Verlag OntoPrax Berlin

Erfolg und Misserfolg in der Außenpolitik

Im Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht

Übersicht

1. Machtpolitik statt ökonomischer Vernunft
2. Im Zangengriff zwischen Prävention und Machtpolitik
3. Von der Expansion zur Eskalation

Anmerkungen

Der Krieg ist „nur den Unerfahrenen … anziehend, und es sind ja
durchwegs die >Unerfahrenen<, d. h. Politiker, Intellektuelle,
Wissenschaftler-Experten, Schreibtisch-Offiziere und
Meinungsproduzenten, die ihn als Mittel zu jeweiligen
Zwecken empfehlen.“1

1. Machtpolitik statt ökonomischer Vernunft

„Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg.“ Der Spruch stammt von Disraeli. Wie kein anderer Premier war Benjamin Disraeli (1804-1881) „Architekt des Britischen Empire. … >Der alte Jude, das ist der Mann<, sagte Bismarck nach dem Berliner Kongress 1878. In Disraeli sah der Eiserne Kanzler einen Mann von gleichem Schlage, Kanzlerholz. Tatsächlich hatte Bismarck in Disraeli seinen Meister gefunden. Der drohende Krieg um das Erbe der Osmanen fiel aus. Disraeli hatte gewonnen, ohne einen Schuss abzufeuern. Und Bismarck verlor. … Denn fortan war das Verhältnis zu Russland ruiniert. … Disraeli hatte, hart am Rande des Krieges, Russland eingedämmt. Aber er ließ Deutschland den Preis bezahlen, und hätte es doch besser wissen können“, schreibt der Historiker Michael Stürmer in einem Essay für Die Welt am 10. Dezember 2004.

Diese Winkelzüge der europäischen Machtpolitik des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts ist Geschichte. Sie wirkt heute auf uns wie ein Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“. „Krieg“ gewonnen, „ohne einen Schuss abzufeuern“. Erfolgreicher kann „der Erfolg“ gar nicht sein: British Empire triumphiert, Deutschlands Verhältnis zu Russland wurde ruiniert und Russland zugleich eingedämmt. Was will man mehr?

Wie sehr ähnelt die erzählte Geschichte doch der Großmächterivalität der Gegenwart. „Nur“ eines fehlt: ein Kriegserfolg, „ohne einen Schuss abzufeuern“: Die USA reiben sich zufrieden die Hände. Ihnen ist es gelungen, einen Krieg in Europa zu provozieren2, Russland steckt tief im Schlamassel des Ukrainekriegs und über allen schwebt das Damoklesschwert der nuklearen Eskalation.

Und Deutschland? Deutschland wird ökonomisch ruiniert und zahlt unter allen EU-Ländern den höchsten Preis für sein Engagement in diesem sinnlosen und überflüssigen Krieg. „Deutschland erlebt eine schleichende Deindustrialisierung“, sagte der Ifo-Chef Clement Fuest neuerlich in einem Handelsblatt-Interview3.

Fuest begründet seine These von der Deindustrialisierung überwiegend volkswirtschaftlich, wirtschafts- und haushaltpolitisch und schimpft über Deutschland als den „alten Mann“ Europas und „eine nostalgische Status-quo-Macht“. Den eigentlichen Grund für die ganze Misere erwähnt er freilich mit keinem Wort: den Krieg in Europa, den radikalen Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und nicht zuletzt den brachialen Sanktionskrieg gegen Russland.

Dass darunter in erster Linie Deutschland und Europa leiden, wird immer deutlicher. „Die Folgen der westlichen Russland-Sanktionen beginnen das Asiengeschäft der großen westeuropäischen Airlines zu ruinieren. Die Lufthansa verzeichnet starke Einbrüche im einst als Zukunftshoffnung gepriesenen Chinageschäft“, berichtet German-Foreign-Policy.com am Beispiel der Luftfahrtbranche und führt weiter aus:

„Erst kürzlich haben British Airways und die britische Airline Virgin Atlantic bekanntgegeben, ihre potenziell ertragreichen Flüge nach China weitestgehend einzustellen. Die Hauptursache ist, dass ihre Flugzeuge auf dem Weg in die Volksrepublik nicht mehr den direkten Weg über Russland nehmen können, das – in Reaktion auf die Sperrung des europäischen Luftraums für seine Maschinen – seinen Luftraum für europäische Flugzeuge gesperrt hat. Der nötige Umweg kostet so viel Zeit und Geld, dass die Flüge nicht mehr profitabel fortgesetzt werden können. Dasselbe Schicksal droht nun auch der Lufthansa, die die Anzahl ihrer Flüge nach China schon reduziert. … Profiteure der westlichen Sanktionspolitik sind chinesische Airlines, die in wachsendem Maß den Markt übernehmen. Gleichzeitig ist es dem Westen nicht gelungen, mit den Sanktionen die russische Luftfahrtbranche wie erhofft zu ruinieren.“4

Schlimmer noch: Mittlerweile warnen Ökonomen vor einem „China-Schock“ für die deutsche Industrie. Immer mehr deutsche Unternehmen verlieren Anteile auf dem chinesischen Markt an ihre chinesische Konkurrenz. Für die drei wichtigsten Branchen der deutschen Industrie: Auto-, Maschinenbau- und Chemieindustrie nimmt die chinesische Konkurrenz immer bedrohlicher Züge an.

„Wir machen uns Sorgen um das deutsche Exportmodell“, räumte vor kurzem Rolf Langhammer (Experte des Kiel Instituts für Weltwirtschaft) ein: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Modell, so wie wir es aus der Vergangenheit kennen, in den kommenden Jahren zu Ende geht.“5

Nun ja, wenn an die Stelle der ökonomischen Vernunft eine Macht- und Geopolitik tritt und man in deren Schlepptau auf billige Rohstoffe und/oder profitable Wirtschaftsbeziehungen mutwillig verzichtet, dann, ja dann muss man beinahe zwangsläufig mit einer „schleichenden Deindustrialisierung“ des Landes und – damit eng verbunden – mit einem Wohlstandsverlust rechnen.

Was tut man nur nicht, um den eigenen „Idealen“ und hehren Vorsätzen gerecht zu werden, rechtfertigt sich die überwiegend von macht- und geopolitischen Erwägungen geleitete deutsche und EU-Anti-Russlandpolitik. Dass der Weg zur Hölle oft mit hehren Vorsätzen gepflastert ist und die ökonomische Vernunft sich nicht unbestraft ignorieren lässt, nimmt sie wohl oder übel in Kauf.

Eine machtpolitisch und ideologisch motivierte Außenwirtschaftspolitik kann derart erdrückend und dominant sein und einen solchen Handlungszwang entfalten, dass man sich ihm kaum entziehen kann – selbst dann nicht, wenn dieser wider die ökonomische Vernunft ist.

2. Im Zangengriff zwischen Prävention und Machtpolitik

Der sich alles überlagernden, ideologisch und machtpolitisch geleiteten transatlantischen Außenpolitik

liegt die Zwangsvorstellung zugrunde, Russland beinahe um jeden Preis in die Knie zwingen und eine „strategische Niederlage“ zufügen zu müssen. Diese selbstzerstörerisch wirkende Obsession duldet keinen Widerspruch. Die EU-europäischen wie auch US-amerikanischen Macht- und Führungseliten können sich ihr offenbar bewusst oder unbewusst nicht entziehen. Sie beruht immer noch auf den ideologischen Denkvoraussetzungen des „Kalten Krieges“, die offenbar die geopolitische Realität der Gegenwart mit dem Ost-West-Konflikt verwechseln.

Diese nicht hinterfragbaren Denkvoraussetzungen des „Kalten Krieges“ bestimmen immer noch im Wesentlichen die außenpolitischen Richtlinien der transatlantischen Russlandpolitik nach dem Motto: Was bisher ideologisch galt, gilt bis auf Weiteres so lange fort, bis sich der geopolitische Rivale unseren „wertebasierten“ Außenpolitik unterwirft bzw. die tradierte, auf die Bekämpfung des Sowjetrusslands zurückgehende gegenwärtige Russlandpolitik sei die zu Recht bestehende.

Und diese ideologisch fundierte außenpolitische Denkweise der sich in der EU versammelten ehem. europäischen Großmächte prägt die EU-europäische wie auch die US-amerikanische Russlandpolitik bis heute. Demgegenüber folgt Russland seiner geopolitischen Tradition, die da lautet: Was sich mit den Mitteln der Macht nicht durchsetzen lässt, gilt nicht als Recht und wer sich nicht gegen die Widerstände zu behaupten vermag, verliert nicht nur seine Autorität, sondern auch seine geopolitische Existenz.

Den beiden geopolitischen Rivalen liegt dabei die machtpolitische Vorstellung zugrunde, die unhintergehbar ist und deren Quintessenz in einem einzigen Satz zusammengefasst werden kann: Die Geopolitik duldet kein Machtvakuum. Man mag diese Tatsache beklagen, ändern lässt sie sich nicht. Ist es aus welchem Grund auch immer entstanden, wird es früher oder später beseitigt. Die Nato-Osterweiterung nach der Auflösung des Warschauer Paktes ist der beste Beweis dafür.

Die USA und ihre Nato-Bündnisgenossen haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts alles getan, um ihre Einflusssphären nicht nur friedlich über die EU-Osterweiterung, sondern auch „mit einer globalen Ausweitung des Stützpunktsystems, der Entwicklung von Generationen hochmoderner Waffen und einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen, von Kosovo über den Irak bis Libyen“, auszudehnen. „Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen der westlichen Außenpolitik geworden. Möglich war das nur aufgrund der großen wirtschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens.“6

Als die russische Führung verstand, dass sie in der Ukraine mit der sog. Maidan-Revolution 2014 eine schwere geostrategische Niederlage erlitten hat, handelte sie nicht zuletzt aus der Erfahrung mit der Nato-Expansionspolitik umgehend, um das in der Ukraine entstandene Machtvakuum nicht schon wieder seinem geopolitischen Rivalen zu überlassen.

Die von Jeffrey Goldberg („The Obama Doctrine“, in: The Atlantic, April 2016) kolportierte Äußerung Obamas, der „Moskaus Verhalten in der Ukraine-Krise“ als „eine improvisierte Reaktion auf den bevorstehenden Ausbruch eines Klientelstaates aus dem Einflussbereich Russlands“ diagnostizierte, scheint vor diesem Hintergrund zwar plausibel, aber nur teilweise zutreffend zu sein. Zutreffender ist da schon eher Henry Kissingers Feststellung, Sicherheit war für Russland „immer auch eine geopolitische Grundlage“7.

In der Geopolitik gilt dasjenige, was Georg Jellinek einst „die normative Kraft des Faktischen“ nannte. Die Geopolitik erhebt das Faktische zum Normativen und erzeugt dadurch die Vorstellung, dass das Faktische normativer Art ist, wobei es hier nicht um eine Gegenüberstellung von Faktizität und Normativität, sondern um eine andere, geopolitische Quelle der Normativität geht. Diese Quelle der geopolitischen Normativität besagt: Wer sich gegen den Aufmarsch des geopolitischen Rivalen nicht zu behaupten vermag, verliert nicht nur seine Autorität, sondern auch seine geopolitische Existenz.

Die Gefährdung der eigenen geopolitischen Existenz impliziert die Tendenz, die künftigen Entwicklungen vorwegnehmen zu müssen, d.h. die Tendenz zum präventiven Handeln. Und genau diese präventive Vorgehensweise Russlands ist auf der Krim 2014 genauso wie im Ukrainekrieg zu konstatieren.

Das präventive Handeln nimmt die Tendenz des Geschehens – einen geopolitischen Veränderungsprozess – vorweg, der auf eine erwartbare Entwicklung der Machtverschiebung hindeutet, die sich als eine Gefahr für die eigene geopolitische Existenz darstellt. Die Verschiebung der geopolitischen Machtbalance zu Gunsten der USA ist das Kennzeichen der Epoche der unipolaren Weltordnung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Heute wissen wir, welche Folgen diese Machtverschiebung mit sich brachte.

3. Von der Expansion zur Eskalation

Der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 war eine Zäsur von welthistorischem Ausmaß. Sie hat die geopolitischen Karten neu gemischt und die Gegner der unipolaren Weltordnung auf den Plan gerufen und zusammengeführt. Mit den immer enger werdenden ökonomischen und militärischen Beziehungen zwischen Russland und China und einer zunehmenden Etablierung der BRICS-Staaten als Alternative zu der unipolaren Welt entsteht ein Gegenpol, den die transatlantische Gemeinschaft, allen voran die EU-Europäer, als Bedrohung für ihre geopolitische Existenz empfinden.

Und das hat Konsequenzen für die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Nicht allzu oft haben die Europäer eine vergleichbar lange, fast achtzig Jahre andauernde Friedenszeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt.

Die Erfindung der Nuklearwaffen hat sich paradoxerweise als ein solches friedensstiftendes und friedensstabilisierendes Momentum erwiesen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine scheint diese Friedensperiode der europäischen Geschichte trotz des weiterhin ungebrochen bestehenden nuklearen Zeitalters zu Ende zu gehen, ohne dass „wir“ darüber erstaunlicherweise besorgt zu sein scheinen.

Ob diese Sorglosigkeit auf einen Mangel an Urteilskraft, eine überzogene Selbstsicherheit, angstlose Ahnungslosigkeit oder aus welchen Gründen auch immer zurückzuführen ist, ist nicht einmal das eigentliche Problem der Friedenssicherung. Das eigentliche Problem ist unser Unvermögen oder der Unwille die berechtigten geo- und sicherheitspolitischen Interessen des ewigen geopolitischen Rivalen Russland zu akzeptieren und als eine unabdingbare Voraussetzung für unsere eigene Sicherheit zu begreifen.

Im nuklearen Zeitalter kann keine der europäischen Nationen, ohne den eigenen Untergang zu riskieren, die Frage nach Krieg oder Frieden aus eigener Machvollkommenheit entscheiden. Deswegen ist es umso verwunderlicher, wenn der scheidende Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, Benzin ins Feuer gießt, wenn er deutsche Bedenken gegen Angriffe auf Ziele in Russland mit Langstreckenraketen als „lächerlich“ bezeichnet.

Die Bundesregierung reagierte darauf verärgert mit flapsiger Bemerkung: Borrells Aussagen würden „immer merkwürdiger“, berichten die Medien. Wer keine unmittelbare Verantwortung über Land und Leute trägt, kann es sich auch leisten, verantwortungslos zu reden.

Die Eurokraten eines halbsouveränen Europas können soviel verantwortungsloses Gerede betreiben, solange sie glauben, von einer nuklearen Supermacht beschützt zu werden. Fraglich ist nur, ob die USA angesichts der Gefahr der eigenen Vernichtung bereit wären, in Aktion zu treten, um ihre europäischen Nato-Bündnisgenossen zu beschützen.

Chruschtschows Spruch auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956: „Kriege sind in unserer Zeit vermeidbar geworden“8 tritt anscheinend nicht mehr ohne weiteres zu. Heute müssen wir vielmehr davon ausgehen, dass die Warnung vor der Kriegsgefahr „lächerlich“ und der Frieden „vermeidbar“ geworden sei.

Die Zerstörung des sog. „Gleichgewichts des Schreckens“ hat bei gleichzeitiger Etablierung des Machtungleichgewichts als friedens- und sicherheitspolitisches Ordnungsprinzip in Europa9 das Bewusstsein für Kriegsvermeidung und Friedenssicherung relativiert und als nicht vorrangiges Ziel der EU- und US-Außenpolitik anvisiert.

Expansion ist stattdessen zum Leitmotiv der westlichen Friedens- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geworden. Das Bewusstsein der westlichen Macht- und Führungseliten wurde nach 1991 im Zeitalter der Unipolarität von einer bedingungslosen Kriegsverhütung und Friedenssicherung in eine Expansionsideologie als die einzig wahre friedenssichernde Option der europäischen Sicherheitsordnung transformiert.

Das hat sich heute als Illusion – wenn nicht gar als Selbstbetrug herausgestellt! Und aus diesem sicherheitsideologischen Schlamassel kommen wir anscheinend nicht mehr heraus, sind wir doch auf diese einzig „wahre“ Friedensoption nach dem Motto fixiert: Expansion sei vorrangig, Frieden sei zweitrangig.

Die unipolare Weltordnung hat sich, wie man sieht, als eine Reinkarnation des europäischen Imperialismus erwiesen, dessen Ideologie der prominenteste Vertreter des britischen Imperialismus, Cecil Rhodes (1853-1902), in seinem berühmten Satz so zusammenfasste: „Expansion ist everything. I would annex the planets if I could.“10

Im Namen dieser Expansionsideologie hat der europäische Imperialismus „sich in wenigen Jahrzehnten über die ganze Erde >ausgedehnt<, hat der britische Kolonialbesitz sich in zwanzig Jahren um 4 ½ Millionen Quadratmeilen mit 66 Millionen Einwohnern, der französische 3 ½ Millionen Eingeborenen, der deutsche um eine Million Quadratmeilen und 13 Millionen Menschen und der belgische König höchst persönlich um 900000 Quadratmeilen Landes und etwa 8 Millionen Untertanen vergrößert.“11

Und nun schickte sich die US-Hegemonie nach der erfolgreichen Beendigung des Ost-West-Konflikts an, dieses „Erfolgsergebnis“ der europäischen Großmächte des 19. Jahrhunderts zu wiederholen. Weit ist sie freilich mit ihrer Sicherheitsideologie der Open-Door-Politik nicht gekommen. Zwar hat sich die Nato um die ehem. Mitglieder des Warschauer Pakts vergrößert, in der Ukraine wurde sie aber vom russischen Rumpfimperium ausgebremst und gestoppt.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat nicht nur die Nato-Expansion, sondern auch die unipolare Weltordnung ihr jähes Ende gefunden. Dauerte das Zeitalter des europäischen Imperialismus (1884-1914/18) gut dreißig Jahre, so hat nun auch die unipolare Weltordnung (1991-2021/22) im zarten Alter von dreißig Jahren ihren Zenit überschritten.

Bedeutet diese erstaunliche Parallele, dass wir nun wie im Jahr 1914 ebenfalls vor dem Ausbruch eines Weltkrieges stehen? Da die Expansionsbestrebungen der US-Hegemonie in Europa, Eurasien, im Nahen Osten und am Hindukusch gestoppt wurden, versuchen die USA ihren „Machtexport“ (Hannah Arendt)12 wie im Falle des Proxy-Kriegs in der Ukraine auf dem Wege der Eskalationspolitik durchzusetzen.

Die ausgebremste Expansionspolitik wandelt sich vor unseren Augen in eine Eskalationspolitik. Macht will aus welchen Gründen auch immer mehr Macht, stößt aber immer wieder auf die Gegenmacht. Sobald die beiden Kontrahenten gleich stark werden, kommt es entweder zur gegenseitigen Neutralisierung des „Machtexports“ oder zum Zusammenprall und Krieg. Im nuklearen Zeitalter liegt die Vermutung einer Neutralisierung der gegenseitigen Machtexpansion nahe, ohne freilich die in Rede stehende Alternative ausschließen zu können.

In diesem Dilemma befinden wir uns heute. Als der Siegeszug der US-Expansionspolitik in den 1990er-Jahren begann,13 erschien sie als harmlos, sozusagen als natürlicher Lauf der Dinge und vor allem aus den Gründen der sog. „Demokratieförderung“ als gerecht und geboten. Dass die russische Seite darauf immer allergischer und nervöser reagierte, begegneten die US-Geostrategen meistens mit Beschwichtigung und Verharmlosung oder einfach mit Schulterzucken, sonnten sie sich doch als die „Siegermächte“ des „Kalten Krieges“ im grellen Lichte der Selbstzufriedenheit und Machtvollkommenheit.

Die Ausbremsung der Nato-Expansionspolitik, die Russland seit der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation im Jahr 2014 einleitete und mit dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 fortsetzte, zeigt deutlich, wie recht George F. Kennan hatte, als er bereits in den 1990er-Jahren eindringlich vor der Nato-Expansion warnte.14

Und nun ist die Goldgräberstimmung der 1990er-Jahre seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 einem Katzenjammer gewichen. An Stelle der immer exzessiver gewordenen Nato-Expansionspolitik trat eine noch exzessiver werdende Eskalationspolitik, die immer bedrohlicher für den europäischen und Weltfrieden wird.

Russland reagiert darauf mit einer immer schärfer werdenden militärischen Offensive in der Ukraine und einer Defensivstrategie gegenüber dem Nato-Block,15 die freilich sehr schnell in eine Offensivstrategie umschlagen kann, sollten die US-Eskalationsstrategen alle unsichtbaren und undefinierten „roten“ Linien überschreiten. Wir steuern auf eine Entwicklung zu, die keiner will, aber u. U. jederzeit eintreten kann.

„Das Gute am Kalten Krieg“ war – meinte einst der ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center, Dmitrij Trenin -, „dass er >kalt< geblieben ist“. Hoffentlich wird uns auch heute das Schlimmste erspart.

Anmerkungen

1. Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 44 f.
2. Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Das Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022,
www.ontopraxiologie.de.
3. Fuest, C., „Deutschland erlebt eine schleichende Deindustrialisierung“. Handelsblatt, 23./25. August 2024,<> 10.
4. „Sanktionspolitik im Blindflug“, german-foreign-policy.com. 28. August 2024.
5. Zitiert nach „Das Ende des deutschen Exportmodells“, german-foreign-policy.com. 30. August 2024.
6. Pradetto, A., Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen, in: Blätter für deutsche und internationale
Politik 5 (2014), 71-78 (71).
7. Henry Kissinger in einer Rede in Moskau (abgedruckt in: The National Interest, 4.2.2016). Zitiert nach Peter
Rudolf, Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie, September 2016,
1-28 (28).
8. Zitiert nach Wolfgang Leonhard, Sowjetideologie heute. Frankfurt 1972, 230 f.
9. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
10. Zitiert nach Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1986, 218.
11. Arendt (wie Anm. 10), 218 f.
12. Arendt (wie Anm. 10), 237.
13. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikt. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
14. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu<> Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.<> 15. Silnizki, M., Gefangen in einer strategischen Asymmetrie. Russlands Defensivstrategie und die US-
Eskalationsdominanz. 25. August 2024, www.ontopraxiologie.de.

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