Über die US-Außenpolitik nach der Präsidentschaftswahl 2024
Übersicht
1. Wo steht die US-Vizepräsidentin außenpolitisch?
2. Gefangen in einer Eskalationsspirale
Anmerkungen
Wenn Gott einen Menschen bestrafen will, beraubt er ihn seiner Vernunft.
1. Wo steht die US-Vizepräsidentin außenpolitisch?
Welche US-Außenpolitik würde die US-Vizepräsidentin Kamala Devi Harris betreiben, sollte sie die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnen? Selbst wenn wir davon ausgehen können, dass Harris die US-Außenpolitik der Biden-Administration fortsetzen würde, so sind ihre konkreten außenpolitischen Vorstellungen so gut wie unbekannt.
Bekannt ist allerdings das außenpolitische Denken des Nationalen Sicherheitsberaters der US-Vizepräsidentin, Philip H. Gordon (geb. 1962).
Von 2009 bis 2013 war er Referatsleiter im US-Außenministerium für Europa und Eurasien und zuständig in dieser Funktion für die fünfzig Länder der Region, sowie für die Nato, die Europäische Union und die OSZE. Zuvor war Gordon Senior Fellow bei Brookings und Mitglied im nationalen Sicherheitsrat unter US-Präsident Clinton.
Von 2013 bis 2015 war er Sonderberater des US-Präsidenten Obama im nationalen Sicherheitsrat sowie Koordinator im Weißen Haus für den Nahen Osten, Nordafrika und die Golf-Region. Kurzum: Gordon ist ein gut vernetzter und erfahrener Außenpolitiker und US-Demokrat, der in verschiedenen US-Administrationen gedient hat.
Am 18. Januar 2018 hat er zusammen mit dem US-Republikaner und ehem. US-Botschafter in Indien, Robert D. Blackwill (geb. 1939), einen Artikel unter dem bezeichnenden Titel „Containing Russia, Again. An Adversary Attacked the United States—It’s Time to Respond“ veröffentlicht.
Das Ziel der Veröffentlichung war Russland in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu diskreditieren und als Feindbild im Bewusstsein der US-Amerikaner zu verankern. Der Stein des Anstoßes war die vermeintliche Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahl 2016. „Wir werden nie mit Sicherheit wissen, ob Russlands Eingreifen das Ergebnis der Wahlen 2016 verändert hat. Entscheidend war der Versuch“, glauben die Autoren des Artikels.
Heute setze der Kreml seine beispiellosen Bemühungen fort, Spaltungen unter den Amerikanern zu säen und zu verschärfen, diagnostizieren Blackwill/Gordon 2018 und holen zum richtigen Rundumschlag aus, der an die dunkelsten Zeiten des „Kalten Krieges“ erinnert:
Russlands geopolitische Herausforderung für die USA wachse. Seit Wladimir Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückgekehrt sei, habe Moskau die Krim besetzt und annektiert, Teile der Ostukraine besetzt, erhebliche Streitkräfte eingesetzt und eine rücksichtslose Bombardierung Syriens gestartet, um Präsident Bashar al-Assad zu stützen. Russland habe seine Streitkräfte erheblich aufgestockt, Militärübungen durchgeführt, um die osteuropäischen Regierungen einzuschüchtern, sich in die politischen Systeme Osteuropas eingemischt und gedroht, den energieabhängen europäischen Staaten die Gaszufuhr zu kappen. Putin sei ein Geheimdienstoffizier, der jedem demokratischen Wandel in der Nähe Russlands zutiefst feindlich gegenübersteht. Er sei paranoid, unterstellt er doch den USA ihn stürzen zu wollen, und sei darüber hinaus verärgert über die US-Weltdominanz nach dem Ende des „Kalten Krieges“. Er scheine es zu einer persönlichen Priorität gemacht zu haben, die USA zu schwächen und dem amerikanischen Einfluss entgegenzuwirken, wo immer er könne.
Diese Karikatur der russischen Außenpolitik wurde 2018 geschrieben. Die Autoren malen das Bild eines aggressiven, brutalen und skrupellosen Russlands, das mit der geopolitischen Realität 2018 nichts gemein hatte. Vielmehr folgt es dem überkommenen Grundsatz des Vorsokratikers Empedokles: Gleiches werde durch Gleiches erkannt (hê gnôsis tou homoiou tô homoiô)1, indem sie die US-Außenpolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts auf die russische übersetzen, womit der Versuch unternommen wird, die eigenen Untaten der fünfundzwanzig Jahre andauernden Interventionen und Invasionen auszublenden oder gar zu verbergen.
Was gedachten Blackwill/Gordon nun gegen die „Aggressivität“ und „Paranoia“ Putins zu unternehmen? Und hier zeigt sich die gleiche Vorgehensweise, wie sie heute im Falle des Ukrainekonflikts praktiziert wird. Sie setzten auf Drohungen, Bestrafungen, Einschüchterungen: Moskau werde nur dann einlenken – schreiben sie -, wenn es zu dem Schluss komme, dass es in den wichtigen Angelegenheiten, wie im Bereich der europäischen Sicherheit, einen hohen Preis zahlen würde.
Empört merkten sie anschließend an, dass Washington zwar wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ weiterhin zusammenarbeiten und kooperieren müsse, „wann immer dies im amerikanischen Interesse liegt.“ Aber die USA können nicht tatenlos zusehen, wenn ein Gegner nicht nur eine Agenda verfolge, den US-Einfluss in der ganzen Welt einzudämmen, sondern auch direkt das Herz der amerikanischen Demokratie anzugreifen.
Diese theatrale Empörung unterschlägt freilich die Tatsache, dass die USA und Europa in den vergangenen dreißig Jahren unter dem Vorwand einer sogenannten „Demokratieförderung“ stets in die russische Innen- und Außenpolitik eingemischt haben. Die Einmischung war insbesondere in den 1990er-Jahren derart unverfroren, dass die US-Geheimdienstler selbst in den russischen Regierungseinrichtungen und sogar auf den Nuklearobjekten ungestört und nach Belieben schalten und walten konnten, wie Putin selbst des Öfteren öffentlich erzählt hat.
Zu Sowjetzeiten wäre das unvorstellbar und zeigt nur, wieviel Vertrauen die postsowjetische Führungselite zum Westen im Allgemeinen und zu den USA im Besonderen hatte und wie sehr dieses Vertrauen missbraucht wurde. Die Sowjetnostalgiker sprechen bis heute immer noch davon, wie die sowjetische Führung ihr Land seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre verraten und verkauft hat. Ob das stimmt, sei dahingestellt.
All das müssten Blackwill/Gordon ja besser wissen, als die jüngere Generation, schreiben sie doch selber in ihrem Artikel, dass sie in allen US-Administrationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gedient und sich um konstruktive russisch-amerikanische Beziehungen bemüht haben.
2018 plädierten sie allerdings trotz dieser Beteuerung für die Stärkung der Nato ebenso, wie für eine erneute Abschreckungs- und Eindämmungsstrategie gegen Russland, wohl wissend, dass sich die russische Führung schon seit Jahren vehement gegen die Nato-Osterweiterung wehrt.
Vier Jahre vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine schreiben sie: Die USA sollten die Stationierung der US-Truppen in Osteuropa in Betracht ziehen. Und was die Ukraine betrifft, so ist zu lesen: Wenn Russland das Minsker Waffenstillstandsabkommen vom Februar 2015 nicht vollständig umsetze, sollten die USA ihre Sanktionen auf weitere russische Beamte und bestimmte Unternehmen ausweiten und den russischen Zugang zu westlichen Krediten und Technologien weiter einschränken.
Dass die USA die Minsker Vereinbarungen die ganze Zeit hinter den Kulissen torpediert haben2, davon spricht man nicht. Alles in Allem muss man sagen: Wenn die US-Vizepräsidentin Kamala Devi Harris die US-Präsidentschaftswahl im November 2024 gewinnt, ist keine Änderung der US-Russland- und Ukrainepolitik zu erwarten. Man sollte im Zweifel sogar mit einer Verschärfung und einer weiteren Eskalation in den Beziehungen zwischen Russland und den USA rechnen.
2. Gefangen in einer Eskalationsspirale
Wer auch immer die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnt, der/die wird gewollt oder ungewollt gezwungen sein, die Kriegspolitik der Biden-Administration in der Ukraine zu revidieren. Die US-Kriegspolitik in der Ukraine ist weitgehend gescheitert. Das behauptet nicht etwa die russische Kriegspropaganda, sondern Jakub Grygiel (Prof. f. Politik an der Catholic University of America) in seinem Beitrag „The Right Way to Quickly End the War in Ukraine“ für Foreign Affairs vom 25. Juli 2024. Gleich im ersten Satz seiner Veröffentlichung stellt er apodiktisch fest: „The United States has hit a wall in Ukraine“ (Die USA sind in der Ukraine gegen die Wand gefahren).
Und er fügt gleich hinzu: Bidens inkrementeller Ansatz funktioniere nicht. Er habe ihn zu einem langen und tragischen Zermürbungskrieg geführt. Die unzureichende Performanz der Ukraine 2023 mache einen russischen Sieg wahrscheinlich.
„Der Krieg muss ein Ende haben – und zwar schnell“ (The war does need to end—and end quickly), fordert Grygiel. Wie will er aber sein ehrenvolles Ziel erreichen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden? Seine Antwort ist genauso verblüffend wie abwegig. Um den Krieg zu beenden, muss man den Krieg intensivieren. Wörtlich schreibt er: „Eine kurzfristige Aufstockung der uneingeschränkten Militärhilfe bietet die beste Chance auf langfristigen Frieden an Europas Grenzen“ (a short-term boost of unrestricted military aid offers the best chance for long-term peace on Europe’s frontier).
In diesem Absurdistan leben wir nun schon seit zweieinhalb Jahren. Da möchte man mit den Worten des Figaros aus der Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais (1732-1799) zurufen: „Stellen Sie sich vor, dass Sie nicht wissen, was jeder weiß, und dass Sie wissen, was niemand weiß; vorgeben, etwas zu hören, das niemand versteht, und nicht auf das hören, was jeder hören kann; Die Hauptsache ist, so zu tun, als ob Sie über sich selbst hinauswachsen könnten, und machen oft ein großes Geheimnis aus etwas, das kein Geheimnis ist.“3
Und so steht es auch mit der US-Kriegspolitik. Sie gibt vor nicht zu wissen, was jeder weiß, und zu verstehen, was keiner versteht.
Nachdem die im März/April 2022 stattgefundenen Friedensverhandlungen vom britischen Ex-Premier Boris Johnson mit der US-amerikanischen Zustimmung torpediert wurden4, verfolgt der „Westen“ Kriegsziele, die immer wieder revidiert wurden: Mal will man „Russland ruinieren“ (Annalena Baerbock), mal „eine strategische Niederlage“ zufügen. Und immer wieder wiederholt man mantraartig, wie eine Monstranz vor sich hertragend: Russland müsse verlieren und die Ukraine müsse gewinnen.
Schließlich suggeriert man dem ahnungslosen Publikum, dass die Ukraine eine teilweise territoriale Rückeroberung der besetzen Gebiete erzielen kann, um anschließend eine bessere Position bei den künftigen Friedensverhandlungen zu haben.
All diese Kriegsziele erwiesen sich bis dato als Wunschdenken. Heute wäre man froh, zu den Verhandlungsergebnissen aus dem März/April 2022 zurückkehren zu können. Man hätte damals mehr erreichen können, als man heute nach so viel Blutvergießen und einer kolossalen Zerstörung des Landes erreichen kann. Nun ja, die Angelsachsen wollten ausprobieren, wie weit sie gehen können. Jetzt stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Kriegspolitik und wissen erst jetzt, was jeder eigentlich wissen konnte, dass ein Krieg gegen Russland nicht zu gewinnen ist.
Die Friedenschance wurde im März/April 2022 mutwillig verspielt. Und jetzt? Nach so viel Blutvergießen, Selbsttäuschungen und Enttäuschungen ist es heute völlig ausgeschlossen, die Zeit zurückzudrehen, zumal die russische Führung immer wieder davor gewarnt hat: Je länger der Krieg dauert, umso schlechter werden die Verhandlungsbedingungen für die ukrainische Seite sein.
Als Putin vor einem Monat eine Verhandlungsregelung des Konflikts unterbreitete, wurde sie erneut brüsk zurückgewiesen. Und wieder warnte die russische Führung: Das nächste Friedensangebot werde für die ukrainische Seite schlechter als das vorangegangene sein. Auch diese Warnung wurde seitens der Ukraine und ihrer westlichen Kriegsverbündeten in den Wind geschlagen.
Und was nun? Jetzt will man wieder mit Kopf durch die Wand. Wenn man Grygiel zuhört, dann laufen seine Vorschläge auf eine exzessive Eskalation zwecks Deeskalation hinaus, um einen imaginären „Frieden“ zu ukrainischen Bedingungen zu schaffen. Wenn man stets denselben Fehler wiederholt, dann ist das keine Politik, sondern Obsession!
Anstatt den Krieg in die Länge zu ziehen, schreibt Grygiel, sollte das US-Kriegsziel sein, ihn schnell zu beenden, indem man der Ukraine hilft, Russland zu besiegen und Moskau davon abzuhalten, weitere imperiale Ambitionen zu verfolgen. Der beste Weg zur Erreichung dieses Ziels wäre noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern und ihr zu erlauben, sie uneingeschränkt einzusetzen.
Dass die Erlaubnis zum uneingeschränkten Einsatz vor allem der Hightech- und Präzisionswaffen bedeuten würde, dass die US-Regierung letztlich sich selbst erlauben würde, diese Waffen anzuwenden und damit direkt in den Konflikt involviert zu werden, verschweigt Grygiel, sei es aus Unwissenheit oder aus bewusster Irreführung des Publikums. Wer keine politische Verantwortung trägt, kann sich auch leisten, verantwortungslose Empfehlungen abzugeben.
Ohne Brzezinski beim Namen zu nennen, merkt er zum Schluss seiner Ausführungen an: Russland sei bestrebt seine imperiale Größe wiederherzustellen. Dafür benötige es die Ukraine, die es in die Lage versetzen würde, den Rest Europas zu bedrohen und die europäische Politik zu beeinflussen. „Ohne die Ukraine ist Russland nur eine asiatische Macht, die schnell an Boden gegenüber China verliert“ (Without Ukraine, Russia is only an Asian power, swiftly losing ground to China).
Dass in Ergänzung zu Brzezinskis These: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr“ hier über Russland als „eine asiatische Macht“ fabuliert wird, stimmt nicht einmal geographisch, von einer geistes- und zeitgeschichtlichen Entwicklung ganz zu schweigen. Welche „europäische“ Eigenschaften die Ukraine Russland verleiht, verrät Grygiel uns freilich auch nicht.
Solche rassistisch anmutenden Äußerungen zeigen nur, wessen Geisteskind der Verfasser dieser Zeilen ist. Grygiel besitzt offenbar auch keine fundierten Kenntnisse über die russisch-chinesischen Beziehungen, wenn er Russlands geo- und sicherheitspolitische Bedeutung in Eurasien im Allgemeinen und für China im Besonderen davon abhängig macht, ob die Ukraine zu Russland gehört oder nicht.
Wenn solche „Russlandexperten“ weiterhin in der US-Russland- und Ukrainepolitik das Sagen haben, dann verspricht das für die russisch-amerikanischen Beziehungen nichts Gutes. Schlimmer noch: Solche „flotten“, aber inhaltsleeren Sprüche eskalieren und verschärfen nur noch die Konfrontation, wie die jüngste Entscheidung der USA über eine erneute Stationierung der Mittelstreckenraketen in Deutschland zeigt.
„Es ist zu erwarten“, schreiben Alexander Graef, Tim Thies und Lukas Mengelkamp, dass Russland seinerseits als Reaktion darauf „sein Arsenal an Marschflugkörpern des Typs 9M729 erweitert oder seegestützte Raketensysteme für den Einsatz an Land umrüstet … Derartige Gegenmaßnahmen könnten dazu führen, dass die erhofften positiven Effekte auf Abschreckung und Kriegsführung gegenüber Russland minimiert werden oder sogar vollständig ausbleiben. In diesem Fall wäre wenig gewonnen.“
„Die Stationierung von amerikanischen Raketensystemen in Deutschland“ – fügen sie zutreffend hinzu – ist „weder ein militärisches Wundermittel ohne Risiken, noch alternativlos. … Gleichzeitig wird manchmal der Eindruck erweckt, Russland könnte im Kriegsfall militärisch vollständig besiegt werden. Doch damit wird eine der grundlegendsten Einsichten des Nuklearzeitalters verdrängt. Bereits 1956 kam der US-amerikanische Stratege William W. Kaufmann zum Schluss, dass die klassische konventionelle Kriegsführung bis zur totalen Niederlage zwischen Atommächten zwangsläufig in einer nuklearen Eskalation enden würde.“5
Nicht nur das! Selbst wenn wir annehmen würden, dass sich die Nato-Allianz gegen Russland siegreich behaupten würde, so würde dieser Sieg ein Pyrrhussieg sein, dessen Endergebnis in der von Harvey F. Wheeler 1968 formulierten Erkenntnis gipfelte: „Wenn einer siegt, sind beide am Ende.“6
Eine weitere Eskalation im Ukrainekonflikt ist darum kontraproduktiv und führt in eine sicherheitspolitische Sackgasse. Die US-Geostrategen sind allerdings an einer friedlichen Lösung des Ukrainekonflikts auch nicht interessiert. Um Russland zu schwächen und/oder zu destabilisieren, sollte die Ukraine kämpfen, kämpfen und immer weiterkämpfen – „bis zum letzten Ukrainer“, wie der britische Ex-Premier Boris Johns im Frühjahr 2022 verlangte.
Und so fordert auch Grygiel dieser Kriegslogik folgend zum Schluss seiner Ausführungen „eine schnelle und umfangreiche Lieferung westlicher Waffen an die Ukraine, die die beste Chance ist, die russischen Streitkräfte zurückzudrängen, um ihr die Zeit für einen Wiederaufbau, die Umrüstung und die Abschreckung eines weiteren russischen Angriffs zu verschaffen. … Eine Politik, die hingegen darauf abzielt, eine Eskalation zu vermeiden, wird weder die Ukraine retten noch die Ostgrenze Europas stabilisieren. Stattdessen ist es an der Zeit, dass der nächste US-Präsident entschlossen handelt.“
Unabhängig davon, wer nach der US-Präsidentschaftswahl 2024 an die Macht kommt, ist eine „Politik“ des >Weiter so< keine Option mehr, weil sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren kein einziges Kriegsziel erreicht hat, und sie wird auch in den kommenden zweieinhalb Jahren kein einziges erreichen können, sollte der Ukrainekonflikt so weiterlaufen.
Der evidenteste Einwand gegen diese Politik der Eskalation ist nicht einmal ihr begrenzter Nutzen, sondern ihre Gefährlichkeit. Denn diese bellizistische Eskalationspolitik bildet sich ein, die Eskalation, die, zu Ende gedacht, nicht kontrollierbar ist, kontrollieren zu können. Jede Eskalation ist dadurch gekennzeichnet, dass gewohnte und eingeübte Prozesse unterbrochen werden und etwas Unvorhersehbares und Unerwartetes eintreten kann, das weder kontrollierbar noch berechenbar wird.
Die Furchtbarkeit des Unerwarteten übersteigt dadurch bei weitem die eingebildete Berechenbarkeit der Eskalation. Das Gerede von der Eskalation zur Deeskalation ist daher genauso abwegig wie die Behauptung, dass der Krieg der Friedensschaffung dient.
Wir leben heute in einer Zeit, in der wir anscheinend nicht mehr in der Lage oder gewillt sind, zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden. „Die Friedenspolitik“ – schrieb Hannah Arendt 1970 vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs -, „die auf den Zweiten Weltkrieg folgte, war der Kalte Krieg, also die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“7
Auf das Ende des Ost-West-Konflikts (1990/91) folgte aber statt einer Friedenspolitik die Fortsetzung des „Kalten Krieges“ mit anderen Mitteln (1991-2021), dessen Endergebnis der Ukrainekrieg (2022-2024 f.) ist. Was folgt nun danach? Ein großer europäischer Krieg? Ein Atomkrieg als „das Selbstmordmittel für die ganze Welt“8? Oder ein „Friede“ als ein neuer Ost-West-Konflikt in einer ganz anderen geopolitischen Machtkonstellation?
Wir drehen uns in einem friedlosen, bellizistischen Kreis – einem Teufelskreis, der sich als ein friedloser Zustand darstellt, in dem Krieg und Frieden in einer verschrobenen Weise miteinander verwoben sind und aus dem wir nicht herauskommen können oder wollen. Ein solcher Zustand kann nicht ewig fortdauern! Und alles spricht dafür, dass wir uns auf Dauer in einem friedlosen Frieden befinden, der letztlich nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.
Wenn man zwischen Krieg und Frieden nicht unterscheiden kann und will, bekommt man am Ende ein infernales Ende! Der US-Hegemon lebt immer noch in einem trügerischen Gefühl, unbestraft alles machen und jede denkbare Eskalationsstufe besteigen zu können, weil er sich ökonomisch, technologisch und militärisch maßlos überschätzt.
Darum weigert er sich beharrlich die weltpolitische Realität, die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine eine geopolitische Revolution erlebt9, auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Dieser geopolitische Eskapismus rächt sich und er wird sich mit der vollen Wucht der Gewalt auf grausame Weise rächen.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Aristoteles, Metaphysik 1000b 6.
2. Vgl. Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik
Erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Beaumarchais P. A. C., Crazy Day oder die Hochzeit des Figaros. Komödie in fünf Akten. Dritter Akt.
4. Vgl. Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen im
März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
5. Graef, A./Thies, T./ Mengelkamp, L., Alles nur Routine? Die USA stationieren wieder
Mittelstreckenraketen in Deutschland – mit weitreichenden Konsequenzen. Es fehlt eine ernsthafte
Strategiedebatte. IPG 16.07.2024.
6. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1987, 7.
7. Arendt (wie Anm. 6), 13.
8. Sacharow, A., Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Zürich 1968, 20. Zitiert nach Hannah Arendt
(wie Anm. 6), 13.
9. Vgl. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.