bipolaren Weltordnung wurde nicht etwa der „Kalte Krieg“ beseitigt, sondern die geo- und sicherheitspolitische Ordnung in Europa zu Gunsten des Westens als „Siegermacht“ des Ost-West-Konflikts und zu Lasten Russlands als dessen Verlierer neu geordnet. Russland war de facto gezwungen, das US-amerikanische Friedensdiktat zu akzeptieren und die Nato-Osterweiterung widerwillig zu tolerieren.
Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine werden die Karten nunmehr neu gemischt. Der Ukrainekrieg hat nicht etwa die US-Rolle als europäische Ordnungsmacht „kraftvoll“ unterstrichen, sondern ganz im Gegenteil das Versagen der USA als vermeintliche Friedens- und Ordnungsmacht offenbart.
Hätten sich die USA als gesamteuropäische Ordnungsmacht „kraftvoll“ bewährt, so wäre es zum Krieg in Europa gar nicht gekommen. Schlimmer noch: Kaim/Kempin verkennen darüber hinaus offenbar auch die tatsächlichen geo- und sicherheitsstrategischen Ziele der Biden-Administration in der Ukraine. Bidens Ukraine-Politik ist in erster Linie eine Anti-Russland-Politik und es ging Biden als dem alten Haudegen des „Kalten Krieges“ nie um die Verteidigung oder gar Rettung der Ukraine, sondern allein um eine strategische Schwächung Russlands als der nuklearen Supermacht.
Deswegen sprechen die US-Geostrategen die ganze Zeit von einer „strategischen Niederlage Russlands“. Das ist aber ein verhängnisvoller Irrweg, der zu weniger und nicht zu mehr Sicherheit in Europa führt.
3. Das Dilemma der US-Außenpolitik
(a) „Primacy versus Restraint“?
Nun versuchen Kaim/Kempin die „Neuvermessung“ der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen außenpolitischen Strömungen innerhalb des US-Establishments herauszuarbeiten, indem sie zwei antagonistischen Gruppierungen identifiziert haben: Auf der einen Seite finden sich die sog. „liberalen Internationalisten“, die durch die US-Demokraten verkörpert bzw. durch die Biden-Administration repräsentiert werden. Diese Gruppierung bezeichnen die SWP-Autoren als „Primacy“-Anhänger. Auf der anderen Seite der Barrikade stehen die sog. „Restraint“-Befürworter, die durch die US-Republikaner mit Trump an der Spitze repräsentiert werden und denen zufolge „sich die amerikanische Außenpolitik wieder darauf konzentrieren soll, nationale Interessen der USA zu verfolgen“ (S. 11).
Nun ja, mit dieser Wortspielerei wird der außenpolitische Dissens innerhalb des US-Establishments – wie die SWP-Autoren selbst freimütig zugeben – „etwas vereinfacht“ (S. 11) dargestellt. Zum einen verfolgen die beiden Gruppierungen gleichermaßen die „Primacy-Strategie“ als Strategie der US-Vorherrschaft bzw. Vormachtstellung in der Welt. Sie unterscheiden sich voneinander lediglich im Instrumentarium zur Durchsetzung ein und desselben Zieles.
Zum anderen bestehen innerhalb der US-Republikaner unterschiedliche Strömungen, die von den beiden Strömungen der „Primacy“- und „Restraint“-Anhänger repräsentiert werden. Welche US-Außenpolitik Trump verfolgen wird, sollte er die US-Präsidentschaft gewinnen, ist deswegen noch lange nicht ausgemacht.
Einen Versöhnungsversuch zwischen den beiden Richtungen hat zuletzt Gerald F. Seib (Senior Mentor am Center for Strategic and International Studies) unternommen. In seinem in Foreign Affairs am 9. Januar 2024 veröffentlichten umfangreichen Artikel „Can Republicans Find Consensus on Foreign Policy?“ machte er einen kühnen Vorschlag: Die Grand Old Party müsse ihren „neuen Populismus“ und „alten Internationalismus“ miteinander versöhnen (The GOP Must Reconcile Its New Populism and Old Internationalism).
Konkret fordert Seib von den US-Republikanern „einen Konsens über eine Reihe von Kernfragen“ der US-Außenpolitik wie „eine nüchternere Sicht auf China“; ein klares Engagement für Taiwans Selbstverteidigung; eine Strategie, die „auf die neue chinesisch-russische Achse zugeschnitten ist; Freihandelsvereinbarungen, welche Peking ausschließen“ und „eine klare Anerkennung der wirtschaftlichen Vorteile legaler Einwanderung und Forderungen nach einer stärkeren Lastenteilung unter den US-Verbündeten“.
„Damit dieser neue außenpolitische Konsens der Republikaner politisch tragfähig bleibt, muss die Partei überzeugend dafür plädieren, dass die USA weiterhin eine aktive Rolle in der Welt beibehält“, verlangt Seib abschließend.
Trumps Spruch aus dem Jahr 2016 „Americanism, not globalism, will be our credo“ hat freilich weder etwas mit einem „Neo-Isolationismus“ noch mit dem ihm von seinen innerparteiischen Gegnern und US-Demokraten unterstellten „Populismus“ zu tun.
Denn die US-Demokraten, Trump und seine Anhänger verfolgen letztlich ein und dasselbe außenpolitische Ziel: die Aufrechterhaltung und Perpetuierung der globalen US-Führungsrolle.
Sehen die US-Republikaner in China geostrategisch einen viel gefährlicheren Gegner als Russland und suchen sie mit Russland im Zweifel einen machtpolitischen Modus Vivendi zu finden, so haben die US-Demokraten Russland zum Hauptfeind ihrer Geopolitik auserkoren und schrecken sich selbst nicht davor, einen Proxy-Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden zu führen.
Daraus ergibt sich, nebenbei gesagt, auch ein unterschiedlicher Stellenwert der Nato für die US-Geopolitik. Trägt die Nato-Allianz für die Trump-Republikaner eher einen instrumentellen Charakter („I don’t give a shit about Nato“ (Die Nato ist mir scheißegal), soll Trump gesagt haben9), so sehen die US-Demokraten in der Nato eine überragende sicherheits- und machtpolitische Bedeutung für die globale US-Führungsrolle und die Festigung des US-Hegemonialstatus in der Welt, die wie zurzeit des „Kalten Krieges“ ideologisch als Verteidigung der Demokratie und Menschenreche verklärt wird.
Dieser unterschiedlichen Priorisierung der Rivalität liegen infolgedessen unterschiedliche Vorgehens- und Legitimationsweisen zugrunde. Berufen sich die US-Demokraten stets auf ihren sog. „liberalen Internationalismus“ mit seiner Missionierung von Demokratie und Menschenrechten zwecks Legitimierung ihres Machtkampfes gegen die geopolitischen Rivalen, so scheren sich Trump und seine Anhänger nicht um ein solches ideologisches Geplänkel und verfolgen knallharte geoökonomische Machtinteressen ohne jedwede ideologische Vernebelung ihrer Geopolitik als einer geoökonomisch geleiteten Machtpolitik.
Selbst wenn man Trumps Theatralität und Hochstapelei gelegentlich zu Recht anprangert, war die US-Außenpolitik der Trump-Administration alles andere als substanzlos oder populistisch.
Man sollte die Deformierung seiner Person durch die innerparteiischen und politischen Gegner nicht mit der Substanzlosigkeit seiner Außenpolitik verwechseln, die selbst von der Biden-Administration im Falle der Trump-Chinapolitik weitgehend übernommen wurde.
Freilich gestehen die SWP-Autoren doch selber ein, „dass eine eindeutige Zuordnung Trumps zu einem außenpolitischen Lager kaum möglich ist. Angesichts seines transaktionalen Politikansatzes stellt sich zumindest die Frage, ob er nicht vielmehr Positionen der Restrainers in einzelnen Fällen übernimmt und in anderen gemäß opportunistischen Erwägungen über Bord wirft“ (S. 28).
Im Klartext bedeutet es, dass Kaim/Kempin letztlich keine blanke Ahnung haben, wie sie Trumps Außenpolitik einordnen sollten, und reden darum um den heißen Brei herum. Trump geht es nämlich weder um einen sog. „transaktionalen Politikansatz“ (was soll das eigentlich heißen?) noch um irgendwelche „opportunistischen Erwägungen“.
(b) Trumps Geoökonomisierung der US-Außenpolitik
Worum es Trump in seiner Präsidentschaft (2017-2021) ging und womöglich gehen wird, sollte er die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen, ist etwas ganz anderes. Die US-Außenpolitik hatte die Ausdehnung der Machtprojektion in Eurasien und eine sicherheitspolitische Neutralisierung Russlands auf dem europäischen Kontinent nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zum Ziel.
Zutreffend brachte Stephen Wertheim daher in seiner Studie „Iraq and the Pathologies of Primacy“ (Foreign Affairs, 17. März 2023) diese geostrategische Zielsetzung der US-Außenpolitik oder – wie er es nennt – die „vision of American hegemony“ auf den Punkt, indem er feststellte: Die USA strebten danach, „das Machtgleichgewicht durch die amerikanische Übermacht zu substituieren“ (replace balances of power with an American preponderance of power).
Diese „Vision“ ist zum Verhängnis der US-Außenpolitik geworden. Und hier kam Trump mit seiner Geoökonomisierung der US-Außenpolitik ins Spiel. Die Trump-Administration hat den amerikanischen Protektionismus reanimiert und die US-Außenpolitik von Grund aus geoökonomisiert. Trump löste damit ungewollt einen seit Jahren schwelenden, aber immer wieder unten den Teppich gekehrten Konflikt des US-Hegemonen mit sich selbst aus.
Die Trump-Administration kam nämlich zu dem Schluss, dass sich für die USA infolge einer zunehmenden geoökonomischen Erosion ihrer globalen Führungsrolle die bestehende Weltwirtschaftsordnung nicht mehr auszahle und dass neue Spielregeln zu Gunsten der eigenen nationalen wohlfahrtsstaatlichen Wirtschaftsinteressen erforderlich seien. Diesen neuen Spielregeln musste alles andere (auch Sicherheits- und Bündnispolitik) untergeordnet werden, und zwar unabhängig davon, ob sie Freund oder Feind betrafen.
Das war der eigentliche Casus knacksus des außenpolitischen Trumpismus. Trumps Problem war nur, dass der US-Hegemon der Gefangene seiner selbst geworden ist und sich nicht ohne Weiteres aus dieser Selbstgefangenschaft befreien kann. Er befindet sich in einem Selbstgefangenendilemma:
- Verzichtet er ganz oder „nur“ teilweise auf die etablierten Spielregeln der globalisierten Weltwirtschaftsordnung zu Gunsten der eigenen nationalökonomischen Wohlfahrtsinteressen, gefährdet er seine globale Führungsrolle und die darauf gegründete monetäre Stellung als Weltgeldproduzent.
- Verzichtet er hingegen auf seine merkantilistisch geleitete Außenwirtschaftspolitik, kann er das selbstgestellte Ziel abschreiben, die Ungleichgewichte im Außenhandel abzubauen, mit der Konsequenz einer weiteren Zunahme von Importüberschüssen, eines weiteren Ausbaus seiner Schuldnerposition und zuallerletzt eines weiteren Beschäftigungsrückgangs im Inland.
Die Biden-Administration hat dieses Selbstgefangenendilemma der Trump-Administration mit einer weiteren Militarisierung der US-Außenpolitik bei der gleichzeitigen Verschärfung der monetären und handelspolitischen Sanktionen bis zum totalen Sanktionskrieg gegen Russland nur noch vergrößert, was mittel- bis langfristig zur Gefährdung – wenn nicht gar zur Beseitigung – der monetären Vormachtstellung der USA führen könnte.
Die USA können sich im Grunde weder den Selbstverzicht auf ihre geopolitische Vormachtstellung (Primacy) noch einen Selbstverzicht auf die eigenen wohlfahrtsstaatlichen Interessen leisten. Beide Ziele gleichzeitig zu erreichen, kann und wird es aber nicht geben.
Aus dieser ausweglosen Position ergibt sich das Selbstgefangenendilemma: Der Selbstverzicht auf die militärisch fundierte US-Außenpolitik und deren Substituierung durch eine geoökonomisch und merkantilistisch geleitete Außenwirtschaftspolitik (wie die Trump-Administration (2017-2021) es praktizierte und Trump es heute offenbar nach wie vor anstrebt) schmälert die globale Führungsrolle der USA; die Militarisierung der US-Außenpolitik sowie die zahlreichen Sanktionskriege (wie die Biden-Administration es heute praktiziert) gefährden wiederum die wohlfahrtsstaatlichen US-Machtinteressen und die monetäre Vormachtstellung der USA als Weltgeldproduzent.
Die einzige Lösung scheint eine permanente Chaosstrategie zu sein, begleitet von einer ununterbrochenen geoökonomischen und militärischen Eskalation zur Erzwingung der eigenen monetären, handelspolitischen und geopolitischen Unverzichtbarkeit im globalen Raum, ohne freilich das unlösbare Dilemma überwinden zu können.
Neigten die vorangegangenen US-Administrationen eher zu militärischen Interventionen und schlug das Pendel mit Trumps Regentschaft in die andere, vermeintlich „elegantere“, „friedlichere“ Richtung aus, so priorisiert die Biden-Administration erneut eine militärische Option der US-Außenpolitik bei einer gleichzeitigen Beibehaltung der geoökonomischen Strategie der Trump-Administration, ohne freilich einen geoökonomischen und mittlerweile auch militärischen Machtschwund der USA stoppen zu können.
Suchte die Trump-Administration nach dem Motto „Märkte statt Militär“ das zu erreichen, was den vorangegangenen US-Administrationen militärisch misslang: eine „friedlichere“, „nur“ außenwirtschaftspolitisch erzwungene Aufrechterhaltung bzw. Stabilisierung der geoökonomischen und geopolitischen Vormachtstellung der „unverzichtbaren Nation“ im globalen Raum, so gelingt es der Biden-Administration heute weder eine militärische (wie im Fall des Ukrainekrieges) noch eine geoökonomische Durchsetzung (siehe u. a. den Sanktionskrieg gegen Russland) ihrer geopolitischen Machtinteressen.
Wie konnte es dazu überhaupt kommen? Hegemonie ist keine philanthropische Veranstaltung. Der Hegemon produziert nur dann eine stabile Weltordnung, wenn sie erstens seinen Eigeninteressen dient und er zweitens dazu auch in der Lage ist. Der Aufstieg der Volksrepublik China zu einem mächtigen und ernst zu nehmenden geoökonomischen Akteur, Russlands Wiedergewinnung der militärischen Stärke und dessen Aufstieg zu einem geopolitischen Konkurrenten und schließlich eine monetäre Selbstschwächung bzw. eine finanzielle Selbstüberforderung des US-Hegemonen infolge der zahlreichen militärischen Interventionen und Invasionen zwangen die Trump-Administration geradezu zu einer Geoökonomisierung der US-Außenpolitik.
Der US-Hegemon büßte heute endgültig seine geopolitische Fähigkeit ein, die Großmächte China und Russland in seinem Sinne zu „integrieren“. Es war auch absehbar, dass es nicht so weiter gehen kann und dass ohne den Paradigmenwechsel in der US-Außenpolitik nicht nur die geoökonomische Weltdominanz der USA, sondern langfristig auch ihre geopolitische Vormachtstellung erodieren würde.
Die US-Außenpolitik der Trump- und Biden-Administration hat uns freilich gezeigt, dass weder eine merkantilistisch geleitete noch eine militärisch fundierte Geopolitik zielführend waren und sind und die globale Führungsrolle der USA gestärkt haben.
Nur vor diesem Hintergrund wird es verständlich, wie sehr die US-Hegemonie in ihrer ganzen Existenz bedroht ist. Da ist es nebensächlich zu fragen, ob „Donald Trump ein Restrainer“ sei oder nicht, und ob er die Nato zerstören wird oder nicht. In naher Zukunft wird es den USA um alles oder nichts gehen, nämlich um das eigene geopolitische Überleben – das Überleben der US-Hegemonie. Und in diesem Falle werden die USA nach der Devise handeln: Rette sich, wer kann!
Anmerkungen
1. „Anziehend ist der Krieg den Unerfahrenen“.
2. Vgl. Silnizki, M., „The Global Zeitenwende“. Russlandbild des Bundeskanzlers. 20. Dezember 2022,
www.ontopraxiologie.de.
3. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der
Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des
Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
4. Näheres dazu Silnizki, M., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar
2023, www.ontopraxiologie.de.
5. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de; ders., Moskaus „Neoimperialismus“ oder Washingtons Expansionismus? Zu den
Hintergründen des Ukrainekonflikts. 14. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
6. Näheres dazu Silnizki, Moskaus „Neoimperialismus“ (wie Anm. 5).
7. Näheres dazu Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai
2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Trumps Äußerung hat John Bolton in die Welt gesetzt (Zitiert nach Graham Allison, Trump Is Already
Reshaping Geopolitics. How U.S. Allies and Adversaries Are Responding to the Chance of His Return.
Foreign Affairs, January 16, 2024).